Der kanadische Journalist Dan Gardner denkt über die Grenzen der Einwanderung nach.
In unserer Disneyland-Version von Multikulturalismus ist es Häresie, aber die Europäer verstehen allmählich, dass Gemeinschaften von Einwanderern Brutstätten der Intoleranz sein können.
Nichts verdeutlicht die Lage besser, als eine Waffe an Ihrem Kopf.
Die Waffe befand sich in diesem Fall in den Händen eines jungen Arabers. Der Kopf war meiner. Und die Lage sieht so aus, dass Bedenken über Einwanderung in Europa nicht nur das Ergebnis von weißem Rassismus sind, sondern dass sie in vielen Fällen eine kluge Antwort darstellen auf steigende Zahlen intoleranter, gewalttätiger junger Männer in Gemeinschaften von Einwanderern. Es ist eine Lage, die wir in Kanada besser erkennen sollten, nicht nur, um zu vermeiden, gedankenlos europäische Ängste vor Einwanderung als Engstirnigkeit abzutun, sondern auch, um die Probleme zu vermeiden, die Europa heimsuchen.
Das war keines der Probleme, die ich bei meinem Besuch in Holland vor einigen Wochen aufgreifen wollte. Ich war in den Niederlanden, um die holländische Drogen- und Prostitutionspolitik zu untersuchen; eine Arbeit, die mich eines Samstag Nachts in eine Tippelzone - eine Straße, in der Prostitution unter geregelten Bedingungen erlaubt ist - der Stadt Utrecht führte. Als ich Passanten interviewte, kam ein Auto langsam näher. Ein Fenster wurde herunter gekurbelt. Die beiden jungen Männer darin schrieen mich an: „Flikker! Flikker!"
Ich hatte keine Ahnung, worum es ihnen ging, aber dann blieb das Auto auf dem Bürgersteig ein paar Fuß vor mir stehen. Der Fahrer schrie, „Flikker!" und richtete eine Handfeuerwaffe auf meinen Kopf.
Ich duckte mich schnell und tief nach unten. Aber das nächste Geräusch, das ich hörte, war das Auto, wie es wegfuhr.
Wie ich später erfuhr, ist „Flikker" das holländische Äquivalent zu „Schwuchtel". Diese Männer hatten angenommen, dass ich ein Prostituierter sein musste, weil ich auf dem Bürgersteig stand, und darum ein Schwuler.
Ich war geschockt. Ich war schon in mehreren riskanten Ländern ohne einen Zwischenfall gewesen, aber hier, im friedlichen kleinen Holland, hält man eine Waffe in mein Gesicht. Unmöglich.
Glücklicherweise arbeitete ich diese Nacht mit einer jungen, holländischen Journalistin und sie hatte eine Erklärung. „Das waren Marokkaner", sagte sie mit einem Achselzucken.
Als ein netter, liberaler Kanadier fand ich es ein wenig schockierend, Volkszugehörigkeit geradeheraus als Erklärung für Kriminalität genannt zu bekommen. Aber meine holländische Kollegin ist eine nachdenkliche Feministin und eine Linke, nicht irgendein rassistischer Reaktionär.
Noch war dies einer der dutzenden Holländer, mit denen ich über diesen Vorfall in den folgenden Tagen sprach. Angesichts der Thematik, die ich in Holland untersuchen wollte, hatte ich mich in der Amsterdamer Innenstadt einquartiert - die Welthauptstadt der Toleranz, ein Ort, an dem jeder willkommen ist und die einzigen Regeln lauten: Tue niemandem weh und weiche Fahrrädern aus. Doch überall wo ich hinging, ließ die bloße Erwähnung von Kriminalität die Unterhaltungen in Richtung Einwanderer gehen, und vor allem Marokkaner (die, zusammen mit Türken und Indonesiern, die größte Einwanderergruppe des Landes darstellen).
„Junge Marokkaner sind das größte Problem", sagte mir der Besitzer eines Coffee-Shops im Rotlichtbezirk. In Holland sind „Coffee-Shops" Kneipen, die Marijuana verkaufen, und der Besitzer, ein Holländer in seinen 30ern, sortierte gerade seine Waren, als er sprach. Er und seine Frau waren genauso ultraliberal, wie man das von Coffee-Shop-Besitzern im Rotlichtbezirk erwarten könnte, aber sie regten sich furchtbar über marokkanische Männer auf, und vor allem über die Kinder der zweiten Generation marokkanischer Einwanderer - die Variante, die Schwule in holländisch anschreit, und nicht in arabisch. Viele sind religiöse Eiferer und gewalttätig, wie sie versicherten, und für so etwas gibt es keinen Platz in einem Land, das für seine Toleranz bekannt ist. „Wenn Migranten hier leben möchten, dann müssen sie auch tolerant sein", sagte er.
