Stehen wir vor einem Kirchenboom?

AUGSBURG. (hpd) Die Kirchenaustritte sinken derzeit, keine Frage. Dass die Eintritte jedoch nennenswert zunähmen, behauptet inzwischen

niemand mehr, obwohl noch Anfang 2006 Kardinal Lehmann von einer Steigerung um ein Drittel gesprochen hatte.

 

Verständlich, dass die Kirchenpresse den Trend der letzten drei Jahre positiv sieht. Aber haben wir deshalb schon wieder eine „Konjunktur für Gott" , wie Focus in seiner gedruckten Ausgabe am 15.10. behauptet? Dort wird im Untertitel sogar noch verstärkend geschrieben: „Die Kirchenflucht geht zu Ende, Religion wird wieder modern", was bisher noch nicht einmal Kirchenzeitungen so unterstellten.

Setzen wir dem einfach jene „Fakten, Fakten, Fakten" entgegen, von denen sich das Wochenblatt in diesem Fall so gründlich verabschiedet hat.

1. Es gibt immer noch deutlich mehr Kirchenaustritte als Eintritte.

Im Jahr 2005, dem für die Kirchen günstigsten seit langem, kamen in der evangelischen Kirche auf 119.000 Austritte rund 41.000 Eintritte. Bei den Katholiken war die Relation 89.000 zu 17.000. Dadurch verloren die Großkirchen zusammen also netto exakt 150.000 Mitglieder. Bedenkt man überdies, dass rund die Hälfte der Eintritte aus Übertritten resultiert, die man bei beiden Kirchen entsprechend abziehen müsste, dann kommen auf einen Eintritt immer noch zwischen sechs und sieben Austritte. Von einem „Ende der Kirchenflucht" kann also nicht die Rede sein.

Die ganz neuen katholischen Zahlen für 2006 bestätigen den Trend: Aus- wie Eintritte nahmen auf rund 84.000 bzw. 15.000 ab. Bei einzelnen evangelischen Landeskirchen, die ihre Daten für 2006 bereits publiziert haben, ist sogar ein Anstieg der Austritte zu vermelden.

2. Die Tendenz der Austritte unterliegt kurzfristigen Einflüssen.

Langfristige soziologische Untersuchungen belegen, dass weit mehr Menschen ernsthaft einen Kirchenaustritt erwägen, als er dann tatsächlich vollzogen wird. 70 Prozent von dieser Gruppe, so ist von kirchlichen Soziologen zu hören, vollziehen ihn irgendwann tatsächlich, aber oft erst nach vielen Jahren. In Auswertung der einschlägigen Umfragen ist davon auszugehen, dass rund zwei Millionen Katholiken und drei Millionen Protestanten die Kirche innerlich schon verlassen haben, aber derzeit besonders wenige von ihnen diesen Schritt auch vollziehen. Als Beleg kann z.B. die Forsa-Umfage zur Kirchenbindung im August 2006 dienen (Augsburger Allgemeine, 24.8.06), derzufolge sich nur 48,2 % der Befragten einer Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen - und gar nur 42 % einer der Großkirchen, der doch nominell noch 62 % der Bevölkerung angehören.

Demgegenüber wird das (angeblich) „zunehmende Interesse" an Religion mit dem Tod des alten, dem Amtsantritt des neuen Papstes sowie einzelnen Mega-Events wie dem Weltjugendtag in Zusammenhang gebracht. Dies aber sind allesamt nur kurzfristige Effekte, die nicht dauerhaft verlängert werden können. Wenn in 2007 die extrem konservativen Aussagen der Bischöfe Meisner, Mixa, Müller etc. auf die Bevölkerung wirken - oder auch die Rolle des Regensburger Bischofs im Zusammenhang mit einem vorbestraften pädophilen Pfarrer, der wieder in sein Amt eingesetzt und nun rückfällig wurde - dann wirkt sich dies sicher auch auf die Austrittsentwicklung aus. Schon jetzt fällt auf, dass die Diözese Regensburg gegen den Trend eine steigende Tendenz aufweist.

Daher sagen die Jahre 2004 bis 2006 noch nichts über den langfristigen Trend aus.

3. Es kommt gar nicht auf die Kirchenaustritte, sondern auf die Mitgliederzahl an.

Der langfristige gesellschaftliche Einfluss der Kirchen hängt von der Bevölkerungsquote ab, die die Kirchen zumindest formal repräsentieren. Tatsächlich sanken der katholische und der evangelische Anteil zusammen auch in den letzten Jahren um 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte pro Jahr ab, während das gemeinsame Minus zuvor bei 0,5 bis 0,7 lag.

