Ist es möglich, an etwas zu wenig nicht zu glauben? Und ob. Fundamentalistische Agnostiker und Religionsliebhaber finden Blödsinn so richtig klasse, seit ihnen Mama zum ersten Mal die Abenteuer des kleinen Jesus vorgelesen hat.
Kuschelatheisten gehören zu einer auserwählten Spezies. Sie müssen nichts tun und können sich jenen überlegen fühlen, die so „19. Jahrhundert“ sind und noch immer gegen Religion kämpfen. Gelegentlich schämen sie sich noch eine Runde, dass sie nicht an Gott glauben. Wenn diese eingebildeten „Aufklärer“ derweil von Fanatikern bedroht werden, geben sie ihnen einfach selbst die Schuld daran – schließlich haben sie religiöse Gefühle verletzt.
Die Erfolge der Neuen Atheisten nehmen sie dabei gerne für sich in Anspruch. Endlich kommen auch die „wahren“ Skeptiker groß raus und können sich öffentlich darüber ausheulen, wie sehr sie sich für Dawkins schämen. Warum nur haben so viele Gottlose mit Göttern kein Problem?
Einfach göttlich, die Natur
Ein Faktor ist sicherlich der Pantheismus, auch Spinozismus genannt, nach einem seiner ersten Vertreter, dem Philosophen Baruch Spinoza. Unter Atheisten gilt er als „gute Religion“. Viele große Denker waren schließlich Pantheisten. Man nehme nur Goethe, Schiller und Giordano Bruno. Der Pantheismus erschien der geistigen Elite im ausgehenden 18. Jahrhundert ein geeigneter Antwortkandidat zu sein, wenn jemand die Gretchen-Frage stellte. Zuvor war dies der göttliche Tritt ins Hinterteil des Universums, der es zum Laufen gebracht haben soll, „Deismus“ genannt und vertreten von Voltaire und Rousseau.
Dem Pantheismus zufolge ist die Natur gleich Gott. Viele „Christen“ vertreten heute etwas ganz ähnliches, nämlich den Amorizismus – Gott ist die Liebe. Wenn Gott allerdings mit der Natur identisch ist, dann hängt der Glaube eines Pantheisten vom seinem Bild von der Natur ab. Das heißt, dass ein Pantheist auch ganz anders aussehen kann als Giordano Bruno.
Schlimmstenfalls wie Ernst Haeckel (1834-1919). Für ihn war die Natur beseelt und göttlich. Haeckel vertrat einen romantisierten und mit esoterischen Vorstellungen verfälschten Darwinismus und übertrug den „Kampf ums Dasein“ auf die menschliche Gesellschaft. Geistig und körperlich Behinderte sollten ihm zufolge getötet werden, der weißen Rasse stünden Vorrechte zu.
Haeckel errichtete aus seinem Monismus eine Weltanschauungsgemeinschaft. Er wollte die Natur nachahmen, die es gut mit dem Menschen meine. Zwar gab es für ihn nichts Übernatürliches, aber ansonsten hatte der Haeckelsche Pantheismus alle Elemente einer Religion und erfüllt damit die Definition einer „Ideologie“, einer weltlichen Religion.
Wie könnte nun ein Pantheist unserer Tage aussehen, der die Regeln der Evolution, wie sie heute verstanden wird, vergöttlicht? Die Evolution ist dem Menschen gegenüber vollkommen gleichgültig. Auch wenn wir heute Altruismus als evolutionär begründet verstehen und uns über Spiegelneurone freuen, ändert das nichts daran, dass sich Tiere gegenseitig umbringen, verhungern, erfrieren und der Evolution einen Strich durch die Rechnung machen, wenn sie von Naturkatastrophen dahingerafft werden und genauso erging es früher dem Menschen. Eine Art, die schlecht an die Umwelt angepasst ist, stirbt aus. Selbst wenn sie gut angepasst ist, kann sie durch unglückliche Zufälle ausgelöscht werden.
