„Die Erfolglosigkeit des Zen“

FRANKFURT. (hpd) Zur Frankfurter Buchmesse erscheint im Alibri Verlag Mythos Zen von Alfred Binder. Das Buch behandelt den Zen-Buddhismus bzw. seine Meditationspraxis unter philosophischen, ethischen, historischen und psychologischen Gesichtspunkten.

Binder nimmt in seinem Buch diese außereuropäische Religion oder Philosophie, die seit Jahrzehnten auch in christliche wie sogar in säkulare Kreise hinein strahlt, in Augenschein und gelangt zu einem ernüchternden Urteil. hpd sprach mit dem Autor.

hpd: Sehr geehrter Herr Binder, wie kommt jemand, der seit 30 Jahren Zen praktiziert, darauf, ein doch sehr kritisches Buch über Zen zu verfassen?

Alfred Binder: Ich schreibe mir eine philosophische Einstellung zu, und vielleicht habe ich wegen ihr nie den kritischen Blick für Zen ganz verloren. Unter einer philosophischen Einstellung verstehe ich das Bedürfnis, alles zu hinterfragen, was den meisten Leuten als selbstverständlich gilt. So habe ich mich immer gefragt, was mache ich da eigentlich, wenn ich in Zazen sitze und versuche, mich auf meinen Atem zu konzentrieren? Ist das nicht irgendwie verrückt? Was genau soll das bringen und wie soll das geschehen?

Im Laufe der Jahre der Zen-Übung stellte ich fest, dass die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis kaum geringer wurde. Die Diskrepanz zwischen den Versprechen der Zen-Literatur und meiner psychischen Realität. Weder wuchs durch Zen mein Verständnis der Welt noch verbesserte sich meine psychische Grundbefindlichkeit. Der Buddhismus und insbesondere Zen suggerieren ja sogar, dass man dahin kommen kann psychisch unverwundbar zu werden. Ein Buddha soll ein Wesen sein, welches genau über diese Eigenschaft verfügt. Aber auch nach vielen Jahren der Übung war ich davon genau so weit entfernt wie am Anfang. Und ich hatte den Eindruck, es ging nicht nur mir so, sondern auch anderen Übenden, auch den sogenannten Meistern. Deshalb gibt es in meinem Buch einen Abschnitt über die „Erfolglosigkeit des Zen“.

Die Diskrepanz zwischen den Versprechen und der Realität des Zen ist für jeden ehrlichen Beobachter unübersehbar. Nachdem ich mich intensiv mit der Zen-Philosophie und der Zen-Praxis beschäftigt habe, nachdem ich versucht habe mir klar zu machen, was die meist eher wolkigen Zen-Texte konkret bedeuten würden, verstehe ich, warum Zen enttäuschen muss, warum es unmöglich ist, mit Zen die „wahre Natur des Seins“ zu verstehen und die „Geistesgifte“ Gier, Zorn und Neid zu überwinden, geschweige psychisch unverwundbar zu werden.

hpd: Sie unterscheiden zwischen einem metaphysisch angehauchten und einem nicht-metaphysischen Zen. Können Sie die Unterschiede zwischen beiden Positionen kurz umreißen?

Binder: Zen hat eine rein metaphysische Weltanschauung, nicht nur eine metaphysisch angehauchte. Unter Metaphysik verstehe ich in meinem Buch einen religiösen Theorierahmen. Ein metaphysisches Weltbild ist danach eines, welches eine transzendente, jenseitige Wirklichkeit behauptet und unsere Welt aus der Perspektive dieser Wirklichkeit (Gott, Geist, Buddhanatur etc.) erklären will. Eine nicht-metaphysische Position ist logischerweise ein Weltbild, welches nicht mit einer transzendenten Wirklichkeit rechnet und damit alle Phänomene dieser Welt auf natürliche Weise zu erklären versucht.

hpd: Ihre Position ist die nicht-metaphysische. Warum?

Binder: Ich glaube einfach nicht, dass es eine transzendente Wirklichkeit gibt. Daran können auch die „göttlichen“ Momente, die man während der Meditation erlebt, nichts ändern.

hpd: Warum sollte Metaphysik schlecht sein? Mystiker behaupten schließlich, alle Probleme unseres „irdischen Jammertals“ überwinden zu können.

Binder: Es geht nicht um die Frage, ob Metaphysik schlecht oder gut ist, sondern um die Frage, ob sie wahr ist. Mein Buch kreist in einem gewissen Sinn um diese Frage. Ich versuche zu zeigen, dass die traditionelle Philosophie des Zen nicht stimmen kann und dass die Phänomene, die für eine transzendente Wirklichkeit sprechen, auf natürliche Weise erklärbar sind, insbesondere das Bewusstsein und unsere Erkenntnisfähigkeit. Man kann allerdings prinzipiell nicht beweisen, dass es keine transzendente Wirklichkeit gibt, keinen Geist, Gott, keine Buddhanatur etc. Aus dem einfachen Grund, weil man von keinem Ding beweisen kann, dass es nicht existiert. Man kann die Existenz oder Nicht-Existenz von etwas immer nur mehr oder weniger plausibel machen.

