Anthroposophie und Nationalsozialismus

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Rudolf Heß / Foto (Ausschnitt) Bundesarchiv

BOCHUM. (hpd/rb) Die Anthroposophie hatte als konkurrierende Weltanschauung erbitterte Gegner innerhalb des nationalsozialistischen Machtapparats. Sie fand aber auch zahlreiche einflussreiche Förderer und Unterstützer. Was machte die anthroposophischen Angebote aus Sicht ihrer nationalsozialistischen Unterstützer attraktiv? Gibt es eine Kontinuität vom „Dritten Reich“ bis in die Gegenwart?

Von Andreas Lichte.

Rudolf Heß, Unterstützer der Anthroposophie (rechts), mit Heinrich Himmler vor einem Modell des KZ Dachau, wo es einen biologisch-dynamischen Hof gab | Foto: Friedrich Franz Bauer, Deutsches Bundesarchiv. Lizenz: PD

„Die Waldorfschulen erziehen zur Volksgemeinschaft“

Anthroposophen arbeiteten in allen für sie wichtigen Praxisfeldern mit nationalsozialistischen Organisationen zusammen, im Überblick:

  • Waldorfschulen: „Das Motto der Waldorfbewegung im 'Dritten Reich' lautete: 'Die Waldorfschulen erziehen zur Volksgemeinschaft.'(1) Ihrer Selbstdarstellung zufolge lieferte die anthroposophische Pädagogik einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau des neuen Deutschlands durch 'die Pflege des völkischen Gedankens und die Betonung des Wesens und der Aufgaben des deutschen Geistes' und stand damit 'im Einklang mit der Grundgesinnung des nationalsozialistischen Staates‘(2).“(3)
  • Anthroposophische Medizin: „Die Vereinigung anthroposophischer Ärzte stellte eine Hauptstütze der NS-treuen ‚Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde' dar.“(4)
  • „Biologisch-dynamische“ Landwirtschaft: „1935 wurde der 'Reichsverband für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise' korporatives Mitglied der nationalsozialistischen 'Deutschen Gesellschaft für Lebensreform' (Motto: „Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreformbewegung ist der Nationalsozialismus“).“(5)

Was machte die anthroposophischen Angebote für ihre nationalsozialistischen Unterstützer attraktiv?

Das „Dritte Reich“ strebte völlige Unabhängigkeit vom Ausland an, sowohl auf ideologischer, als auch auf wirtschaftlicher Ebene. Begründet auch durch die Erfahrung der britischen Seeblockade während des Ersten Weltkrieges, war die wirtschaftliche Unabhängigkeit – „Autarkie“ – Deutschlands ein übergeordnetes Ziel der Politik Adolf Hitlers: Produkte, die aufgrund der in Deutschland knappen Rohstoffe nicht oder nur unter großen Kosten hergestellt werden konnten, sollten ersetzt werden - eine Unabhängigkeit von Importen erreicht werden. Die Autarkie sollte einen hohen Lebensstandard, den sozialen Ausgleich, aber auch die militärische Schlagkraft sichern.

Autarkie Deutschlands: „Biologisch-dynamische“ Landwirtschaft

Hier bot die anthroposophische, „biologisch-dynamische“ Landwirtschaft eine Lösung an: Sie verzichtet auf industriell hergestellten Kunstdünger und Pestizide und setzt stattdessen verstärkt auf menschliche Arbeitskraft.

„Demeter“, die „Monatsschrift für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise“, stellte die NS-Bemühungen um Autarkie in der Landwirtschaft heraus. Artikel hießen beispielsweise: „Zurück zum Agrarstaat”, September 1933; „Beitrag zum Autarkieproblem”, August 1933. Ein Bericht der „Demeter“-Ausgabe vom Februar 1939 schloss: „So scheint mir denn die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise dafür vorbestimmt zu sein, die Forderung unserer Regierung zu erfüllen: ‚Ernährungsfreiheit des Deutschen Volkes auf Deutscher Scholle!‘”(6)

„In den ersten acht Jahren des „Dritten Reiches“ wuchs die biologisch-dynamische Bewegung stark an und genoss die Gunst vieler NS-Größen, etwa von Heß, Rosenberg, Ohlendorf, Baeumler, Wilhelm Frick und Robert Ley. Der biologisch-dynamische Landbau wurde in der nationalsozialistischen Presse mit auffallender Begeisterung gefeiert.“(7) „Das 'Dritte Reich' kann als die Zeit angesehen werden, in der die biologisch-dynamische Landwirtschaft ihre größte staatliche Unterstützung bekam.“(8)

„‘Demeter‘ feierte die militärischen Siege Deutschlands in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges und lobte Hitler. Die Ausgabe vom September 1939 wurde mit folgender Erklärung eröffnet: ‚Die Stunde der Bewährung ist angebrochen! Der Führer hat die Verteidigung der Ehre und der Lebensrechte des deutschen Volkes übernommen.‘ Ein Jahr später hieß es: ‚Das soll unser Ziel und unsere hohe Aufgabe sein, gemeinsam mit unserem Führer Adolf Hitler für die Befreiung unseres lieben deutschen Vaterlandes zu kämpfen!‘“(9)