Ich habe ähnliche Kommentare wieder und wieder gehört. Frauen sagten mir, dass sie die Straße überquerten, um jungen marokkanischen Männern aus dem Weg zu gehen. Prostituierte fürchten sich vor Marokkanern und akzeptieren sie oftmals nicht als Kunden, egal wie dringend sie das Geld brauchen. Holländische Homosexuelle sind ebenso verängstigt. Und wütend.
Ich sprach eines Abends in einer Kneipe mit einer Gruppe schwuler Männer und erzählte ihnen, wie ich mit dem Wort „Flikker" vertraut wurde, obwohl ich vorsichtig war, die Volkszugehörigkeit der jungen Männer nicht zu erwähnen. Sie waren entsetzt. So etwas passiert einfach nicht in Holland, wie sie versicherten. In kleineren holländischen Städten, sagten sie mir, akzeptieren die Menschen Homosexualität vielleicht nicht, aber sie würden niemals einen schwulen Mann anschreien oder angreifen.
Dann sagte ich ihnen, dass die beiden Männer Marokkaner waren. Es gab ein kollektives Augenrollen. Ah. Das erklärt die Sache. Obwohl das Verprügeln von Schwulen äußerst selten in Holland sein mag, so ist es eine Art Spezialität junger marokkanischer Männer, von denen es viele für einen großen Spaß halten, in Parks zu gehen, wo sich Schwule treffen, und sie willkürlich anzugreifen.
„Viele Marokkaner, nicht alle, aber viele von ihnen, machen eine Menge Probleme, nicht nur wegen Schwulen, sondern wegen allem", sagte mir ein schwuler Mann. Er und seine Freunde hatten gerade darüber geredet, bevor ich eintraf.
Tatsächlich redet ein großer Teil Hollands über das Thema, und zwar schon seit Jahren. Nur dass es bis vor kurzem ausschließlich im Flüsterton erwähnt wurde. „Jeder sprach darüber, aber nur wenn die Tür geschlossen war", sagte mir eine Frau in einem Coffee-Shop - ein Kommentar, das ich immer wieder vernahm. Doch so ist es nicht länger. Die Holländer sprechen offen darüber, sogar eifrig, dank eines politischen Wirbelsturms namens Pim Fortuyn.
In Nordamerika haben wir nichts über Herrn Fortuyn gehört, bis ihn ein Tierrechts-Fanatiker in jenem Frühjahr ermordete. Die Todesanzeigen waren nicht nett. Einige Kommentatoren behaupteten, der politische Neuling, dessen stark ansteigende Popularität die holländische Politik in Aufruhr versetzte, sei ein „Faschist" gewesen. Andere warfen ihn einfach in denselben Topf wie rechtsradikale Politiker vom Schlage eines Jean-Marie Le Pen aus Frankreich oder Österreichs Jörg Haider. Fortuyn, so erzählte man uns, war Teil eines Trends, der Europa heimsuchte, eine Anti-Einwanderer-Gegenreaktion, die von ausländerfeindlichen, sogar rassistischen, Demagogen geführt wurde.
Das war äußerst unfair. Pim Fortuyn hasste Herrn Le Pen und seinesgleichen. Als ehemaliger Universitätsprofessor war er ein Befürworter der Legalisierung von Drogen, ein schwuler Lebemann, ein Wilde'scher Gecke (1) - ein echter Laissez-faire-Liberaler. Er spottete über den Islam als eine „rückständige Religion", aber diesen Kommentar muss man im Kontext eines Mannes sehen, der mehr Provokateur als Politiker oder Professor war - ein Mann, der sich gegen Vorwürfe des Rassismus verteidigte, indem er auf die nicht-weißen Männer zu sprechen kam, mit denen er geschlafen hatte. Man sollte sich auch daran erinnern, dass er seine anti-muslimischen Kommentare zum Besten gab, als holländische muslimische Kleriker krasse Bemerkungen gegen Schwule von sich gaben und als muslimische Männer „Flikker" zu Brei schlugen.
