Veranstaltungsbericht

"Das klerikale Kartell" – Diskussion in Schwerin

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Aktuell reist Helmut Ortner mit seinem neuen Buch "Das klerikale Kartell. Warum die Trennung von Staat und Kirche überfällig ist" auf einer Lesetour durch Deutschland. Auf Einladung von Säkulares MV war er auch in Schwerin zu Gast – dem wohl kirchenfernsten Ort seiner gesamten Reise. Gerhard Lein moderierte die Veranstaltung und schildert seine Eindrücke im hpd.

Helmut Ortner hat sich ein wahrhaft umfassendes Programm vorgenommen. Inhaltlich geht es in seinem neuen Buch "Das klerikale Kartell" um nichts weniger als die Frage "Warum die Trennung von Staat und Kirche überfällig ist", und er fächert die gesamte Bandbreite der "Trennungsthemen" vom Arbeitsrecht bis zu den Subventionen auf. Logistisch führt ihn die Lesetour zum Buch nicht minder umfassend in 17 Städte. Der Auftakt war am 12. März in München. Nach Auftritten in gut einem halben Dutzend weiterer Städte war er am 8. April zu Gast in Schwerin. Es ist ein besonderer Ort auf der Lesetour – denn es ist der wohl kirchenfernste.

Kirchenferne ist in MV normal, woanders besonders

Kirchenferne ist in Mecklenburg-Vorpommern (MV) normal. Das Land MV liegt bundesweit (mit Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen) an der Spitze der Bundesländer mit dem höchsten Anteil an Konfessionsfreien. Rund 84 Prozent der Bevölkerung sind konfessionsfrei oder gehören kleinen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an. Von der Reichsgründung im Jahr 1871 bis heute ist der Anteil der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder von damals 99 Prozent auf heute 16 Prozent der Bevölkerung gesunken, wie jüngst eine fowid-Analyse verdeutlichte. Allein in den letzten drei Jahrzehnten seit der Deutschen Einheit ist der Bevölkerungsanteil der Kirchenmitglieder auf niedrigem Niveau nochmal um knapp 40 Prozent gesunken. Dennoch ist zu beobachten, dass das Land MV den Kirchen auch heute noch viele Sonderrechte und Subventionen gewährt und sie teilweise sogar anwachsen lässt, statt sie abzubauen. Ein Bewusstsein dafür, dass konsequentes Handeln von Politik und Verwaltung notwendig ist, um das Staat-Kirchen-Verhältnis den gesellschaftlichen Realitäten anzupassen, scheint ausbaufähig zu sein. Um so begrüßenswerter war es, dass Helmut Ortner nach Schwerin kam.

Einladung zum Gespräch von Säkulares MV

Der neue Gesprächskreis Säkulares MV hatte für die Lesung in das repräsentative Kulturforum "Schleswig-Holstein-Haus" der Landeshauptstadt Schwerin eingeladen. Bei dem Gebäude handelt es sich um ein wunderbar restauriertes Palais auf einem ehemaligen Bischofshof in zentraler Lage gegenüber dem Justizministerium.

Der Autor begann die Lesung mit der im Buch ebenfalls vorangestellten Erläuterung zum Begriff "Kartell". Der Begriff gelte in der Wirtschaft als Bezeichnung für Absprachen zwischen zwei oder mehr Wettbewerbern zur Abstimmung ihres Verhaltens auf einem Markt. Denn noch immer erhalten die Kirchen Staatsfinanzierung und einseitige Privilegien, beanspruchen die Kirchen Mitsprache bei zahlreichen Gesetzesvorhaben, möchten sich trotz Missbrauchssystem als moralische Instanz wahrgenommen wissen und darüber mitreden, was erlaubt ist und was nicht. Ortners Kernbotschaft: "Das klerikale Kartell untergräbt unsere Demokratie."

