FRANKREICH. (hpd) Die Vermutung, dass der Kampf gegen die Politik der nationalistischen Werte Sarkozy's bald weitergehen wird, wurde bereits am vergangenen Donnerstag bestätigt. Allerdings nicht durch einen Angriff aus Frankreich, sondern aus dem europäischen Parlament.
Guy Verhofstadt, Leiter der liberalen Fraktion im EU-Parlament, publizierte unter der offensiven Überschrift „Es ist etwas faul in der französischen Republik“, in Le Monde eine scharfe persönliche Polemik gegen die Identitätsinitiative von Sarkozy. Und dies am dem Tage, an dem sein Landsmann, der Belgier Herman Van Rompuy, Favorit von Sarkozy und Merkel, als Präsident der EU auf die politische Bühne trat. Was zu dem Gerücht führte, es handelte sich um einen Racheakt, weil Verhofstadt, langjähriger, erfahrener belgischer Ministerpräsident a. D., selber gerne diese Funktion ausgeübt hätte.
Verhofstadt bemängelt in seinem Brief, dass „die politische Opportunität dieser Debatte, ihre zögerliche Durchführung und diffusen Ziele, den verheerenden Eindruck erwecken, dass Frankreich sich vor sich selbst fürchtet." Er wirft der Debatte vor, die Themen der extremen Rechten in den Vordergrund gestellt zu haben. Und, schärfer noch, „die Website der Regierung zu einem Forum mit Vichy-Geruch verwandelt zu haben.“ [Vichy: der Sitz der mit den Deutschen kollaborierenden französischen Regierung von Pétain] Was sind die Ziele dieser Aktion?“ fragt Guy Verhofstadt. "Die Marseillaise in der Schule lernen? Das ist genauso absurd, wie grotesk. Die verkrampfte Fixierung auf die nationalen Symbole ist das offensichtlichste Symptom der nationalen Malaise, die diese Debatte ausschwitzt.“
Befragt von der belgischen Zeitung Le Soir wollte der anvisierte französische Minister für Immigration, Eric Besson, bis jetzt nicht auf diese Äußerungen reagieren, obwohl dies nicht die ersten Angriffe sind, welche der Überläufer aus der Sozialistischen Partei zu kassieren hatte. Auch seine ehemaligen Parteigenossen hatten es bereits gewagt, seine Politik mit „Vichy“ zu vergleichen. Und auch in den Reihen der Rechten hatte die Initiative Viele verärgert, so haben z. B. drei ehemalige Ministerpräsidenten (Alain Juppé, Jean-Pierre Raffarin und Dominique de Villepin) sich davon öffentlich distanziert. Im berüchtigten ministeriellen Seminar von vorherigem Montag hatten sich ein Dutzend Minister entschuldigt und das Klima soll eisig gewesen sein.
Obwohl Guy Verhofstadt nicht in der gleichen Gruppe wie die Partei UMP von Besson im Europäischen Parlament sitzt, [er leitet die liberale Gruppe, während die UMP in der christlich-konservativen Europäischen Volkspartei EVP organisiert ist] kann der Angriff von einer solchen in Europa angesehenen konservativen Persönlichkeit nicht unterschätzt werden. Guy Verhofstadt in seiner ständigen Verteidigung der „multiplen Identitäten", sagt anscheinend nur laut, was viele andere in Europa denken.
Dass der öffentliche Angriff diesmal nicht von der Opposition ausgeht, sondern aus dem Ausland kommt, wird in Frankreich als Sensation empfunden und das bisherige Schweigen der Regierung als Widerspieglung der internen Konflikte verstanden. Im Gegensatz dazu tobt in Hunderten Blogs von privaten und medialen Internetseiten die Auseinandersetzung um die Kontroverse Hofstadt – Sarkozy. Natürlich in Frankreich, aber auch in Belgien. War doch Verhofstadt über lange Jahre hinweg der relativ erfolgreiche Ministerpräsident einer rotgelben Regierung Belgiens - eines im Streit zwischen Flamen und französisch sprechenden Wallonen um seine Identität kämpfenden Landes.
Als Flame schreibt Verhofstadt nun in einer französischen Zeitung ein antifranzösisches aber eindeutig frankofones Pamphlet: "Frankreich ist oft ein Modell der Inspiration und Bewunderung gewesen. (...) Für seine Freunde war es eine Quelle der Traurigkeit zu sehen, wie das Land sich in eine sterile Kontroverse über nationale Identität verliert. (…) Von einem Frankreich, das wir lieben und das wir brauchen, erwarten wir Ideen, Projekte, und nicht die Ghetto-Mentalität einer alten ängstlichen Nation.“ Und als konservativer Politiker verteidigt er die Universalität der politischen und sozialen Menschenrechte: „Frankreich darf nicht in die Falle tappen, die Fragen auf den Islam zu reduzieren, während die tatsächliche Herausforderungen Arbeitslosigkeit und Bildung sind.“
Fast klingt es so, als ob der für seine antiklerikalen Auffassungen bekannte Politiker die Stellungnahme der französischen Freidenker unterschrieben hat, welche die aktuelle Debatte über die nationale Identität als einen Versuch betrachten, die Prinzipien der französischen Revolution infrage zu stellen. Die nationale Identität ist für sie „nicht das Produkt der Notwendigkeit, sondern des Zufalls. (…) Die Existenz einer Nation ist eine tägliche Abstimmung, so wie die Existenz des Individuums eine ewige Bejahung des Lebens ist. (Ernest Renan) (…) Die Demokratie zwingt keinen Bürger Werte auf: Bürger zu sein heißt, Rechte zu haben, ohne gezwungen zu sein, politische oder philosophische Werte zu teilen.“
Insgesamt bildet die Aktion von Verhofstadt einen Stich ins belgische (und europäische) Wespennest! Beifall von Seiten der frankofonen, libertären Medien und Kreise, aber von Seiten der flämischen nationalistischen Rechten, trotz des Angriffs auf den alten Feind Frankreich, wird die Aktion abgelehnt: der Vichy-Vergleich wird zum Kniefall vor dem Islam gedeutet und Vlaams Belang plädiert für mehr Nationalismus, da dies der beste Weg zu Integration sein sollte.
Vorgeworfen wird ihm auch, dass, im Gegensatz zu den Intentionen seines Pamphlets, unter seiner Regierung föderalistische Reformen entstanden sind, die heute in Belgien die nationalistischen Gegensätze erneut verschärfen. Und natürlich sollte er als bekennender Atheist weniger gegen die katholische Kirche und mehr gegen den Islam agieren.
Da konnte die französische Regierung nicht länger schweigen. Ein Schweigen, das bis jetzt am vergangenen Freitag nur durch den Außenminister Kouchner durchbrochen wurde. Allerdings in einer Art und Weise, welche der thematischen Bedeutung der Kontroverse nicht angebracht scheint. Kouchner konterte nur mit einem kurzen, undiplomatischen Satz: „Lächerlichkeit tötet ein wenig, aber ich hoffe, es geht ihm trotzdem gut“. Aus Kreisen von Verhofstadt wurde dies sofort als eine persönliche Beleidigung zurückgewiesen und eine Fortführung der internationalen Diskussion in Aussicht gestellt.
Redaktion und Übersetzung: R. Mondelaers