OBERWESEL. (hpd/gbs) Gleich vier große Veranstaltungsreihen innerhalb von vier Wochen: Nie zuvor waren Humanisten, Atheisten, Agnostiker, Skeptiker in Deutschland so aktiv – ein Ausdruck des gestiegenen Selbstbewusstseins der säkularen Szene. Dies fiel erfreulicherweise auch dem SPIEGEL auf.
Ein Kommentar von Michael Schmidt-Salomon.
„Atheisten? (…) Die langweilen mich, weil sie immer nur von Gott sprechen”, hieß es in Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“. 1963, als das Buch erschien, mag dies noch zutreffend gewesen sein, doch wer die großen säkularen Veranstaltungen der letzten Wochen verfolgt hat, wird Bölls viel zitiertem Bonmot widersprechen. Denn Humanisten, Atheisten, Skeptiker sprechen heute kaum noch von „Gott“, sondern von individuellen Selbstbestimmungsrechten, von Freiheit und Gerechtigkeit, vom Genuss des Lebens im Diesseits und den Vorzügen eines evidenzbasierten Denkens jenseits der Illusionen. Bölls „Clown“ hätte sich sicherlich gewundert, aber „langweilig“ waren weder der „Internationale Atheisten-Kongress“ in Köln noch die „Welt-Skeptiker-Konferenz“ in Berlin, weder die „Religionsfreie Zone“ in Mannheim noch das alternative Pilgerprogramm „Heilig’s Röckle!“ in Trier. Das Publikum, das diese Events besuchte, war ebenso bunt wie die Themen, die behandelt wurden. Die Zeiten, in denen sich Freidenker in staubigen Hinterzimmern trafen, um dort vornehmlich die eigenen religiösen Traumata abzuarbeiten, sind, wie es scheint, endgültig vorbei.
91,5 Prozent für die Trennung von Staat und Kirche
Dieser Wandel wird allmählich auch in den Medien wahrgenommen. So veröffentlichte SPIEGEL Online anlässlich der Kölner Tagung einen gut recherchierten Artikel über das neue Selbstbewusstsein der säkularen Szene. Die Resonanz auf diesen Text war erstaunlich: Am Tag der Veröffentlichung war „Unter Gottlosen“ nicht nur einer der meist gelesenen Artikel, sondern auch der am häufigsten empfohlene Beitrag auf Deutschlands wichtigstem Nachrichtenportal!
Bemerkenswert waren nicht zuletzt auch die Ergebnisse der beiden im Text verlinkten Umfragen, an denen sich rund 25.000 SPIEGEL Online-Leser beteiligten. Denn mehr als 53 Prozent der Teilnehmer gaben an, konfessionsfrei und nichtgläubig zu sein. Weitere 20 Prozent stuften sich als nichtgläubig ein, obwohl sie nominell (noch?) einer Religionsgemeinschaft angehören. Als gläubig betrachteten sich nur 19 Prozent der Teilnehmer. Das Ergebnis der zweiten Umfrage war noch verblüffender, votierten doch 91,5 Prozent der Teilnehmer für die strikte Trennung von Staat und Kirche und die Abschaffung der bisherigen Kirchenprivilegien, nur 7,1 Prozent waren der Meinung, die Kirchen hätten ihre Sonderrechte verdient.
Natürlich sind die Ergebnisse der SPIEGEL Online-Umfragen nicht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Dennoch zeigen sie einen Trend an, der von Medienverantwortlichen und Politikern wahrgenommen werden sollte: Es gibt definitiv eine wachsende Zahl von Menschen, die sehr entschieden für säkulare Inhalte eintreten und die es auf Dauer kaum tolerieren werden, dass Religionslobbyisten einen so großen Einfluss auf die Politik und die Medien dieses Landes nehmen!
