Ein jahrelanger Kampf um die administrativen und ideologischen Hoheitsrechte zwischen
den katholischen und den neutral-staatlichen Hochschulen Antwerpens war der Gründung der 2003 zusammengelegten Universität Antwerpen vorausgegangen. Im Ergebnis entstand eine Universität, die den sogenannten „aktiven Pluralismus“ zu ihrer weltanschaulichen Grundlage erhob. Um diese zu manifestieren, wurde das Peter-Gillis-Zentrum eingerichtet, das sich in den letzten Jahren mit dem Aufbau des neuen Lehrfachs „Weltanschauung“ befasst hat, welches für alle 3-Jahres-Bachelor-Studiengänge obligatorisch ist. In einem Gespräch mit der univeritätseigenen Zeitschrift „Alfabeta“ berichten die Dozenten Patrick Loobuyck und Walter Van Herck über die ersten Erfahrungen mit dem neuen Fach, das seit einem Jahr gelehrt wird.
Nach Auffassung beider Dozenten sei „aktiver Pluralismus“ keine eigene Lebensanschauung, sondern eine bestimmte Haltung gegenüber den bestehenden, unterschiedlichen Lebensanschauungen. Wichtig sei, dass diese ernst genommen werden, da sie überall in der Gesellschaft ihre Rolle spielten und nicht nur zur Privatsphäre gehörten. So sollten sich auch an einer Universität Studenten und Akademiker weltanschaulich profilieren können. Darin liege der Unterschied zum „passiven Pluralismus“. Letzterer sei lediglich eine Toleranz, die auf der Privatisierung der Weltanschauung basiere, bei der eine Konfrontation aus Angst vor Konflikten vermieden werde und kein Dialog entstehe.
Mit einem „aktiven Pluralismus“ könne man hingegen ernste Probleme ansprechen, ohne unbedingt einen Konsens erreichen zu müssen. Dabei könne die eigene Überzeugung gestärkt werden, da auch die Schwachstellen der eigenen Überzeugung aufgedeckt würden. So betrachtet, sei aktiver Pluralismus kein Rezept für eine weltanschauliche „Einheitswurst“, sondern eher ein Instrument, durch das Menschen lernen, mit ihren unterschiedlichen Auffassungen besser zusammenzuleben. Das Recht auf eigene Meinung sei schließlich ein wesentliches Kennzeichen des westlichen demokratischen Systems.
Natürlich ist den interviewten Dozenten der Bedeutungsverlust bekannt, welchen die Weltanschauungen in den letzen Jahrzehnten erfahren haben. Die meisten Flamen sind nicht mehr gläubig oder haben sich einen vagen „Etwas-ismus“ zu eigen gemacht. In der säkularisierten Gesellschaft sei weltanschauliche Gleichgültigkeit zwar sehr verbreitet, dennoch spiele die Weltanschauung nach wie vor eine große Rolle bei Diskussionen zu bestimmten Themen wie Euthanasie, Abortus oder Homoehen. Walter Van Herck meint dazu, dass man sich „über solche Themen nur eine fundierte Meinung bilden kann, wenn man zuerst eine Antwort auf so grundsätzliche weltanschauliche Fragen gefunden hat wie: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Was heißt Glück für einen Menschen? Wodurch zeichnet sich ein menschwürdiges Leben aus?“ Passiver Pluralismus beantworte aber immer nur die vorletzte, nicht die letzte, grundlegende Frage.
Das im vorigen Jahr neu eingeführte Lehrfach „Weltanschauung“ solle solche grundlegenden Fragen behandeln und sei obligatorischer Bestandteil des Lehrprogramms für alle Studenten im dritten Studienjahr der Universität. Der Lehrplan enthalte 3 Module mit je 10 Stunden. Modul A biete eine Einführung, Modul B vertiefe bestimmte Fragestellungen und Modul C zeige thematische Anwendungsfelder auf.