Die MystikerInnen hatten gewiss nicht das irdische Jammertal überwunden. Im Grunde waren es sehr bedauernswerte Geschöpfe. Die meisten, wenn nicht alle, wurden in ihrer Kindheit auf das Schwerste misshandelt und ihr ganzes religiöses Leben war ein verzweifelter Versuch der Selbsttherapie, der allerdings immer misslang. Die religiösen Mittel sind einfach die falschen. Auf den traumatischen Aspekt der Mystik gehe ich in dem Buch besonders ein. Ich verdanke ihn einer, leider sehr unbekannten, Studie des Psychohistorikers Ralph Frenken.

hpd: Als die größte Verfehlung des Zen nennen und schildern Sie dessen Verwicklung in den japanischen Faschismus. Was war geschehen, wie konnte es dazu kommen? Wie populär ist oder war eigentlich Zen in Japan?

Binder: Für diese Verfehlung gibt es viele Gründe. Hier sei nur einer genannt. Der Militarismus des japanischen Zen, dessen Ideologie sich am prägnantesten in der Samurai-Ideologie wiederfindet. Die Samurai-Ideologie ist eine absolute Gehorsamsideologie. Gehorsam war auch die wichtigste Tugend eines Zen-Schülers. Zen-Klöster waren im Grunde Disziplinierungsanstalten, welche, bewusst oder unbewusst, autoritäre Charaktere formten. Diese finden bekanntlich ihre größte Befriedigung im Befehlen und/oder im Gehorchen. Die faschistische Ideologie fiel also in Zen-Klöstern auf fruchtbaren Boden. Es sagt viel über die Qualität der traditionellen Zen-Schulung aus, dass sich „vollerleuchtete“ Meister mit größtem Eifer hinter den faschistischen Expansionskrieg des japanischen Kaiserhauses gestellt haben, die Mitleidsethik Buddhas in eine Hassideologie verkehrten, ausdrücklich die Demokratie verurteilten und zum Völkermord aufriefen.

Zur Popularität des Zen in Japan kann ich kein kompetentes Urteil abgeben. Ich habe den Eindruck, dass es in Japan überhaupt keine öffentliche Rolle spielt. Die Bekanntheit der Zen-Sekten dürfte die der christlichen Orden in Deutschland nicht übersteigen. Der Buddhismus an sich ist in Japan zu einer reinen Beerdigungsreligion herabgesunken. Ich vermute auch, Zen hat im Japan des 20. Jahrhunderts nie die Popularität erreicht, die es im Westen erreicht hatte. Diese Popularität verdankt Zen paradoxerweise den Anstrengungen nationalistisch gesinnter japanischer Intellektuelle, allen voran D.T. Suzuki. Sie wollten die Demütigung Japans lindern, dem Westen unterlegen zu sein, ihn auf allen Gebieten kopieren zu müssen, ob dem kulturellen, ökonomischen oder politischen. Um die Überlegenheit des japanischen Geistes zu demonstrieren blieb ihnen sozusagen nur die Religion. Dass es gerade die Zen-Religion war, hat wahrscheinlich mit biografischen Zufällen der Protagonisten zu tun.

 

hpd: Zen-Buddhisten sind also auch keine „besseren Menschen“. Apropos „Zen-Buddhismus“ – ist Zen oder muss Zen eine Religion sein?

Binder: Als ich mich mit Zen zu beschäftigen begann, in den 70er Jahren, glaubte ich tatsächlich, es sei keine Religion, so versuchte es sich damals auch zu verkaufen. Es hieß, für die Zen-Übung sei es gleichgültig ob man Buddhist, Christ oder Kommunist sei. Was in einem bestimmten Sinn natürlich auch stimmt. Aber die Behauptung, Zen sei keine Religion, war und ist grundfalsch.

Im Zen gibt es all die Dinge, die eine Religion ausmachen: Als erstes natürlich das, was ein Weltbild zu einem religiösen macht: der schon genannte Glaube an eine transzendente Wirklichkeit. Es gibt im Zen auch Götter (Boddhisattvas), denen geopfert wird, es gibt Priester, Rituale, exzessive Niederwerfungen, es gibt Gebete, vor allem in Form von Sutren-Lesungen. Reduziert man Zen auf das Sitzen im Lotussitz und bläht dieses Sitzen nicht philosophisch-religiös auf, wie es Zen-Meister so gerne tun, dann ist Zen tatsächlich keine Religion mehr. Selbstverständlich gehören zu einem solch nüchternen Zen auch keine Niederwerfungen und das Lesen von unverständlichen Sutren. Beide Praktiken sind Menschen des 21. Jahrhunderts unwürdig. Mir kommen sie vor, als würde man damit das mittelalterliche feudale Japan nachspielen. Und in die Einfachheit des entsprechenden Weltbildes flüchten, in dem einem überirdische Wesen helfen, so wie der Feudalherr hilft, wenn man sich nur genug buckelt.