Wie wenig die Vorgaben des Grundgesetzes für einen eigentlich religiös neutralen Staat umgesetzt worden sind, hatte Prof. Armin Pfahl-Traughber bereits in einer Buchbesprechung im hpd herausgestellt. In Schwerin wählte Ortner für die Lesung das Kapitel "Herr Steinmeier, der Garten Eden und der Kirchentag" aus. Darin schildert er eindrücklich, wie der deutsche Bundespräsident gerne als bibelfester Christ spricht, obwohl er in seinem Amt zur Neutralität verpflichtet ist. Das Kapitel handelt von Steinmeiers Auftritten bei der Bundesgartenschau und Kirchentagen, und befasst sich im Kern mit harten Fakten zum Kirchenlobbyismus wie der öffentlichen Subventionierung von kirchlichen Großveranstaltungen und von erfolgreichen Gegenbewegungen wie der Kunstaktion Das 11. Gebot – "Du sollst Deinen Kirchentag selbst bezahlen!".

Für den Veranstalter Säkulares MV sagte Lutz Neumann in einer kurzen Begrüßungsansprache: "Was wir diskutieren, ist keine Kampfansage an die Kirchen und schon gar nicht an gläubige Christen." In den Kirchen in MV, wie der evangelischen Nordkirche und den katholischen Erzbistümern in Hamburg und Berlin, gebe es viele Menschen, die die Dinge in unserem Staat säkular geregelt sehen wollten. Auch sie wollten in einem Land leben, in dem niemand aufgrund seines Glaubens oder Unglaubens privilegiert oder diskriminiert würde. Der Gesprächskreis Säkulares MV richte sich jedoch nicht an die Kirchen, sondern vielmehr an die Politik. Denn es seien die Abgeordneten im Landtag, die sich für Reformen und eine Modernisierung von heutzutage unhaltbaren Gesetzen, Vorschriften und den Abbau der Steuertransfers an Kirchen und Religionsgemeinschaften einsetzen müssten. Diese säkulare Haltung sei nicht nur in Bezug auf die Kirchen wichtig, sondern um sich auch jenseits der Kirchen den neuen Ansprüchen anderer Religionsgruppen und ihrer Lobbyvertreter entgegenzustellen. Wer nicht wolle, dass Islamverbände und Moscheegemeinden in die Lage versetzt werden, religiöse Vorrechte für Propaganda-Zwecke ausnutzen zu können und vor Gericht für sich selbst einzuklagen, dürfe heute all diese Sonderrechte und Subventionen auch den christlichen Kirchen nicht mehr einräumen. Der säkulare, religiös-weltanschaulich neutrale Staat des Grundgesetzes sei insgesamt der beste Schutz gegen alle Arten von übergriffigen klerikalen Kartellen.

Die Lesetour führt Helmut Ortner nach einer Pause fort in Bremen (2. September), Köln (3. September), Düsseldorf (4. September) und weiteren Orten (siehe hpd-Terminkalender).

Wie wichtig der Hinweis auf diese Zusammenhänge ist, wurde deutlich, als Ortner später in der Diskussion erwähnte, dass das letzte seiner Buchkapitel ihm die heftigsten Reaktionen, einschließlich Sachbeschädigung an seinem Wohnsitz, beschert habe. Es trägt den Titel "Allah, der Staat, die Linke und die Aufklärung" und befasst sich mit Islamismus, seiner staatlichen Finanzierung, der Islamkonferenz der Bundesregierung und den Mechanismen, dass manche Politiker gerne beim Thema Islam "Respekt" und "Toleranz" beschwören, aber gemeinsam mit "islamistischen Gottesmännern" den Islamophobie-Vorwurf erheben, um Probleme zu tabuisieren und Religionskritiker mundtot zu machen.

