Die „alten“ Atheisten wehren sich

Nach der postsowjetischen Zeit unter Russlands Wodka-affinem Präsidenten Boris Jelzin,

der seinen Landsleuten zumindest demokratische Grundrechte zusicherte, gefällt sich der Ex-Kommunist, ehemalige Schlapphut und jetzige Präsident Wladimir Putin als geläuterter Gläubiger. Im Bunde mit der orthodoxen Kirche will er das Volk mit „religiösen Werten“ klein halten. Doch der Unmut hierüber wächst. 10 russische Wissenschaftler schrieben an Putin einen offenen Brief.

Dass man es als bekennender Atheist in den USA nicht leicht und beispielsweise kaum eine Chance auf eine Präsidentschaft hat, ist bekannt. Doch in Gottes eigenem Revier und anderen westlichen Staaten melden sich verstärkt seit dem traurig-berühmten 11. September 2001 „neue“ Atheisten zu Wort und positionieren sich prononciert gegen das Religiöse samt seinen heutigen radikalen Auswüchsen (siehe u. a. die hpd-Themenreihe „Die Neuen Atheisten“ und das „Spiegel“-Thema „Der Kreuzzug der Gottlosen“).

Einen schweren Stand haben antireligiöse Ideen mittlerweile auch bei vielen Russen, da alles Atheistische im Zuge der ideologischen Bevormundung zur Sowjetzeit gleich mit in Miskredit geraten war. Und so sehen sich Russlands „alte“ und tatsächliche Atheisten heute mit einem breiten Interesse ihrer Landsleute an „verpasster“ Religiosität, Aberglauben, Sekten und Pseudowissenschaften oder einfach mit nihilistischer Desillusion konfrontiert. Dieser Wandel kommt den Kirchen, insbesondere der russisch-orthodoxen (ROK), gut zupass. Letztere steuert seit Jahren auf eine Omnipräsenz im gesellschaftlichen Leben des Landes zu (hpd berichtete mehrfach, siehe z. B. hier) und ist bestrebt, mit verbrämt-slawophilen Kreisen aus Politik und Kultur, die „klassischen“, sprich orthodoxen, Traditionen des russischen Volkes wiederzubeleben. Dabei vergisst man schon mal, dass in Russland eine multinationale und -konfessionelle Bevölkerung lebt.

Doch mittlerweile blicken immer mehr Menschen mit Unbehagen auf die (un)heilige Allianz aus Kirchenführern und zu Orthodoxen gewendeten Spitzenpolitikern, die das Denken und Handeln ihrer Untertanen kontrollieren wollen. Und es regt sich auch offen formulierter Widerstand gegen die Klerikalisierung der russischen Gesellschaft. Anfang des Jahres verfassten Petersburger Wissenschaftler während der landesweiten Diskussion um einen Gerichtsprozess gegen die Vermittlung der Darwin'schen Evolutionstheorie in russischen Schulen ein Plädoyer gegen die Unwissenheit an Bildungsminister Fursenko. Und vor Kurzem wandten sich nun zehn Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften, darunter die Nobelpreisträger Schores Alfjorow (Jg. 1930) und Witali Ginsburg (Jg. 1916), mit einem offenen Brief an den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Ihr Schreiben vom 23. Juli leitete eine neue Runde in der öffentlichen Debatte Russlands zum Verhältnis von Wissenschaft, Religion und Staat ein (siehe Artikelhinweise unten). Doch auch im Zusammenhang mit der hierzulande anhaltenden halbherzigen Trennung von Kirche und Staat sind die Thesen der „alten“ Atheisten keineswegs Schnee von gestern. hpd veröffentlicht daher die vollständige Übersetzung des Appells der russischen Wissenschaftler:

Sehr geehrter Wladimir Wladimirowitsch!

Mit wachsender Sorge betrachten wir die immer stärker werdende Klerikalisierung der russischen Gesellschaft, das aktive Eindringen der Kirche in alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens. Die Verfassung der Russische Föderation schreibt den weltlichen Charakter unseres Staates und die Trennung der Kirche vom staatlichen Bildungssystem vor. Mit diesem Brief wenden wir uns an den obersten Dienstherrn unseres Landes, der die Einhaltung der grundlegenden Verfassungsaussagen zu gewährleisten hat.