In Mythos Zen entwerfe ich ein areligiöses Zen-Verständnis, welches an seinem chinesischen Ursprung orientiert ist. Ich versuche zu zeigen, dass man die für Zen typischen Begriffe, vor allem den fundamentalen Begriff der Buddhanatur, auch nichtmetaphysisch, nichtreligiös verstehen kann.

hpd: Im Zen-Buddhismus kommen, so erscheint es zumindest den Außenstehenden, ziemlich oft befremdliche Allmachtsphantasien vor. Ich = Welt = Gott! Ist das wirklich so?

Binder: Ích selbst habe eine solche „Erleuchtung“ erlebt. Sie ist weniger für Zen als für die hinduistische Mystik typisch. In ihr wird diese Gleichung ausdrücklich aufgestellt. Im östlichen Zen fehlt das letzte Glied der Gleichung, Gott. In der christlichen Mystik ist die Erfahrung der Identität mit Gott eigentlich verboten, die christlichen Lehren betonen eine unüberwindbare Differenz zwischen Mensch und Gott. In meinem Buch erläutere ich die verschiedenen Ursachen für diese Erfahrung, was auch deutlich macht, warum religiöse Menschen eine „natürliche“ Neigung zum Pantheismus haben, zu dem Glauben, alles was existiert, sei Gott. Wichtig bei dieser „Erleuchtung“ ist auch der narzisstische Aspekt, der Größenwahnaspekt, der sich auch bei Zen-Meistern findet.

hpd: Worin sehen Sie die Gefahren und die Möglichkeiten des Zen?

Binder: Ich habe einen Mann mit massiven psychischen Problemen gekannt, der trotz jahrelangen Sitzens „durchdrehte“ und schließlich Selbstmord beging. Wie alle Sekten, zieht auch Zen viele Menschen an, die an schweren psychischen Problemen leiden und die natürlich hoffen, dass diese gelöst werden. Das kann Zen aber nicht leisten. Es gibt auch nicht das Zen und die Lebensform des Zen. In Mythos Zen beschreibe ich verschiedene Formen eines Lebens aus Zen, welche Gefahren sie bergen und welche ein gutes Leben bedeuten können. Zazen, das aufrechte Sitzen mit verschränkten Beinen, kann eine therapeutische, eine heilende Wirkung haben. Aber in dem weiten Sinn, in dem wir beispielsweise von einer heilenden Wirkung von Farben, Musik oder Massagen sprechen.

Auf jeden Fall hat das aufrechte Sitzen bei mir immer eine aufrichtende Wirkung, also einen positiven psychosomatischen Effekt. Ich glaube, dass das therapeutische Potential des Zen noch nicht ausgeschöpft ist. Ich halte beispielsweise die klassischen Meditationsanweisungen für unzureichend. Und ich halte den in Zen-Kreisen weit verbreiteten Glauben für völlig falsch, wichtig sei nur die korrekte Körperhaltung, dann wird alles gut, „unbewusst, natürlich, automatisch“. Einen weiteren Grund für die schwache therapeutische Wirkung sehe ich in der Unwissenheit des Zen über einen zentralen Aspekt der Meditation, ihren sozialpsychologischen Grund, von dem jeder Meditierende, zumindest unbewusst, motiviert wird. Aus diesen Gründen bedeutet Meditation ein weitgehend blindes Verfahren in therapeutischer Hinsicht.

hpd: Wenn zum Abschluss noch eine Frage erlaubt ist, die ihr Privatleben berührt: Wie lange halten Sie es im Lotossitz aus?

Binder: Vielleicht eine Minute. Ich habe nie im vollen Lotussitz gesessen, also beide Füße auf die gegenüberliegenden Oberschenkel gelegt. Ich habe immer nur im halben Lotussitz praktiziert, nur einen Fuß auf den Oberschenkel des anderen Beines gelegt. Aber auch das bereitet auf die Dauer empfindliche Schmerzen. Eine Meditationseinheit dauert im Zen in der Regel 40 Minuten. Hat man vor öfter zu meditieren, wie bei den Sesshins, intensiven Meditationstagen, macht man zwischen den Meditationseinheiten eine ca. 10-minütige Gehmeditation. Inzwischen kann ich in diesem Rhythmus schon einige Stunden am Tag sitzen.

hpd: Herr Binder, vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

 

Alfred Binder: Mythos Zen. Aschaffenburg 2009. Alibri, 277 Seiten, kartoniert, Euro 18.-, ISBN 978-3-86569-057-9

 

Das Buch ist auch im denkladen erhaltlich.