Probleme der säkularen Szene
Für die säkulare Bewegung sollten diese SPIEGEL-Umfragen ein Ansporn sein, die erfolgreichen Strategien der letzten Jahre fortzusetzen. Tatsächlich haben wir im letzten Jahrzehnt weit mehr erreicht, als man realistischerweise hätte erwarten dürfen. Weiterer Fortschritt wird nun, wie ich meine, wesentlich davon abhängen, ob es gelingen wird, zwei Probleme zu meistern, für die die säkulare Szene bislang noch keine befriedigenden Lösungen gefunden hat: Erstens müssten die Gräben zwischen den einzelnen säkularen Verbänden weiter abgebaut werden, da wir nur gemeinsam den berechtigten Anliegen religionsfreier Menschen Gehör verschaffen können. (Wenn wir damit fortfahren, „Judäische Volksfront“ gegen „Volksfront von Judäa“ zu spielen, hilft dies nur den Hütern des Status quo…) Zweitens müssten wir versuchen, die Projekte, die wir in den letzten Jahren angestoßen haben, personell wie ökonomisch abzusichern. Denn noch immer lastet viel zu viel Arbeit auf viel zu wenigen Schultern, was nicht zuletzt auch mit den schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen zusammenhängt: Wenn man bedenkt, dass die Jahreshaushalte der Giordano-Bruno-Stiftung und des Humanistischen Pressedienstes zusammengenommen etwa dem Etat zweier Pfarrerstellen entsprechen, grenzt es fast schon an ein Wunder, was mit diesen spärlichen Mitteln erreicht wurde (man werfe nur einen Blick in die „Chronologie“ der gbs).
Fakt ist: Die deutschen Kirchen sind Multimilliarden-Konzerne, die ganze Heerscharen von Menschen dafür besolden, dass sie sich offensiv zum Christentum bekennen. Wer sich hingegen offensiv für ein humanistisch-aufklärerisches Weltbild einsetzt, der muss in der Regel mit erheblichen finanziellen Nachteilen rechnen. Zwar ist es charmant und auch inspirierend, dass sich Menschen trotz dieser Nachteile für Humanismus und Aufklärung engagieren, doch auf Dauer kann es bei diesem ökonomischen Missverhältnis nicht bleiben. Denn auch der Idealismus (sprich: die Selbstausbeutungsbereitschaft) der säkularen Aktivisten ist nicht grenzenlos. Irgendwie müssen auch sie über die Runden kommen, was unter den gegebenen Bedingungen leider nur schwer möglich ist. Die traurige Wahrheit lautet: Wer nicht außerhalb der säkularen Szene sein Einkommen hat, steht ökonomisch sehr schnell mit dem Rücken zur Wand.
Säkulare Identität
Man stelle sich vor, die säkularen Verbände besäßen nur ein Promille der Gelder, die die Kirchen für ihre Zwecke ausgeben: Die politischen Verhältnisse in diesem Land sähen sehr bald deutlich anders aus! Leider aber sind wir von diesem einen Promille noch immer weit entfernt! Hauptgrund: Auch wenn die religionsfreien Menschen eine größere und in sich homogenere Gruppe bilden als etwa die Gruppe der katholischen Kirchenmitglieder, sind sie bislang nur eine „Gruppe an sich“, keine „Gruppe für sich“. Will heißen: Konfessionsfreie Menschen sind sich in der Regel gar nicht bewusst, dass sie einer Gruppe angehören. Folglich sehen die allermeisten von ihnen auch keinerlei Veranlassung, Institutionen zu unterstützen, die ihre Interessen vertreten könnten. Dessen ungeachtet verbindet die Konfessionsfreien jedoch weit mehr als die bloße Nichtmitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft, teilen sie doch überwiegend die gleichen weltanschaulichen und ethischen Überzeugungen (siehe hierzu auch die einschlägigen Studien unter www.fowid.de). Fragt man beispielsweise evangelische Kirchenmitglieder nach der Gültigkeit der Evolutionstheorie, der Legitimität des Schwangerschaftsabbruchs oder nach sexuellen Selbstbestimmungsrechten, so kommt man zu sehr heterogenen Ergebnissen, fragt man Konfessionsfreie, sind die Antworten erstaunlich homogen.
