Nietzsche reloaded?

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Fotos: Dudo Erny

ZÜRICH. (hpd) Auf Einladung der Freidenker-Vereinigung der Schweiz (FVS) fand am vergangenen Mittwoch im Volkshaus Zürich eine Lesung mit Dr. Michael Schmidt-Salomon statt. Der Autor weilte für ein Interview mit dem Schweizer Fernsehen in der Zwingli-Stadt. Trotz kurzfristiger Ankündigung fand sich am lauen Spätsommerabend ein zahlreiches, interessiertes Publikum ein.

„Jenseits von Gut und Böse“ ist dieser Tage im Pendo Verlag erschienen. In seiner Vorstellung erinnerte Andreas Kyriacou, Präsident der Zürcher Freidenker, an die letztjährigen Kontroversen um das „Ferkelbuch“. Dass das aktuelle Buch die religiös-theologisch dominierte Wertedebatte nicht nur ergänzt, sondern auf den Kopf stellt macht schon der Untertitel klar. „Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“: Michael Schmidt-Salomon eröffnete seine Lesung provokativ damit, den Menschen die Willensfreiheit abzusprechen.

Schicksal vs. Handlungsfreiheit

Aufgrund der neusten Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung müsse der Mensch als determiniertes Wesen betrachtet werden. Obwohl mit dem freien Willen auch das Konzept von Schuld und Sühne fällt, entlässt Michael Schmidt-Salomon niemanden in die Verantwortungslosigkeit. Das Bekenntnis zum Humanismus und den universellen Menschenrechten geht einher mit der Verpflichtung, für eine faire Welt einzustehen.

Zuvor nimmt uns der Autor auf eine lange Reise mit. Die Idee des Bösen wird im Nationalsozialismus mit unvorstellbarer Konsequenz zu Ende gedacht. Anhand der Biographie eines Adolf Eichmanns sehen wir die ganze „Banalität des Bösen“, dessen „Unterwerfungssehnsucht“ ihn zum Spielball fiktiver „Mächte der Finsternis“ werden ließ. Das Kapitel birgt eine besondere Sprengkraft, denn es widerstrebt vielen, die ungeheuerlichen Taten eines Adolf Hitlers oder Josef Stalin zu verstehen und den Spagat zwischen objektiver Verantwortung und subjektivem Unschuldsempfinden zu vollbringen.

Wohl und Weh

Gemäß Michael Schmidt-Salomon bleibt dem Mensch die Freiheit des Tuns. Ist die Gegenwart auch durch die Vergangenheit vorbestimmt, verändern die Entscheidungen, die wir im Hier und Jetzt treffen, stets den Fluss der Ereignisse. Das Prinzip Eigennutz steht dabei nicht im Widerspruch mit dem Altruismus: durch Empathie machen wir uns das Leid des andern zueigen und entwickeln somit ein fast egoistisches Bedürfnis zu helfen. Gerade die Abkehr vom „Moralismus-Wahn“ erlaubt uns ein tieferes Verständnis für nur vordergründig paradoxe Handlungen wie Großzügigkeit gegenüber dem Nächsten und Gewalt und Unbarmherzigkeit gegenüber dem Fremden – ein Extrembeispiel dafür ist der Al-Qaida-Führer Osama Bin Laden.

Nachdem das „Ich“ als reine Konstruktion des Hirnes entthront wird, unsere Persönlichkeit als Ausdruck zwar komplexer, aber rein neuronaler Prozesse, stirbt auch der jahrhundertealte Dualismus, die unheilvolle Trennung von Leib und Geist, Seele und Körper, Mensch und Tier. Die „Freudsche Kränkung“, wonach wir nicht Herr im eigenen Haus sind, befreit uns vom Anspruch, die vollkommene Krone der Schöpfung zu sein.

Neue Leichtigkeit des Seins

Auch wenn mit dem Bösen die Aussicht auf „Erlösung“ verschwindet, unser Dasein weiterhin von Widrigkeiten, Leid, Schmerz geprägt ist, bleibt uns dennoch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn wir uns als Produkt von Zufall und Notwendigkeit begreifen, ist kein Platz für Überheblichkeit, dafür schärft sich der Blick für die eklatanten Ungerechtigkeiten auf dem Planeten. Erst die Lektion der eigenen Schwäche ermöglicht jene vorbehaltslose Akzeptanz, die uns ermöglicht, über uns herauszuwachsen. Dazu Michael Schmidt-Salomon: „Erst wenn wir erkennen, dass wir nur jene sein können, die wir sein müssen, können wir jene werden, die wir sein können“. Wenn Glück das Bewusstsein des Wachsens ist verstehen wir Evas Aufbegehren gegen die Erstarrung in einem ewig gleichen Paradies. Ohne Angst vor dem Versagen, die im Moralbegriff innewohnt, sind wir zur Veränderung fähig.

Zen oder der Geschmack für das Unendliche

Lange bevor uns die Hirnforschung die Belege dafür lieferte, dass nicht wir denken sondern „es vielmehr in uns denkt“, haben östliche Philosophien die Differenz von Subjekt/Objekt als Illusion entlarvt. Bestärkt durch ein persönliches Flow-Erlebnis, jenem „ozeanischen Gefühl“ der Verschmelzung mit dem Weltganzen, unternimmt Michael Schmidt-Salomon den Versuch einer Synthese zwischen dem westlichen, analytisch-rationalen Ansatz und östlicher Transzendenz in einer Spiritualität frei von inhumanen, fatalistischen Denkmustern.

Im Anschluss an die Lesung stellte sich der Autor den Fragen aus dem Saal. Sie kreisten zunächst um die zentrale Frage, ob der radikale Determinismus nicht das Ende der Gestaltungsfreiheit bedeute. Michael Schmidt-Salomon verwies diesbezüglich auf das „kreative Moment“, den Unterschied zwischen der Unvorhersehbarkeit des „Lebendigen“ und dem immer identischen Verhalten toter Materie. Besonders kritisch wurde die Einordnung Adolf Eichmanns als „autoritärer Charakter“ (Erich Fromm) kommentiert, nicht zuletzt aufgrund dessen als unentschuldbar empfundenen Reuelosigkeit. Michael Schmidt-Salomons engagierte Argumentation verdeutlichte, dass Kritik tatsächlich ein Geschenk sein kann. Das debattierfreudige Publikum dankte es ihm mit einem herzhaften Applaus.

Grazia Giuli Annen, FVS Zentralschweiz