Würde man nun die Prinzipien der Natur/Evolution vergöttlichen, anstatt nur unsere natürlichen Handlungsspielräume für eine moderne Ethik einzubeziehen (was naturalistische Philosophen tun), müsste man bei einem modernen Sozialdarwinismus angelangen – der berüchtigte naturalistische Fehlschluss. Interpretiert werden könnte das so, dass die am besten an die herrschenden gesellschaftlichen Trends Angepassten überleben, beziehungsweise am erfolgreichsten sind. Wer sich stets die neuesten Klingeltöne runterlädt, wird also selektiert. Zwar ist das völliger Blödsinn, aber mir sind schon mehrere Zeitgenossen begegnet, die so etwas tatsächlich glauben.
Es sollte nun einleuchten, dass der Pantheismus keineswegs harmlos sein muss. Sam Harris sagte dazu: „Der Prozess der natürlichen Selektion hat zwar unser Genom in seiner gegenwärtigen Erscheinung geformt, er hat das menschliche Glück jedoch nicht erhöht; noch hat er uns irgendeinen Vorteil gebracht, der über die Fähigkeit hinausgeht, die nächste Generation bis zum fruchtbaren Alter aufzuziehen.“ Warum sollten wir die Natur also vergöttlichen und den Pantheismus als „gute Religion“ in den Himmel loben? Genauso würde niemand sagen, dass es eine „gute Ideologie“ gibt.
Heil und Segen dem aufgeklärten Christentum
„Vom Pantheismus einmal abgesehen, existiert heute auch ein aufgeklärtes Christentum, das, wie Studien deutlich zeigen, viele Positionen mit Atheisten gemeinsam hat. Wie kann man angesichts dessen Religion allgemein verurteilen? Das zeugt von einem fundamentalistischen Schwarz-Weiß-Denken.“ So der Vorwurf der Kuschelatheisten (schwarz) an Dawkins (weiß).
Niemand bezweifelt, dass moderate und liberale Christen existieren. In Deutschland bilden sie sogar die Mehrheit der „Gläubigen“. Allerdings ergibt es ab einem gewissen Punkt keinen Sinn mehr, sich als Christ zu bezeichnen. Notwendig für eine sinnvolle Definition dieser Religion ist der Glaube an Jesus Christus als Sohn Gottes, an Himmel und Hölle und an die Bibel als von Gott geschriebenes, diktiertes oder inspiriertes Buch.
Wer das nicht glaubt, ist kein Christ und wer sich trotzdem so nennt, muss damit leben, mit echten Christen in einen Topf geworfen zu werden. Was soll man denn bitte über Kulturprotestanten sagen, für die Gott das wohlige Gefühl am Weihnachtsabend darstellt und die unter dem Christbaum anstelle von Stille Nacht lieber den neuesten Hit von Madonna singen? Das ist ja selbst für meine Standards Blasphemie.
Liberales Christentum ist wie Faschismus light. In Italien werden gerade Mussolini-Bierflaschen und andere Merchandising-Artikel zu Ehren des Diktators verkauft. In einem Schaufenster in Neapel kann man auch kleine Holzfiguren bewundern, die Inquisitoren nachempfunden sind. Die gibt es im Set mit Folterinstrumenten in Puppengröße. Das moderne Christentum ist Nostalgie, beeinflusst durch die Romantisierung des katholischen Mittelalters seit Novalis. Allerdings mutet die Verehrung eines patriarchalen und abergläubischen Kultes in unserer Zeit ganz schön bizarr an.
Warum sollte man eigentlich keine Sünden begehen, wenn man dafür nicht in den Himmel kommt und die Hölle meidet? Oder wenn am Ende sowieso jeder in den Himmel kommt? Aus weltlicher Sicht ergeben allerlei religiöse Ge- und Verbote überhaupt keinen Sinn. Ohne Gottes Lohn ist es zum Beispiel zwecklos, am Sabbat keine Stöcke zu sammeln, nicht zu verhüten und jeden Tag Gott für die Speisen zu danken, die man sich bei Aldi gekauft hat. Alle brauchbaren Gebote dagegen, wie jene, dass man nicht stehlen und morden soll, haben den Heiden schon eingeleuchtet, als es das Christentum noch gar nicht gab.