Mitreißende Lesung, anregende Diskussion

Zu den Höhepunkten der Lesung gehörte zweifellos der mitreißende Vortragsstil von Helmut Ortner und in der Diskussion die Offenheit und das Niveau der Debatte mit dem Schweriner Publikum. Viele Themen wurden angesprochen. Die Sachlichkeit und Fachlichkeit machte die Aufgabe für den Moderator angenehm. Um ein Beispiel aus der Themenvielfalt zu nennen: Eine Teilnehmerin berichtete von der erlebten Gängelung als Geschiedene und Wiederverheiratete unter den Anmaßungen des "klerikalen Kartells". Sie hatte einen neuen Lebenspartner gefunden, der beruflich in der Friedhofsverwaltung eines kirchlichen Trägers tätig war, was ungebetener Weise einige Kirchenobere auf den Plan rief und wegen des kirchlichen Sonderarbeitsrechts empörende Eingriffe in die Privatsphäre des Paares mit sich brachte.

Zur Sprache kamen auch das Nachwort von Ingrid Matthäus-Maier "Staatskirche oder Rechtsstaat?", in dem sie in ihrem unnachahmlichen Stil mit großer Klarheit zwanzig Korrekturen für einen religiös neutralen Staat anmahnt: Ermittlungsmaßnahmen wegen Kindesmissbrauchs, Konkordate und Staatskirchenverträge, Staatsinkasso bei der Kirchensteuer, Steuer- und Gebührenvergünstigungen, kirchliches Arbeitsrecht und weiteres. Dazu gehört auch ein Dauerthema seit über 100 Jahren, in das unter der Ampel-Koalition etwas Bewegung gekommen ist: die Ablösung der Staatsleistungen. Aus Mecklenburg-Vorpommern ist zu berichten, dass es für das Jahr 2024 zu einem neuen Rekordwert dieser Zahlungen kommt. Die "Alimentierung des römisch-katholischen Klerus und des evangelischen Kirchenregiments (u.a.)" steigt auf 15,1 Millionen Euro. Seit der Deutschen Einheit beläuft sich die Summe (nur für MV) auf sage und schreibe 327,9 Millionen Euro. Bundesweit liegt MV auf einem unrühmlichen Spitzenplatz des meisten Steuer-Geldes pro Kopf der Kirchenmitglieder. Es ist ein Thema mit handfesten finanziell konträren Interessen zwischen Zahlern (dem Steuerzahler) und Nehmern (den Kirchenfunktionären). Letztere sind auch in MV nicht untätig. Zu genau diesem Thema hielt im gleichen Saal des Palais nur drei Tage später der kirchliche Cheflobbyist in MV, Prof. Peter Unruh (mit offiziellem Titel: Präsident des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Leiter der Außenstelle Schwerin), einen eigenen Vortrag, um die kirchlichen Vorstellungen zu den millionenschweren Zahlungen an die Kirchen aus dem allgemeinen Steuersäckel in Form der Staatsleistungen zu Gehör zu bringen.

Aus der Ortner-Lesung sind besonders erwähnenswert die teilweise kontroversen, aber immer sachlich geführten Wortwechsel zwischen dem Autor und einem Vertreter der Landesregierung – einem sehr fachkundigen Ministerialbeamten zuständig für "Angelegenheiten der Kirchen und Glaubensgemeinschaften, Staatskirchenrecht" aus dem Landesministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. In den Dialogen des Autors mit dem Schweriner Ministerialbeamten wurde deutlich, wie kompliziert das Geflecht (Ortner sprach durchweg von "Komplizenschaft") zwischen Kirchen und Staat auch in einem der kleineren Bundesländer ist. Es kamen weitere Themen zur Sprache, zum Beispiel der staatliche Umgang mit dem kirchlichen Missbrauchsskandal und einer kürzlich von der evangelischen Kirche vorlegten Studie zum Ausmaß des Missbrauchs und der Vertuschung auch im Nordosten der Republik, die Einrichtung der theologischen Fakultäten bis hin zu den Verhandlungen über Patronatsleistungen für Kirchengebäude. Positiv war zu erkennen, wie sich das Land um eine Entflechtung bemüht. Der Gesprächskreis Säkulares MV erklärte, zu diesen Themen weiter aktiv zu sein und kündigte Debattenimpulse zu anderen Themen wie gleiche Teilhabe von Konfessionsfreien, Subventionsabbau und zur Bedrohungssituation von Atheisten und Ex-Muslimen in Flüchtlingseinrichtungen an.

