Mit seiner Zeitschrift "Die Fackel" hat Karl Kraus 922 Ausgaben und fast vier Jahrzehnte
lang Literaturgeschichte geschrieben und sich zur moralischen und sprach-kritischen Institution gemacht. Jetzt hat die Österreichische Akademie der Wissenschaft (ÖAW) die rund 22.500 zwischen 1899 und 1936 erschienenen Seiten der "Fackel" komplett ins Netz gestellt. Die wichtige Zeitschrift steht somit erstmals nicht nur Wissenschaftlern, sondern allen Kraus-Fans kostenlos und mit innovativen Suchmöglichkeiten zur Verfügung.
Eigentlich ist die Online-Ausgabe ein "Nebenprodukt" eines anderen Projekts, des dreiteiligen Karl-Kraus-Textwörterbuchs, das die ÖAW herausbringt: "In den 90ern haben wir dazu Arbeitsdaten für den wissenschaftlichen Gebrauch erstellt", erklärte Evelyn Breiteneder, die Leiterin der mit Textforschung befassten ÖAW-Gruppe Austrian Academy Corpus, gegenüber dem <ORF>.
Die Idee, die <digitale "Fackel"-Ausgabe> frei zugänglich zu machen, gab es schon damals: "Das öffentliche Interesse an Karl Kraus ist immer groß gewesen, weil er stets polarisiert hat", erklärt Breiteneder.
Das Problem daran waren bisher die Urheberrechte: Ein Text ist bis 70 Jahre nach dem Tod des Verfassers geschützt. Weil Karl Kraus am 12. Juni 1936 starb, wurde die komplette Fackel mit Beginn des neuen Kalenderjahres frei verfügbar.
Neben der standardmäßigen Volltextsuche kann der Nutzer auch im kompletten Inhaltsverzeichnis blättern – keine Selbstverständlichkeit, denn in den "Fackel"-Originalheften sind viele Texte gar nicht betitelt. Kraus hat ihnen für Quartals- und Sammelbände später allerdings Titel gegeben, die die ÖAW-Forscher ebenfalls zum größten Teil erfasst haben.
Schon jetzt verfügbar sind Wortlisten. Man kann sich etwa kalkulieren lassen, dass in der gesamten "Fackel" 1.908 Mal das Wort "Krieg" verwendet worden ist.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, den Kraus trotz der staatlichen Zensur zum Thema aktueller Darstellung machte, gewann die "Fackel" erschütternde Aktualität. In bissigen Kommentaren griff Kraus die schönfärberische Kriegsberichterstattung an. Sein Drama "Die letzten Tage der Menschheit", das aus zugespitzten Gesprächen von Militärs, Beamten und Opfern besteht, wurde ebenfalls in der "Fackel" vorab veröffentlicht.
"Hitler" kommt laut der Online-Ausgabe exakt Hundert Mal vor - trotz des berühmten Kraus-Zitats, mit dem er im Juli 1934 den Text "Warum die Fackel nicht er-scheint" einleitete: "Mir fällt zu Hitler nichts ein." In eben dieser Ausgabe veröffentlichte Kraus große Teile des Stückes "Die dritte Walpurgisnacht", die als eine der wichtigsten literarischen Stellungnahmen zum Nationalsozialismus überhaupt gilt.
Als Sohn eines Papierfabrikanten war Kraus finanziell weitgehend unabhängig. Die Kritik in seinen Werken galt der Gesellschaft ebenso wie der Kultur seiner Zeit. Besonders vehement griff Kraus an, wo er Heuchelei und Menschenverachtung witterte, aber auch dort, wo er einen Missbrauch der deutschen Sprache vorfand. Mit scharfsinnigen Analysen, messerscharfen Satiren und einer unvergleichlich genauen Sprache schuf er sich eine Schar begeisterter Anhänger - und eine wahrscheinlich größere erbitterter Feinde.