Alleine aufgrund dieser schmerzhaften Unvernunft ist auch der moderate Glaube durchaus schädlich. Ferner trifft der Vorwurf von Sam Harris zu: Moderate Gläubige lehren, dass der Glaube etwas Gutes sei. So schützen und fördern sie Fundamentalisten. Würden sie der Gesellschaft einen solchen Unsinn nicht einreden, hätten es Fundamentalisten erheblich schwerer, Anhänger zu gewinnen. Tatsächlich trägt das wirklich aufgeklärte Christentum einen anderen Namen: Atheismus.
Kauf mich
Die Religion wurde schon immer vermarktet. Der Vatikan betreibt eine eigene Fluglinie, nimmt erfolgreich am Aktienhandel teil – so geschickt, dass die aktuelle Finanzkrise praktisch an ihm vorbei gegangen ist –, und verkauft „Devotionalien“, also Rosenkränze, Marien-Figuren, Gebetsbücher und das berüchtigte Glaubenspaket Grundausstattung. „Devotionalien“ könnte man entsprechend mit „Hingeberlein“ übersetzen, was ihrem Wesen auch gut entspricht.
Obwohl Kuschelatheisten bestreiten, dass sie derart materialistische Gedanken in ihren spirituellen Gehirnen tragen, sind sie trotzdem der Meinung, dass man den Atheismus gut vermarkten muss. Dies gelänge am besten, wenn man gar nicht über ihn reden würde. Ansonsten stünde man noch in der Gefahr, zu „missionieren“.
Wenn es nun darum ginge, wie man den Atheismus auf keinen Fall vermarktet, und darum geht es schließlich, dann werden sofort die flotten Werbesprüche und populär geschriebenen Bücher von Michael Schmidt-Salomon genannt. Sein Kinderbuch sei „zu platt“ (andere Kinderbücher befinden sich, wie jeder weiß, mindestens auf dem Niveau von T.S. Eliot), sein Manifest zu polemisch („imaginäres Alphamännchen“? – welch eine Gottlosigkeit!), und Sätze wie „Heidenspaß statt Höllenqual!“ mag der Kuschler in Bordellen, nicht in Büchern sehen.
Das Rezept des weichgespülten Atheismus lautet also: Ich tue alles, um nichts zu erreichen. Wer es wagt, seinen Job als Aufklärer ernst zu nehmen und so zu reden, dass ihn der Durchschnittsmensch versteht, der wird aus dem elitären Kuschlerclub ausgeschlossen.
Angriff der Gutmenschen
Hütet euch vor Menschen, die nur euer Bestes wollen. Das ist Konsumentenhinweis Nr. 1 für die Weltanschauungs-Wahl. Dein Bestes, das will in Wahrheit nämlich nur einer: Du selbst.
Doch ist das genau die Herangehensweise der Kuschelatheisten. Sie fordern, dass man mit Gläubigen nicht spricht wie mit denkenden Menschen, sondern wie mit kleinen Kindern: „Wir wollen doch nur dein Bestes, Junge!“
Die Neuen Atheisten dagegen tun genau das nicht, was man ihnen oft vorwirft: Sie sehen auf Gläubige nicht herab, sondern behandeln sie wie selbstbestimmte und vernunftbegabte Wesen, die in der Lage sind, zu denken und ihre Meinung gegebenenfalls zu ändern. Sie behandeln Gläubige nicht wie kleine Kinder, denen man mit Zuckerbrot begegnet, wenn man möchte, dass sie zeitig ins Bett gehen. Stattdessen sagen sie laut und deutlich, was sie denken, was sie vom Glauben halten und wie ihre Alternative aussieht.
