Deutschland Deine Kinder (6)

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Die Vorsitzende des VEH e. V. Monika Tschapek-Güntner / Foto © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) "Lieber einen Spatzen in der Hand als die Taube auf dem Dach?" Unter diesem Motto startete der Verein ehemaliger Heimkinder (VEH e.V.) über "Q-SET" eine Umfrage zur Akzeptanz des vorgeschlagenen finanziellen Ausgleichs. Das Ergebnis ist eindeutig.

Wie es um die Akzeptanz der empfohlenen finanziellen Entschädigung steht, wollte der Verein ehemaliger Heimkinder e. V. genauer wissen und startete neutral über "Q-SET" eine zweimonatige Umfrage, die am 15. März 2011 auslief. Die Ergebnisse liegen vor. Abzuwarten ist, wie diejenigen, die das Thema als abgehakt ansehen wollten, mit dem Ergebnis umgehen wollen. Wieder einmal ist bekannt geworden, was eventuell ungesagt aber nun nicht mehr ungehört bleiben kann. Aber in ein einem sind wir uns alle einig: Vertuschen und Verschweigen gehört der Vergangenheit an. Die ehemaligen Heimkinder stehen den Empfehlungen des Abschlussberichtes nicht positiv gegenüber

930 Stimmen wurden abgegeben (845 Stimmen online und 85 auf dem Postweg). 842 Teilnehmer beantworteten die "Ich bin ehemaliges Heimkind?" mit JA. Ihre Stimmen verteilen sich auf die Frage:

"Abgesehen von einzelnen Punkten des Abschlussberichtes "Runder Tisch Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, mit denen ich eventuell übereinstimme, teile ich hiermit mit, dass ich die in diesem Bericht festgehaltene Empfehlung an den Deutschen Bundestag zur finanziellen Entschädigung ehemaliger Heimkinder als

  • unangemessen ablehne (742 Stimmen = 88 %)
  • angemessen akzeptiere (75 Stimmen = 9 %)
  • Ich weiß nicht/ kann mich nicht entscheiden (25 Stimmen = 3 %)

Q-SET garantiert: Jeder Teilnehmer hat eine Stimme, mehrfache Stimmabgabe ist nicht möglich.

Der Deutsche Bundestag hat den Abschlussbericht und damit die Empfehlungen "Runder Tisch Heimerziehung!" am 19. Januar 2011 angenommen. Seither ist die Antwort gleich lautend: Die Kirchen stehen den Empfehlungen positiv gegenüber. Bund und Länder müssen zügig beraten. Ein interfraktioneller Ausschuss wird sich konstituieren. Ein Termin dafür ist noch nicht bekannt.

Die Vorgeschichte oder was zu dieser Umfrage führte

Betrachtet und bewertet wurden nach zweijähriger Arbeit die Ergebnisse des Gremiums "Runder Tisch Heimerziehung" mit dem Abschlussbericht und der Pressekonferenz am 13. Dezember 2010. Missstände der Heimerziehung der jungen Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren, Wege, der in Obhut genommenen Kinder ins Heim, die Heimerziehung an sich mit ihren Strafen, sexueller Gewalt, religiösem Zwang, Einsatz von Medikamenten und -versuchen, Arbeit und Arbeitszwang, fehlende oder unzureichende schulische und berufliche Förderung. Fragen nach Kontrolle und Aufsicht wurden aufgeworfen ebenso die Folgen der Heimerziehung. Systematische Prüfung von Lösungswegen und -vorschlägen, Protokolle und ein Abschlusswort der Moderatorin Dr. Antje Vollmer schließen den Bericht.

Die Forderungen der ehemaligen Heimkinder sind auf den Seiten 47 bis 49 festgehalten. Von Rehabilitierung und Anerkennung der Menschenrechtsverletzungen ist dort zu lesen - "von hoher Stelle in Staat und Kirche". Von denselben Stellen soll "öffentlich die Bitte um Verzeihung ausgesprochen" werden. Für einen finanziellen Ausgleich soll ein Fond ins Leben gerufen werden. Vorschläge zu einem finanziellen Ausgleich sind enthalten, beispielsweise 300 Euro als monatlich und lebenslang zu zahlende Rente.

Damit sollte auch ein Rentenausgleich geschaffen sein für unbezahlt gebliebene (Schwerst-)Arbeit im Rahmen der Heimerziehung beispielsweise im Steinbruch, beim Straßenbau, in der Landwirtschaft, beim Torfstechen im Moor, beim Netze stricken, in Wäschereien und Bügeleien, für die außerdem die Sozialabgaben nicht abgeführt wurden. Bescheinigungen darüber liegen vor.

Mit einem offenen Brief an den Bundestagspräsidenten sowie die Abgeordneten des Bundestages sorgten vier der im Gremium vertretenen sechs ehemaligen Heimkinder für eine Überraschung. Sie erneuerten ihre Forderungen, die in der letzten Sitzung RTH aufgeweicht und deshalb im Abschlussbericht nicht enthalten sind: Pauschaler Folgenausgleich in Höhe einer monatlichen Rente von 300 Euro, die anrechungsfrei auf alle anderen sozialen Leistungen sein muss, oder wahlweise eine Einmalzahlung von 54.000 Euro.

Die Diskussionen über die vom RTH vorgeschlagenen Empfehlungen brandeten auf und auch die ehemaligen Heimkinder blickten über die Ländergrenzen nach Irland, Australien, in die USA und stellten im Vergleich ihre Fragen darüber, was hat unser demokratisches und wohlhabendes Deutschland mit uns Heimkinder gemacht und wie wird es weiter gehen. Ausgegangen wird von rund 30.000 Anträgen, die von angenommenen 700.000 bis 800.000 ehemaligen Heimkindern gestellt werden.

Handlungsbedarf und Verunsicherung

Handlungsbedarf liegt vor, die Verunsicherung ebenso. Ist beispielsweise der Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz unabdingbar an ein therapeutisches Gutachten gebunden? Wie ist ein Therapeut mit seiner Forderung von 130 Euro pro Stunde zu zahlen, wenn weder der in Aussicht gestellte Fond noch die Beratungsstellen bereit stehen?

In Foren wird diskutiert. Speziell in den vergangenen Monaten und Wochen bilden sich zunehmend Selbsthilfegruppen. Ehemalige Heimkinder finden sich zusammen, um selbst zu sprechen, Gehör und Hilfe zu finden, sich zusammen zu schließen, Vertrauen aufzubauen. Das alles ist nach den Erfahrungen der Heimerziehung ein bemerkenswerter und positiver Schritt. Dazu kommt, dass der Wunsch nach Fakten und Wissen sich ausbreitet.

Evelin Frerk

 

Zur Umfrage
 

Deutschland Deine Kinder (1) (17.12.2010)

Deutschland Deine Kinder (Teil 2) (22. Dezember 2010)

Deutschland Deine Kinder (Teil 3) (24. Januar 2011)

Deutschland Deine Kinder (4) (18. Februar 2011)

Deutschland Deine Kinder (5) (2. März 2011)