"Das klerikale Kartell" im Stadtbild mit schönem Ausblick am Pfaffenteich

Zum Abschluss sei hinzugefügt: Schwerin bot ein schönes Stadtbild – in mehrfacher Hinsicht. Während aus anderen Städten der Lesetour in Süddeutschland und Westdeutschland berichtet wird, wie Buchhandlungen, Stadtbibliotheken und Cafés ablehnend auf das Angebot einer Lesung zu "Das klerikale Kartell" reagierten, Plakate mit dem Buchtitel ablehnten und Aushänge beschädigt wurden und verschwanden, gleichzeitig jedoch großes Interesse mit über 100 Teilnehmern bei manchen Lesungen zu verzeichnen war, so präsentierte sich Schwerin unter umgekehrten Vorzeichen. Es gab keine Ablehnungen und Beschädigungen. Es unterstützten nicht nur dezidiert säkulare Mitstreiter und Organisationen wie der örtliche Jugendweihe-Verein (über Jugendweihe Deutschland e.V. Mitglied im Zentralrat der Konfessionsfreien).

Hervorzuheben ist, dass die Schweriner Buchhandlung "Ein guter Tag – Literatur & so", die kürzlich mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet worden war, sich einbrachte und einen Büchertisch mit einem Stapel von Ortner-Büchern anbot. Auch in anderen Buchhandlungen Schwerins, in der Touristen-Information im Rathaus und in mehreren Gaststätten und Cafés wurde wochenlang sichtbar auf die Lesung mit Plakaten hingewiesen und Terminkärtchen ausgelegt. Allerdings war die Resonanz überschaubar und die Veranstaltung hätte mehr als die anwesenden 15 Teilnehmer verdient gehabt. Es scheint, dass in einem derart säkularen gesellschaftlichen Umfeld der vom Buch vermittelte Trennungsaufruf von Staat und Kirche völlig normal ist und das Bewusstsein für all die weiterhin virulenten "Trennungsthemen" nur in einer kleinen Gruppe vorhanden ist. Begriffe wie "klerikal" wirken in dieser säkularen Welt regelrecht fremd und sind erklärungsbedürftig. Ein Indiz: Im kostenlosen Print-Stadtmagazin "Piste" wurde die Veranstaltung zu "Das klerikal Kartell" von der Redaktion als "Das kleine (sic!) Kartell" in die April-Monatsübersicht aufgenommen.

Gerhard Lein und Helmut Ortner 
Gerhard Lein und Helmut Ortner vor dem Wahlkreisbüro von MV-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, an dessen Tür die Lesung mittels Plakat beworben wurde.

Aus meiner Sicht als Gründungsvorstand des Arbeitskreises Säkularität und Humanismus (AKSH) der SPD freute es mich besonders, bei einem kurzen Stadtspaziergang zu sehen, dass auch in der Eingangstür zum Wahlkreisbüro der Landtagsabgeordneten (und Ministerpräsidentin) Manuela Schwesig und der Bundestagsabgeordneten (und Staatsministerin) Reem Alabali-Radovan das Veranstaltungsplakat mit dem markigen Buchcover angebracht war. Wenn ein bekanntermaßen evangelischer MdL und ein katholischer MdB in Schwerin diese Offenheit zu einem durchaus in der Sache scharf formulierten Buchtitel zeigen, strahlt dies vielleicht – so keimte in mir der Gedanke – auch positiv auf das politische Miteinander und das Verhalten mancher Politiker und Politikerinnen in anderen Landeshauptstädten im Westen und Süden Deutschlands aus.

Die Diskussionen an diesem bemerkenswerten Lesetour-Abend setzten sich mit dem Autor und einigen Gästen in zwangloser Atmosphäre bei Speis und Trank im Restaurant Friedrichs fort – unvergleichlich schön gelegen mit Ausblick auf den alten Pfaffenteich.

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