Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende in Frankreich

EGMR setzt von Dignitas eingeleitetes Verfahren gegen französischen Staat fort

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Gebäude des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg
Gebäude des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat beschlossen, der französischen Regierung die Beschwerden von 31 in Frankreich lebenden Personen zuzustellen und somit das von Dignitas gegen den französischen Staat eingeleitete Verfahren an die Hand zu nehmen. Diese Entscheidung ist ein wichtiger Etappensieg für die Durchsetzung der Wahlfreiheit am Lebensende und dürfte in der derzeitigen politischen Debatte und der Arbeit an einem Gesetzesentwurf zum selbstbestimmten Sterben in Frankreich auf Interesse stoßen.

Mit Genugtuung hat der Verein Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Kenntnis genommen, der französischen Regierung die Beschwerden von 31 Personen mit Wohnsitz in Frankreich vom 28. April 2023 zuzustellen. Die Entscheidung des Gerichtshofs, das von Dignitas gegen den französischen Staat eingeleitete Verfahren an die Hand zu nehmen, ist ein Etappensieg und ein wichtiges Zeichen aus Straßburg, dass Frankreich seinen Bürgern endlich das (Menschen-)Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende garantieren soll. Die Entscheidung ist umso bemerkenswerter, da der EGMR nur zwischen 5 und 10 Prozent der Beschwerden gegen den französischen Staat als relevant einstuft.

In der Sache "A. und andere gegen Frankreich" beklagen die Beschwerdeführer unter Berufung auf die Artikel 2, 3, 8 und 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Verletzung ihres Rechts auf Leben, ihres Rechts, nicht unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden, ihres Rechts auf persönliche Autonomie und ihrer Gedanken- und Gewissensfreiheit, die sich daraus ergebe, dass es im französischen Recht keine angemessenen und ausreichenden Garantien bezüglich der Möglichkeit für jeden gebe, sein Leben zu einem Zeitpunkt seiner Wahl bewusst, frei und in Würde zu beenden.

Ludwig A. Minelli, Gründer und Generalsekretär von Dignitas, sagt: "Die Erfahrung der letzten 25 Jahre hat gezeigt, dass der politische/gesetzgeberische Weg in Bezug auf die Sterbehilfe, ob nun in Frankreich oder in anderen Ländern, kein verlässlicher ist und oft nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis, also zu echter Wahlfreiheit, führt. Unsere Rechtsverfahren zielen darauf ab, dass die Menschen in Frankreich ihr (Menschen-)Recht ausüben können, über Art und Zeitpunkt ihres eigenen Lebensendes selbst zu bestimmen, ein Recht, das bereits 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt wurde1."

Mehrjähriges Verfahren

Dignitas reichte in den Jahren 2021 und 2022 zwei Beschwerden beim Conseil d’État (französischer Staatsrat) ein, welche von mehreren Dutzend in Frankreich ansässigen Privatpersonen, in der Mehrzahl Dignitas-Mitglieder, unterstützt wurden. In der ersten Beschwerde ging es um die Rechtmäßigkeit des derzeitigen vollständigen Verbots des Medikaments Natrium-Pentobarbital in der Humanmedizin. Die zweite Beschwerde betraf die Frage, ob es rechtlich zulässig ist, dass das derzeit in Frankreich geltende Gesetz, die sogenannte "Loi Claeys-Leonetti", assistierten Suizid und direkte aktive Sterbehilfe beiseite lässt.

Am 29. Dezember 2022 lehnte der Conseil d’État schließlich beide Beschwerden von Dignitas ab. In der Folge reichte eine Gruppe von 31 in Frankreich lebenden Personen, vertreten durch den beim französischen Staatsrat und Kassationshof (Conseil d’État und Cour de cassation) zugelassenen Rechtsanwalt Patrice Spinosi, am 28. April 2023 beim EGMR eine Reihe von Beschwerden gegen Frankreich ein, um das Recht auf Wahlfreiheit über das eigene Lebensende durchzusetzen und den Weg zur Sterbehilfe (Assistierter Suizid und/oder direkte aktive Sterbehilfe) in Frankreich zu ebnen.


Der gemeinnützig tätige Schweizer Verein Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben setzt sich seit 25 Jahren international auf rechtlichem und politischem Weg für das Recht auf Beendigung des eigenen Leidens und Lebens ein. Er war unter anderem maßgeblich daran beteiligt, dass dieses im Jahr 2020 von den Verfassungsgerichten in Deutschland2 und Österreich3 anerkannt wurde. Seit 1998 ermöglicht Dignitas Menschen aus aller Welt, auf der Grundlage des schweizerischen Rechts assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen und damit ihr Leben auf sichere Weise und mit professioneller Unterstützung zu beenden. In Frankreich zählt der Verein mehr als 1.000 Mitglieder4 .

In der Schweiz ist der assistierte Suizid seit 40 Jahren bewährte Praxis. Die allgemeinen Rechtsgrundlagen dazu sind ausreichend, und der Gesetzgeber hat sich 2011 ausdrücklich gegen ein Sondergesetz ausgesprochen. Diese liberale Regelung funktioniert sehr gut. Verboten bleibt in der Schweiz jedoch die direkte aktive Sterbehilfe, das heißt die Verabreichung eines tödlichen Medikaments durch einen Dritten (Tötung auf Verlangen).

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1 EGMR Entscheid vom 20.1.2011 in der Sache Haas gegen die Schweiz : "Im Lichte dieser Rechtsprechung hält der Gerichtshof dafür, dass das Recht eines Individuums, zu entscheiden, auf welche Weise und in welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, sofern es in der Lage ist, seine diesbezügliche Meinung frei zu bilden und dem entsprechend zu handeln, einen der Aspekte des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Artikel 8 der Konvention darstellt." ↩︎

2 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1-343; siehe auch: http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/medienmitteilung-26022020.pdf

3 siehe auch: http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/medienmitteilung-11122020.pdf

4 http://www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=32&Itemid=72&lang=de ↩︎