Inzwischen verlieren die Kirchen mehr Mitglieder infolge ihrer Überalterung als durch Austritte. Die evangelische Kirche teilte mit, dass auf 100 Geburten nur 29 evangelische Taufen kommen, aber von 100 Todesfällen 38 auf Protestanten entfallen (Statistikdaten der EKD 2005). Bei den Katholiken liegt die Relation mit 29 zu 33 Prozent nicht ganz so ungünstig, aber gleichfalls im Verlustbereich.

Legt man die intern geäußerten Angaben von kirchlichen Fachleuten zugrunde, ergibt sich eine für die Kirchen dramatische Perspektive. Der Fachreferent der EKD für religionssoziologische und statistische Fragen, Rüdiger Schloz, erklärte im April 2005 vor der bayerischen evangelischen Landessynode, die evangelische Kirche in Deutschland werde bis 2030 ein Drittel ihrer Mitgliederzahl von 2003 verlieren. Das wäre bis dahin eine Schrumpfung des evangelischen Anteils von 31 auf 23 Prozent. Bei der katholischen Kirche wird der Rückgang nicht so dramatisch ausfallen, aber beiden Kirchen zusammen würden demnach 2030 weniger als die Hälfte der Bevölkerung angehören. Bei unerwartet günstiger Entwicklung verzögert sich dieser Zeitpunkt, aber auch eine schnellere Schrumpfung ist möglich.

4. Die Kirchenbindung lässt konstant nach.

Die Bindung der Menschen an die Kirchen wird seit jeher am Gottesdienstbesuch gemessen. Vor einem halben Jahrhundert ging jeder zweite Katholik und immerhin noch jeder achte Protestant sonntags in die Kirche. Obwohl seither so viele Fernstehende ausgetreten sind, hat die Bindung nicht etwa zu-, sondern weiter und rasant abgenommen. Das gilt auch für die letzten Jahre. Heute nimmt gerade noch jeder siebte Katholik und nur jeder 25. Protestant am Sonntagsgottesdienst teil. Das kirchlich-religiöse Interesse einer Minderheit nimmt zu, aber das Desinteresse der Mehrheit auch.

5. Die Erkenntnis wächst: Man kann auch ohne Kirchensteuerzahlung Christ sein.

Unter diesen Umständen genügen schon geringe Anstöße, um Menschen zum Austritt zu veranlassen. Einer könnte das fehlende Geld sein. Ein junger Mensch muss heute seine Rente großenteils privat finanzieren, denn schon 2020 wird auf einen Erwerbstätigen ein Rentner kommen. Derzeit ist das Verhältnis 2,3 zu 1; 1992 finanzierten noch vier Beschäftigte einen Rentner. Wie aber die zusätzlichen Beiträge für die Alterssicherung aufbringen?

Die Antwort führt schnell zur Kirchensteuer. Mehr als zwei Drittel der Kirchenmitglieder sind nicht steuer- und folglich auch nicht kirchensteuerpflichtig. Aber der zahlende Rest muss durchschnittlich 50 Euro im Monat bezahlen. Wer diesen Betrag konsequent in die eigene Altersversorgung investiert, wird beim Eintritt in den Ruhestand einschließlich Zinsen ein Kapital von 100.000 bis 150.000 Euro erreicht haben - die zukünftigen Steigerungen der Kirchensteuer nicht gerechnet. Hinzu kommt dann noch der staatliche Zuschuss, wodurch insgesamt leicht 200.000 Euro zusammenkommen. Wem dies unter den Kirchenmitgliedern bewusst ist, der wird sich wohl häufiger als jetzt für die eigene Altersversorgung entscheiden.

Überdies hat der Papst selbst, wenn auch aus ganz anderen Gründen, erst 2006 in einem Rundschreiben betont, dass ein Kirchenaustritt keinen Abfall vom Glauben bedeutet, weil er vor einer staatlichen Behörde - je nach Bundesland auf dem Standesamt oder dem Amtsgericht - erklärt wird und das einzig maßgebliche Kriterium für die Kirchenmitgliedschaft, nämlich die Taufe, gar nicht berührt. Andernfalls wäre die Kirchensteuer nichts anderes mehr als eine moderne Form des Ablasses.

Unter Berücksichtigung all dieser längerfristig wirksamen Perspektiven werden die eingangs zitierten Aussagen des Focus zu dem, wofür sie wohl von vornherein konzipiert waren: ein kurzlebiger Mediengag, der Aufsehen erregt, weil er das genaue Gegenteil von dem behauptet, was die Kirchen selbst längst als zutreffend erkannt haben.

Als spannende Frage bleibt indes offen: Bis zu welchem Grade kann sich Religiosität außerhalb der Kirchen entwickeln? Darauf kann aber nur fundiert eingehen, wer nicht ständig die Begriffe „Religion" und „Kirche" vermischt.

Gerhard Rampp