Und dass ist das Paradoxon von Pim Fortuyn. Indem er für ein Ende der Einwanderung in das kleine, dicht bevölkerte Holland aufrief, verteidigte er die Offenheit. Indem er „holländische Werte" gegen Multikulturalismus verteidigte, unterstützte er Pluralismus und Vielfalt. Seine Partei zog eine erschreckende Zahl von Sonderlingen und Verrückten an und die Kommentare von Herrn Fortuyn waren oft verantwortungslos und aufrührerisch, aber der Mann glaubte ehrlich, dass er die Intoleranz bekämpfte und sie nicht bewarb.
Das ist nicht leicht zu verstehen für Nordamerikaner. Auf diesem Kontinent ist Toleranz etwas, das wir von im Lande Geborenen erwarten. Intoleranz ist eine Sünde der weißen Mehrheit. Und Feindlichkeit gegenüber Einwanderer ist die schlimmste Form von Intoleranz, die man sich vorstellen kann.
Der Gedanke, dass Einwanderer selbst auf erschütternde Weise intolerant sein könnten, ist dem nordamerikanischen Verstand fremd. Zum Teil liegt das daran, dass die Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg nach Nordamerika ein überwältigender Erfolg war. Einwanderer in Kanada und in den Vereinigten Staaten haben zum Großteil wenigstens den Gedanken akzeptiert, dass wir zumindest Menschen tolerieren müssen, die nicht wie wir sind - das ist das Kernelement der Kultur liberaler Gesellschaften und der Schlüssel für das Funktionieren des Pluralismus.
Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum wir annehmen, dass Gemeinschaften von Einwanderern gegen Engstirnigkeit und Hass immun sind: Radikaler Multikulturalismus. Das ist nicht der Multikulturalismus, der einfach menschliche Vielfalt würdigt. Es ist vielmehr der Multikulturalismus, der darauf besteht, dass alle Kulturen wunderbar, erhaben und gleich sind, dass alle Traditionen gepflegt und akzeptiert werden müssen und dass alle Kulturen Seite an Seite in süßer Harmonie leben können. In dieser Disneyland-Ideologie besteht die schlimmste Sünde, das eine, unentschuldbare Verbrechen, darin, eine andere Kultur zu kritisieren (von westlichen Kulturen abgesehen, deren Kritik nicht nur ermutigt, sondern vorgeschrieben wird).
Dies ist der Multikulturalismus, der sich weigert zu sehen, dass die meisten menschlichen Kulturen, heute und seit jeher, von Tribalismus gesättigt sind, von Engstirnigkeit und von antiliberalen Bösartigkeiten. Er weigert sich zum Beispiel zu sehen, dass ein brennender Hass auf Homosexuelle in vielen muslimischen Kulturen tief verankert ist, dass es kein Zufall ist, dass auf den offen schwulen Bürgermeister von Paris von einem fundamentalistischen Muslim eingestochen wurde, oder dass so viele junge marokkanische Männer sich dabei amüsieren, holländische „Flikker" zu verprügeln.
Leider war diese Strömung des Multikulturalismus in Europa sehr ansteckend. Manchmal breitete sie sich in wahnsinnigen Formen aus. Als eine norwegische Zeitung berichtete, dass eingewanderte muslimische Männer eine unverhältnismäßig große Zahl von Vergewaltigungen in Norwegen begingen, bestand ein Professor darauf, dass norwegische Frauen zumindest teilweise dafür verantwortlich waren. Er schrieb, dass ihre Kleidung für muslimische kulturelle Standards provokativ war. „Norwegische Frauen müssen erkennen, dass wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben und sich dieser anpassen."
Jahrelang erstickte diese Form von Multikulturalismus eine Diskussion über die Probleme, welche die Menschen mit ihren eigenen Augen sahen. In Holland besteht zum Beispiel die Hälfte der Gefängnisinsassen aus nicht-holländischen Nationalitäten, aber bis Pim Fortuyn auftauchte, weigerten sich die Mainstream-Parteien, über Einwanderung zu diskutieren, und schrieen selbstherrlich die Wenigen nieder, die öffentlich das sagten, was jeder privat sagte. In dieser erstickenden Atmosphäre war es vielleicht unausweichlich, dass viele Europäer sich denjenigen zuwenden würden, die nur allzu gerne von „Einwanderungsproblemen" sprachen - Demagogen wie Jean-Marie Le Pen.