Vieles wird davon abhängen, ob sich die Konfessionsfreien in den nächsten Jahren von einer Gruppe an sich zu einer Gruppe für sich wandeln werden. Um diesen Prozess anzustoßen, wird es notwendig sein, das bislang noch recht unscharfe Profil einer säkularen Identität stärker herauszuarbeiten. Wodurch zeichnet sich diese säkulare Identität vornehmlich aus? Ich meine, durch die Orientierung am evidenzbasierten, ideologiefreien Denken sowie an humanistisch-emanzipatorischen Werten (wie den Selbstbestimmungsrechten des Individuums). Andere Bestimmungsmerkmale scheinen mir demgegenüber vernachlässigbar zu sein, etwa die Unterscheidung zwischen Theisten und Atheisten. Warum? Weil die abstrakten Gefäße „Theismus“ und „Atheismus“ an sich weitgehend inhaltsleer sind und daher mit höchst unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden können. Es mag zwar durchaus sein, dass es Ungläubigen leichter fällt, sich an den Selbstbestimmungsrechten des Individuums zu orientieren, da sie keinen vorgegebenen „göttlichen Geboten“ folgen müssen, doch zwingend ist das beileibe nicht! Jedenfalls steht mir – und ich denke, das wird den meisten anderen ebenso ergehen – ein humanistischer Theist näher als ein zynischer Atheist. Warum also sollte ein konfessionsfreier Theist, dem das Kunststück gelingt, seine Gottesvorstellung mit evidenzbasiertem Denken und emanzipatorischen Werten in Einklang zu bringen, nicht der säkularen Bewegung angehören? Und warum sollten umgekehrt die säkularen Verbände, die sich allesamt den Werten von Humanismus und Aufklärung verpflichtet fühlen, auch jene vertreten wollen (etwa atheistische Rassisten), die diese Werte entschieden ablehnen? Sein oder Nicht-Sein Gottes – das ist eben nicht die zentrale Frage! Es gibt ganz andere Faktoren, die das Profil der säkularen Identität bestimmen.
Ein neues säkulares Selbstbewusstsein
Da die allermeisten konfessionsfreien Menschen in Deutschland große Gemeinsamkeiten in ihren weltanschaulichen und ethischen Überzeugungen aufweisen, stimmen sie auch in ihren politischen Interessen in vielerlei Hinsicht überein. Würde sich diese Erkenntnis in den Köpfen der konfessionsfreien Menschen durchsetzen, würden sie sehr bald zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor werden, den kein Politiker ungestraft ignorieren könnte. Unter dieser Voraussetzung würde es nicht lange dauern, bis es keine religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz mehr gäbe, keine weltanschauliche Manipulation der Kinder in den Schulen, keine Verweigerung von Selbstbestimmungsrechten am Lebensende. Auch auf anderen Politikfeldern, etwa der Integrationspolitik, würde sich vieles ändern, wenn (ja wenn!) sich die Konfessionsfreien endlich als eigenständige politische Kraft begreifen würden.
Deshalb sollte es eine der dringlichsten Aufgaben der freigeistigen Verbände sein, ein solches säkulares Bewusstsein zu fördern. Kommunizieren wir es also deutlich sowohl nach innen (gegenüber den konfessionsfreien Bürgerinnen und Bürgern) als auch nach außen (gegenüber den konfessionsgebundenen Mitgliedern unserer Gesellschaft): Wer sich außerhalb der etablierten Religionen verortet, ist deshalb noch lange nicht von der politischen Landkarte verschwunden! Wir Konfessionsfreien bestreiten nicht bloß die Ansprüche der Religionen, wir haben eigene Werte, eigene Überzeugungen, eigene Interessen, die berücksichtigt werden müssen! Es wird sicherlich noch einige Zeit brauchen, bis diese Botschaft in den Medien und in der Politik verstanden wird, aber sie wird sich, davon bin ich überzeugt, letztlich durchsetzen. Immerhin: Wer die Mehrheit der SPIEGEL Online-Leser hinter sich weiß, steht ganz gewiss nicht allein auf verlorenem Posten. Insofern können wir durchaus optimistisch in die Zukunft blicken...