Im Studienjahr 2006/07 wurden im Modul A die allgemeinen Grundlagen der wichtigsten Weltanschauungen behandelt: Judentum, Christentum, Islam, freigeistiger Humanismus und fernöstliche Weltanschauungen. Im laufenden Studienjahr wurden die Themen aber modifiziert. Die Studenten hatten kritisiert, dass allgemeine Grundlagen der Weltanschauung bereits in der Sekundarstufe der Schulen behandelt würden und diese Thematik auf wenig Interesse gestoßen sei. Daher werde jetzt der Begriff des „aktiven Pluralismus“ ausführlicher behandelt, dem sich Kurse zu Themen anschließen wie: das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Weltanschauung und Sinngebung oder auch verschiedene Aspekte dieser Problematik: der narrative, ethische, rituelle, künstlerische usw. Abschließend erhalten die Studenten dann einen historischen Überblick über die westlichen Weltanschauungen innerhalb der letzten 4000 Jahre. In einem der Kurse gehe es beispielsweise um die Geschichte der religiösen Toleranz und Intoleranz des Christentums gegenüber Minderheiten der Gesellschaft.
Nach dem gemeinsam absolvierten Modul A können die Studenten bei Modul B eine oder mehrere Weltanschauungen zur Vertiefung auswählen. Im Modul C könne letztlich aus solchen Themen wie Weltanschauung und Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur gewählt werden, also aus Fragestellungen, die nicht an eine bestimmte Weltanschauung gebunden seien. Alle 4 Kurse der Module B und C werden von renommierten Gastdozenten gehalten. So werde in diesem Jahr der Philosoph Jean Paul Van Bendegem, Professor der laizistischen Freien Universität Brüssel (VUB), den Teil „Freigeistiger Humanismus“ bestreiten, während im Modul C renommierte Naturwissenschaftler und Künstler Vorlesungen halten werden.
Diese Vielfalt sei für die Studenten sehr bereichernd, für die Organisation hingegen eine echte Herausforderung. Denn im laufenden Studienjahr gelte das Fach „Weltanschauung“ etwa für 1500 Studenten als obligatorische Lehrveranstaltung, die auf zwei Universitätsgeländen organisiert werden müsse – zum einen für die Studenten der geisteswissenschaftlichen Studiengänge, zum anderen für die angehenden Naturwissenschaftler und Mediziner. Aufgrund der vielen Studenten in den Geistes- und Sozialwissenschaften müssten deren Kurse nochmals für verschiedene Fakultäten eingeteilt werden.
Ein Nachteil der heutigen Struktur bestehe in der großen Zahl der Hörer in den Auditorien, sodass nur eine begrenzte Kommunikation zwischen Studenten und Lehrkräften möglich sei. Positiv zu verzeichnen sei das große Interesse von Studenten der Medizin und der Naturwissenschaften. Dagegen halte sich die Begeisterung einiger Professoren in Grenzen, da ihnen das neue Fach Stundenvolumen von ihren fachbezogenen Vorlesungen wegnehme. Andererseits wirke dieses neue Lehrangebot einer fortschreitenden fachspezifischen Beschränkung entgegen und hole wieder ein Stück des ursprünglichen Ideals der „Universitas“ zurück.
In diesem Sinne werde ebenfalls angestrebt, das Bildungsziel des neuen Fachs auch unter der Professorenschaft durch Diskussionsforen zu vermitteln und man überlege, wie „Weltanschauung“ in die Wirkung der Universität als Ganzes eingebaut werden könne. Zu dieser Problematik sei ein Buch erschienen, das mit Beiträgen von 25 flämischen und niederländischen Akademikern die Frage „Welche Universität wollen wir (nicht)?“ aufwerfe. Darüber hinaus plane man jährliche Pieter-Gillis-Vorlesungen, z. B. mit dem Schriftsteller Amos Oz, und eigene wissenschaftliche Forschungsprojekte. Ein erstes laufe bereits unter der Bezeichnung „Trennung zwischen Kirche und Staat im Wandel – eine Suche nach einem adäquaten politisch-philosophischen Denkrahmen“.
Rudy Mondelaers
Quelle: „Alfabeta“, Nr. 74, Dezember 2007, Universität Antwerpen, S.10-13