Die „biologisch-dynamische“ Landwirtschaft hatte für ihre Bejahung des deutschen Angriffskrieges neben der weit verbreiteten, anthroposophischen Kriegsbegeisterung – die Deutschen konnten nun ihre in anthroposophischer Deutung „für den Menschheitsfortschritt unabdingbare geistige, kosmische Sendung“(10) beweisen – wohl auch pragmatische Gründe: Mit dem Wachsen des unter deutschem Einfluss stehenden Gebiets wuchs auch die potentielle Anbaufläche für die „biologisch-dynamische“ Landwirtschaft:

„Seit Anfang des Krieges waren Anthroposophen an der Gestaltung und Durchführung von Siedlungsplänen im besetzten Osten unter Leitung der SS beteiligt. Schon im Oktober 1939 kooperierten Anthroposophen und SS an der Errichtung eines biologisch-dynamisch geführten Lehrguts auf einem enteigneten Hof in Posen, und auch nach 1941 wurde die Mitarbeit an verschiedenen Projekten weitergeführt, mit der Genehmigung Himmlers und unter Förderung von zwei hohen SS-Führern, Günther Pancke und Oswald Pohl.

Pancke, Chef des Rasse- und Siedlungshauptamts, hielt den biologisch-dynamischen Landbau für die einzig geeignete Wirtschaftsweise ‚für die zukünftigen Wehrbauern und Bauern im Osten‘.

Pohl war für das Netzwerk biologisch-dynamischer Höfe bei verschiedenen Konzentrationslagern zuständig, u. a. in Dachau (11) und Ravensbrück. Das Dachauer Gut wurde von dem Anthroposophen und SS-Offizier Franz Lippert beaufsichtigt, der vorher Obergärtner bei Weleda gewesen war. Die SS-eigenen biologisch-dynamischen Betriebe bestanden bis zum Kriegsende.“(12)

Ideologische Unabhängigkeit Deutschlands: Waldorfschulen

Leitbild der nationalsozialistischen Pädagogik war die „totale Erziehung“, die die „arische“ Jugend zu rassebewussten Volksgenossen formen, ihre jugendlichen Körper stählen (13), und zu überzeugten Nationalsozialisten erziehen sollte. Privatschulen mit eigenem Lehrplan und eigenen Zielen standen diesem Vorhaben im Wege, wurden von den Nationalsozialisten im Laufe der Zeit immer weiter zurückgedrängt und verboten.(14)

Vor diesem Hintergrund einer allgemeinen Ablehnung von Privatschulen ist zu bewerten, dass Rudolf Heß’ Adjutant Ernst Schulte-Strathaus den Erziehungsminister um eine Ausnahmeregelung für die Waldorfschulen ersuchte, die für den Nationalsozialismus besonders wertvoll und nicht wie andere Privatschulen zu behandeln seien.(15)

Schulte-Strathaus war überzeugt: „Die Ziele der Waldorf-Schulen decken sich in ihren Grundzügen mit den Forderungen des Führers für das Erziehungswesen. (…) Es müsste ein Weg gefunden werden, die in den Waldorf-Schulen aus deutschem Wesen erwachsene, planmäßig gegen materialistisches Denken und bloßen Intellektualismus gerichtete Erziehungsart bei der Neugestaltung des Erziehungswesens für die Sicherung des geistigen und seelischen Gehalts im Nationalsozialismus nutzbar zu machen. Das würde nicht so schwierig sein, weil die Grundgedanken der Waldorf-Schulen der Idee des Nationalsozialismus viel näher stehen als es bei einem oberflächlichen Überblick erscheinen mag.“(16)

Was sind die Grundgedanken der Waldorfschulen, die der Idee des Nationalsozialismus nahe standen?

Die erste Waldorfschule wurde 1919 in Stuttgart vom Anthroposophen Emil Molt, Besitzer der „Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik“, als Betriebsschule gegründet. Molt beauftragte Rudolf Steiner (1861–1925) mit der pädagogischen Leitung der neuen „Waldorfschule“, diese war für ihn von Beginn an ein wirksames Instrument zur Verbreitung der von Steiner begründeten esoterischen Weltanschauung Anthroposophie.

Die Anthroposophie weist Parallelen zum völkischen Gedankengut auf. Im Mittelpunkt steht eine Mischung aus entschieden deutschbetonten Voraussetzungen und universalen Ansprüchen: Grundlegend ist ein emphatischer Begriff des „deutschen Geistes“ bzw. „deutschen Wesens“ und der gegenwärtigen sowie künftigen „deutschen Weltmission“(17) – die Anthroposophie kann als eine extreme, esoterische Auslegung des auch von den Nazis verwendeten Schlagworts, „am deutschen Wesen mag die Welt genesen“(18), angesehen werden.