Jedoch liegt die Schuld nicht nur bei der europäischen multikulturellen Linken. Für Jahrzehnte bewarb die Rechte politische Maßnahmen, die eine große Zahl von „Gastarbeitern" und ihre Familien nach Europa brachten, aber hielten sie absichtlich auf Abstand mit abgetrennten Wohnungen und mit Gesetzen, welche es schwierig oder unmöglich machten, eine Staatsbürgerschaft zu erhalten. Das Ergebnis dieser brutalen Ausbeutung lässt sich zum Beispiel an den sowjet-artigen Sozialwohnblöcken am Rande französischer Städte beobachten - verbarrikadierte Ghettos, die mit der Armut, Entfremdung und Wut von Algeriern der zweiten und dritten Generation pulsieren.
Natürlich trafen Al Quaeda und andere radikale muslimische Gruppen ein, um die bittere Ernte einzusammeln. Fünf holländische Marokkaner wurden beschuldigt, terroristische Anschläge geplant zu haben. „Eine gewalttätige Strömung des radikalen Islam schlägt heimlich Wurzeln in der holländischen Gesellschaft", erklärte vor kurzem ein holländischer Geheimdienstbericht.
Früher in diesem Jahr warnte der belgische Geheimdienst, dass Al-Quaeda-Netzwerke in Brüssel und Antwerpen „eine ernsthafte und unmittelbare Bedrohung" darstellen. Im November suchte ein Aufstand arabischer Jugendlicher die Straßen von Antwerpen heim (er begann, als ein geistig kranker weißer Belgier einen muslimischen Mann aus unbekannten Gründen tötete); Belgische Behörden sagen, dass der Aufstand von islamischen Radikalen organisiert und angeführt wurde, die wollen, dass Muslime in Belgien in abgetrennten Gemeinschaften unter islamischem Recht leben.
Die Lage ist nicht völlig düster. Der türkische Geheimdienstbericht besagt, dass die Extremisten zwar bei den Marokkanern Erfolg hatten, aber dass es ihnen weitgehend nicht gelungen ist, Hollands türkische oder indonesische Gemeinschaften für sich zu gewinnen. Das stimmt mit Wahrnehmungen des Kriminalitätsproblems und der Meinung der meisten Holländer überein, die sich speziell über Marokkaner Sorgen machen, nicht über alle Muslime. Er besagt auch - zusammen mit zahlreichen weiteren Belegen - dass Einwanderung in Europa funktionieren kann, darunter auch die Einwanderung von Muslimen, wenn man genug acht gibt auf Integration.
Die holländischen Mainstream-Parteien fangen auch damit an, die Probleme offen anzuerkennen und über Möglichkeiten zu reden, wie man Immigration ermöglichen könnte - eine große Veränderung, welche durch die spektakuläre politische Karriere von „Pim" Fortuyn angespornt wurde. In anderen europäischen Ländern bahnt sich dieselbe Veränderung an.
Ein Teil dieser Veränderung beinhaltete Auflagen auf Einwanderung, die nordamerikanische Kommentatoren unfairerweise als simple Intoleranz angegriffen haben. Natürlich sind in Europa sehr reale ausländerfeindliche und rassistische Strömungen am Werk. Aber es gibt auch einen legitimen und notwendigen Versuch zu verstehen, was mit der Einwanderung falsch gelaufen ist und wie sie sowohl für Einwanderer, als auch für im Lande Geborene funktionieren kann.
Und indem sie das tut, schnappt das politische Zentrum den Ausländerfeinden das Thema weg und schickt die antiliberale Rechte zurück in die Wildnis. Jörg Haiders Unterstützung in Österreich ist bereits zusammengebrochen.
Für Europäer und Nordamerika gleichermaßen gibt es daraus eine wichtige Lektion zu lernen: Gleichgültig, wie explosiv ein Thema sein mag, es ist immer gefährlicher, so zu tun, als würde es nicht existieren, als offen und ehrlich darüber zu reden. Es wäre schön, wenn man annehmen könnte, dass dies für jeden in einer Demokratie offensichtlich ist. Aber es scheint, als bräuchten wir dann und wann eine Waffe am Kopf, die uns an diesen Punkt erinnert.
Übersetzung: Andreas Müller
Quelle: Gardner, Dan: Opening borders to bigotry. The Ottawa Citizen. 18. Januar 2003
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(1) Nach dem schwulen Schriftsteller Oscar Wilde (Ernst sein ist Alles, Ein perfekter Ehemann).