Ein Gläubiger kann das Angebot nun annehmen oder eben nicht. Auf jeden Fall ist er für die Neuen Atheisten ein aufrechtgehender Mensch und keine unverständige Heulsuse, deren Glaube man nicht kritisieren darf, weil sie sonst Drohbriefe verschickt. Zugegeben: Das Selbstbild der Gläubigen weicht häufig von der hohen Meinung, welche die Neuen Atheisten von ihnen haben, ab.
Es ist unsinnvoll, Religiösen alle Vernunftfähigkeit absprechen und sie von oben herab zu behandeln. Das tun bereits ihre Priester und Päpste. Man darf von ihnen sehr wohl verlangen, dass sie eine abweichende Meinung akzeptieren.
Gib mir keine Namen
Wie sollen sich Atheisten nennen? Agnostiker, Naturalisten, Skeptiker, Brights? Ganz einfach: Das muss jeder selbst entscheiden. „Atheismus“ hat den Nachteil, von Theologen über Jahrtausende als Schimpfwort missbraucht worden zu sein. Das ist gleichzeitig der Vorteil. „Naturalist“ ist ein präziserer Begriff. Schließlich glauben Atheisten in der Regel an gar nichts Übernatürliches, Gott ist nur ein Beispiel darunter. „Agnostiker“ klingt weniger dogmatisch als „Atheist“. Doch auch Atheisten würden echte Gottesbeweise anerkennen. Es ist nur sehr unwahrscheinlich, dass noch welche gefunden werden.
Außerdem sind Agnostiker praktische Atheisten, „nur ohne Eier“, wie Stephen Colbert es ausdrückt. „Skeptiker“ ist ziemlich unscharf, schließlich gibt es auch pyrrhonische Skeptiker, die sämtliche Erkenntnis für unmöglich halten. Und „Bright“ wurde so lange von den Medien mit Arroganz in Verbindung gebracht, dass es kaum noch davon zu lösen ist.
Alles in allem sind Selbstbezeichnungen Geschmackssache. Gläubigen ist es ganz egal, wer für sie keine Moral hat, ob nun Atheisten oder Naturalisten. Man kann sich nennen, wie man will. Hauptsache man schämt sich nicht für seine weltanschauliche Haltung und fühlt sich anderen unterlegen, nur weil man die Gottesbeweise nicht überzeugend findet. Und man sollte nicht so tun, als wären Vernunft und Glauben miteinander vereinbar, wenn sie das gar nicht sind.
Es kann nur einen geben?
Hier hätte meine kleine Reihe über Leute, die nicht genügend nicht an Gott glauben, eigentlich enden sollen. Aufgrund der teils fiesen Kritik, laut der ich „polarisieren, missionieren und die Reihen schließen“ wolle – als ob es in der säkularen Szene irgenwelche Reihen gäbe, die man auch nur im entferntesten schließen könnte –, muss ich diese antitheistische Säuberung leider um einen dritten Teil erweitern, damit auch niemand zu kurz kommt. Dafür gibt es nächste Woche als Ausgleich einen kleinen Text von Sam Harris, der eine Anleitung zum Gottesglauben enthält.
Was den Missionierungsvorwurf angeht, so hieß es bereits in Teil eins, dass Aufklärer nicht missionieren, sondern ent-missionieren. Sie führen den Menschen zum natürlichen, ungläubigen Urzustand zurück. Dann können sie nochmal anfangen und diesmal ihr Gehirn benutzen, ohne dass ihnen Eltern und Priester ihre komischen Ideen eintrichtern. Würde ich missionieren wollen, könnte ich nicht viel anbieten. Bei uns gibt es kein Paradies und keine 72 Jungfrauen. Wir können nur einen realistischen Zugang zu dieser Welt offerieren, der besser dazu geeignet ist, unsere Probleme im Diesseits zu lösen. Außerdem haben wir 73 Jungfrauen. Das ist eine mehr.
Und die Benennung von Polen ist nicht Polarisierung. Ich sage nur, dass Nord- und Südpol existieren und dass es am Südpol langweilig ist. Tun wir nicht so, als wäre das anders.
Andreas Müller
Die Neuen Atheisten
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