Im März dieses Jahres fand in Moskau das 11. Weltkonzil des russischen Volkes statt, unter dessen Beschlüssen auch eine aufschlussreiche Resolution „Zur Entwicklung unseres Systems der religiösen Bildung und Wissenschaft“ zu finden ist. Der Titel mutet etwas merkwürdig an. Während die religiöse Bildung eine innere Angelegenheit der ROK darstellt, stellt sich die Frage, was sich die Kirche um die Wissenschaft zu kümmern hat? Und benötigt die Wissenschaft etwa diese Art Fürsorge? Der Wortlaut der Erklärung verschafft dann Klarheit. In der Resolution wird vorgeschlagen, sich an die Regierung der Russischen Föderation mit der Bitte zu wenden, „das Fach Theologie in das Studienfachverzeichnis der Kommission zur Attestierung von Hochschulabschlüssen (KAH) aufzunehmen und Theologie als eigenständiges wissenschaftliches Gebiet zu führen.“

Die Versuche, Theologie in das KAH-Verzeichnis aufzunehmen, sind nicht neu. Doch der starke Druck, der auf die KAH ausgeübt wurde, fand bisher hinter verschlossenen Türen statt. Seit dem Konzil geschieht dies nun offen. Es fragt sich, auf welcher Grundlage Theologie - die Gesamtheit religiöser Dogmen - zu den wissenschaftlichen Disziplinen gerechnet werden soll? Jede beliebige Wissenschaftsdisziplin operiert mit Fakten, Logik, Beweisen, doch keineswegs mit Glauben.

Übrigens hat sich die katholische Kirche faktisch komplett von der Einmischung in die Angelegenheiten der Wissenschaft losgesagt (1992 hat sie sogar ihren Fehler in der Sache Galileo Galileis eingestanden und ihn „rehabilitiert“). In einem Gespräch mit dem Akademiker W. I. Arnold im März 1998 erkannte Johannes Paul II. an, dass die Wissenschaft in der Lage sei, die Wahrheit zu ergründen, während sich die Religion nach den Worten des Papstes eher bei der Interpretation der möglichen Nutzung wissenschaftlicher Entdeckungen für zuständig halte. Unsere ROK vertritt eine andere Auffassung: „Der Dialog zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft ist notwendig, damit das aus der Sowjetzeit stammende Monopol der materialistischen Betrachtung der Welt im russischen Bildungssystem endlich aufgehoben wird“ (aus der Resolution des Konzils).

Im Allgemeinen basieren alle Errungenschaften der modernen Weltwissenschaft auf der materialistischen Betrachtung der Welt. Es existiert einfach nichts Anderweitiges in der heutigen Wissenschaft. Hierzu äußerte sich der renommierte amerikanische Physiker und Nobelpreisträger S. Weinberg sehr treffend: „Die Erfahrung des Wissenschaftlers lässt die Religion als völlig belanglos erscheinen. Die meisten Gelehrten, die ich kenne, kümmern sich überhaupt nicht um dieses Thema. Sie denken dermaßen ausgeprägt an keine Religion, dass man sie nicht einmal als aktive Atheisten bezeichnen könnte.“ (New York Times, 23.8.2005). Womit - wie man uns vorschlagen will - soll also das „Monopol der materialistischen Sichtweise auf die Welt“ ersetzt werden?

Doch kehren wir zur Frage der für die Attestierung von Hochschulabschlüssen zuständigen Kommission zurück. Das Eindringen der Kirche in ein staatliches Organ stellt eine eindeutige Verletzung der Verfassung des Landes dar. Im Übrigen ist die Kirche schon in die Streitkräfte eingedrungen und die Medien berichten in aller Ausführlichkeit von religiösen Zeremonien wie des Besprengens neuer Kampftechnik mit Weihwasser (gleichwohl hilft der auf diese Weise wiederholt vorgenommene Stapellauf von Überwasser- und Unterseebooten diesen auch nicht immer). Ebenso wird breit und ausführlich von religiösen Zeremonien berichtet, an denen hochrangige Vertreter der Staatsmacht teilnehmen usw. All das sind Anzeichen einer aktiven Klerikalisierung des Landes. In der bereits erwähnten Resolution des Konzils ist eine weitere ausdrückliche Bitte enthalten - „die kulturologische Bedeutsamkeit des Unterrichts von Grundlagen der orthodoxen Kultur und Ethik an allen Schulen des Landes anzuerkennen und dieses Unterrichtsfach in das zuständige Ressort des föderalen Bildungsstandards aufzunehmen.“

Kirchenführer der ROK rufen also die Regierung auf, in allen Schulen Russlands „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ als obligatorisches Fach einzuführen. Hierbei ist festzustellen, dass das Ansinnen, Religion in den Schulen des Landes in Umlauf zu bringen, schon lange verfolgt wird. Im Rundschreiben Nr. 5925 vom 9.12.1999 an „alle Diözesen-Vorsteher“ stellt Alexii II. fest, dass „wir die Aufgabe der geistlich-sittlichen Erziehung der zukünftigen Generationen Russlands nicht lösen werden, wenn wir das System der staatlichen Bildung außer Acht lassen sollten.“ Im Schlusswort dieses Dokuments heißt es: „Falls Schwierigkeiten mit der Vermittlung von ‚Grundlagen der orthodoxen Glaubenslehre‘ auftreten sollten, so wird die Benennung des Kurses als ‚Grundlagen der orthodoxen Kultur‘ keine Beanstandungen bei Pädagogen und Direktoren der staatlichen Bildungseinrichtungen hervorrufen, die atheistisch aufgewachsen sind.“ Aus diesem Zitat folgt, dass unter dem Deckmantel von „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ versucht werden soll, uns - erneut unter Umgehung der Verfassung - das „Wort Gottes“ beizubringen.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich tatsächlich um einen Kurs „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ handeln würde, so ist schon mehrfach festgestellt worden, dass solch ein Kurs in einem multinationalen wie multikonfessionellen Land nicht eingeführt werden darf. Dennoch meint das Konzil, dass Schüler unseres Staates, dessen orthodoxer Bevölkerungsanteil die absolute Mehrheit ausmachen würde, die „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ zu lernen hätten. Zählt man alle Atheisten russischer Herkunft als Orthodoxe, so ergäben sie wahrscheinlich eine Mehrheit. Lässt man die Atheisten heraus, befänden sich die Orthodoxen leider in der Minderzahl. Doch darum geht es nicht. Vielmehr ist zu fragen, ob man sich derart verächtlich anderen Konfessionen gegenüber verhalten darf. Erinnert das Ganze nicht vielmehr an einen orthodoxen Chauvinismus? Schließlich sollten sich die Kirchenoberen einmal darüber Gedanken machen, wohin eine solche Politik führen würde: zur Konsolidierung des Landes oder zu dessen Zerfall?

In der Europäischen Gemeinschaft, wo man Zwietracht unter den verschiedenen Konfessionen schon in aller Schärfe erlebt hat, ist man nach langwierigen Diskussionen zu dem Schluss gekommen, dass an den Schulen ein Kurs zur Geschichte der wichtigsten monotheistischen Religionen eingeführt werden sollte. Das Hauptargument hierfür ist der Umstand, dass sich Kenntnisse in der Geschichte und dem kulturellen Erbe anderer Konfessionen förderlich auf das gegenseitige Verständnis der Vertreter unterschiedlicher Nationalitäten und religiöser Überzeugungen auswirken. Niemandem kam hier in den Sinn, beispielweise ein Schulfach „Grundlagen der katholischen Kultur“ einzufordern.

Auf den letzten Weihnachtslesungen der ROK gab der Minister für Bildung und Wissenschaft A. Fursenko bekannt, dass die Arbeit an einem Lehrbuch zur „Geschichte der Weltreligionen“ abgeschlossen sei. Die orthodoxe Lobby reagierte auf diese Meldung mit besonderer Feindseligkeit. Doch das Lehrbuch, das von Mitarbeitern des Instituts für Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften verfasst wurde (es heißt „Die Religionen der Welt“ und ist für Schüler der 10. und 11. Klasse vorgesehen), ist äußerst ausgewogen und enthält ein umfangreiches Wissen, über das jeder, der sich für gebildet hält, verfügen sollte.

Was passiert jedoch anstelle dessen in unserem Land? Vor einem Jahr wandten sich die Petersburger Schülerin Mascha und ihr Vater an ein Gericht, um anstelle des „veralteten und fehlerhaften“ Darwinismus die Vermittlung der Lehre von der Schöpfung des Menschen durch ein göttliches Wesen (Kreationismus) in den Biologie-Lehrplan der Schulen durchzusetzen. Eine absurde Situation war entstanden: Warum sollte ein Gericht entscheiden, was wahr ist - die Evolutionstheorie, nach der das Leben auf der Erde vor mehr als 3 Mrd. Jahren entstanden ist, oder die Schöpfungslehre, die im Unterschied zur Evolutionstheorie nicht einen einzigen Fakt vorweisen kann und dennoch behauptet, dass das Leben auf der Erde seit einigen tausend Jahren existiert? Es ging um eine Frage, für die eigentlich die Wissenschaft zuständig ist. Doch Mascha und ihr Papa wurden vom Patriarchen Alexii II. unterstützt, der auf den Weihnachtlichen Bildungslesungen erklärte: „Kein Schüler wird Schaden davon nehmen, wenn er die biblische Lehre von der Entstehung der Welt kennt. Und wenn jemand glauben will, er stamme vom Affen ab, so soll er das ruhig tun, doch seine Meinung nicht anderen aufzwingen.“

Was also wird passieren, wenn wir in den Schulen beliebig Beweise entfernen, die elementare Logik vergessen, letzte Überbleibsel kritischen Denkens austreiben und zum Eintrichtern von Dogmen übergehen - wird hierbei auch niemand Schaden nehmen? Im Übrigen, um es klarzustellen, sei nochmals darauf hingewiesen: Sowohl Darwin als auch seine Nachfolger haben niemals behauptet, dass der Mensch vom Affen abstamme. Es wurde lediglich festgestellt, dass Affen und Menschen die gleichen Vorfahren haben. Doch scheint die Kirche nicht nur mit dem Darwinismus ein Problem zu haben. Was hat beispielsweise die „biblische Lehre von der Entstehung der Welt“ mit den Tatsachen zu tun, die die moderne Astrophysik und Kosmologie herausgefunden haben? Was soll also in der Schule gelernt werden, Fakten oder die „biblische Lehre“ von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen?

An Gott glauben oder nicht glauben, ist Sache des Gewissens und der Überzeugungen jedes Einzelnen. Wir achten die Gefühle der Gläubigen und sehen es nicht als unsere Aufgabe an, gegen die Religion zu kämpfen. Doch wir können auch nicht gleichgültig zusehen, wenn versucht wird, wissenschaftliche Erkenntnisse anzuzweifeln, die „materialistische Sicht auf die Welt“ aus der Bildung zu entfernen und Wissen, das die Forschung angehäuft hat, durch Glauben zu ersetzen. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass der proklamierte staatliche Kurs zur Förderung von Innovationen nur dann verwirklicht werden kann, wenn die Schulen und Hochschulen junge Menschen mit den Erkenntnissen ausstatten, die die moderne Wissenschaft erreicht hat. Zu diesen Erkenntnissen gibt es keine Alternative.

Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften
E. Alexandrow, S. Alfjorow, G. Abeljew, L. Barkow, A. Worobjow, W. Ginsburg, S. Inge-Wetschtomow, E. Krugljakow, M. Sadowski, A. Tscherepaschtschuk
Quelle (Russisch)

 Tibor Vogelsang


 

Weitere Artikel zum Thema:
Für und gegen die „russisch-orthodoxe Kultur“ - Russland streitet über die Rolle der Kirche
Russen fürchten Macht der Kirche
Orthodoxe Kirche entwickelt „Russische Doktrin“