Hermann Josef Schmidt gilt als Nietzsche-Spezialist. Charakteristisch für sein Werk sind aber vor allem eine aufklärerische Perspektive und der Mut, Denktabus zu hinterfragen. Auch seine vor Kurzem erschienene Autobiographie ist in diesem Geist verfasst. Darin blickt er zurück auf viele Momente weltanschaulicher Emanzipation seit den 1960er Jahren.
Schon früh Mitglied in der Humanistischen Union, später im Beirat des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) sowie im Kuratorium der Giordano-Bruno-Stiftung war er oft ganz nah dran, wenn es darum ging, kritisches Denken gegen Dogmen und Autoritätsgläubigkeit durchzusetzen. Der hpd sprach mit ihm über sein Buch, über die Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre und das Recht auf Irrtum.
hpd: "Dann bin ich ja genau so tot wie Sie!" als Titel einer Autobiographie ist ungewöhnlich. Was hast du dir dabei überlegt?
Hermann Josef Schmidt: Der Titel soll eine zugunsten gesellschaftlicher Manipulation und Ruhigstellung kunstvoll gezüchtete, mittlerweile weit verbreitete Angst ansprechen. Die Angst nämlich, je nach sozialem Feld isoliert, exkommuniziert, ausgestoßen oder gesellschaftlich "vernichtet", wenigstens aber "mundtot" gemacht zu werden. Möglichst niemand soll wagen, sich "unbotmäßig" zu verhalten, indem etwa kritische Fragen gegenüber medial Hochgejubeltem gestellt werden oder Tabuierungen nicht demütig genug aufrecht erhalten werden. Dennoch: Selbst für "tot" erklärt zu werden, ist nur dann ein ernsthaftes Problem und nicht lediglich ein Zeichen geistiger Hilflosigkeit, wenn andere ängstlich oder einfältig genug sind, eine "Für-tot-Erklärung" naiv nachzuschwatzen.
Das erklärt noch nicht, wie du auf diesen Titel gekommen bist...
Ich zitiere den erschrockenen Ausruf eines Kollegen. Nachdem ich ihm meine Streitschrift "Wider weitere Entnietzschung Nietzsches" (2000) zugeschickt hatte, rief er mich an und gratulierte. Als ich ihn fragte, ob er den Band "wie auch immer kritisch" irgendwo besprechen könne, kam fast wie aus einer Pistole geschossen diese Befürchtung: "Dann bin ich ja genau so tot wie Sie!"
Sie war verständlich, denn nach Erscheinen von "Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche" (1991-1994), einer mehrbändigen Aufarbeitung von Nietzsches Entwicklung sowie der entsprechenden Texte seiner ersten 20 Jahre, war so mancherlei gegen mich in der damals noch fast durchgängig christlich dominierten Nietzscheinterpretation unternommen worden – natürlich ohne mich direkt damit zu konfrontieren. Ich hatte den Mythos des brav christlichen Kindes Nietzsche angegriffen und zu zeigen vermocht, dass schon das Kind manches von demjenigen gedanklich durchspielte, was für Nietzsches bekanntere Schriften charakteristisch blieb. Schließlich fundiert Nietzsches Christentumskritik seinen philosophischen Ansatz. Derlei Spielverderberei wollte sich nicht jeder gefallen lassen. So empfand ich mich 1993 durch ein Rundschreiben eines renommierten Herausgebers, nichts mehr von mir zu besprechen, und Jahre später durch eine zwar leicht widerlegbare, doch "in der Sache" ernst zu nehmende Verleumdung abgestraft. Ich habe mich aber nicht entmutigen lassen.
Und deshalb die Autobiographie?
Vielleicht auch ein bisschen, denn wer kennt schon sämtliche seiner Motive? Normalerweise wird eine Autobiographie angefordert, weil dank der Bekanntheit einer Person mit Interesse an ihrem Leben und ihren Erfahrungen sowie mit aufschlussreichen Storys gerechnet wird. Oder jemand ist eitel genug, andere mit seinen Lebensweisheiten und -umständen beglücken zu wollen. Oder eine Person wie ich, die sich seit ihrer Studentenzeit um die Förderung weltanschauungskritischer Emanzipation bemühte, versucht, aus der Perspektive eines Zeitzeugen einen autobiographisch gerahmten, möglichst spannend geschriebenen Schmöker mit zum Teil exemplarischen Storys aus seinen Kinder-, Internats- und Hochschuljahren sowie seitdem vorzulegen.
Oft konnte ich in der vergangenen Jahrzehnten den Eindruck nicht unterdrücken, allzu viel "liefe in vielerlei Hinsicht völlig falsch". Deshalb habe ich mich bemüht, aus einer eher unüblichen historischen Tiefenperspektive zu berücksichtigen, dass seit unserer europäischen Frühgeschichte gegen massivste Widerstände erarbeitetes und durchgehaltenes kritisches Denken im Sinne fortgeführter Aufklärungen ein unüberbietbar leistungsfähiges, faszinierendes Potential und damit eine unverzichtbare Voraussetzung unserer weltweit noch immer selteneren freiheitlichen Lebensführung ist. So kann es – und sollte es auch – auf ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Probleme und aktueller Fragestellungen angewandt werden. Das habe ich hier versucht. Dabei kam es mir nicht zuletzt darauf an, Leser zu provozieren, jenseits standardisierter Floskeln, Annahmen und Zumutungen in den Sog ihres eigenen Nachdenkens zu geraten.
Deine Autobiographie erzählt auch 60 Jahre Auseinandersetzung mit autoritären Strukturen und antiaufklärerischen Ideen. Begonnen hat dein Engagement, soweit ich sehe, in der Humanistischen Studenten-Union. Was war denn deine Motivation, dort einzutreten?
Freiburg erlebte ich 1960 als "rabenschwarz". So zog noch eine riesige Fronleichnamsprozession mit dem Erzbischof samt Domkapitel, gefolgt unter anderem vom Großteil der Professoren der juristischen und medizinischen Fakultät der Universität in Musikbegleitung durch die Freiburger Innenstadt. Stadt und Land wirkten als CDU-Staat mit sehr engen konservativen Vorstellungen. Dazu wollten wir in der Universität ein hochkarätiges weltanschauungskritisches Gegenprogramm bieten. Das gelang uns dann auch für mehrere Jahre. In die Humanistische Union war ich 1962 eingetreten. Um in der Hochschule Veranstaltungen durchführen zu können, mussten wir zuvor eine Humanistische Studenten-Union als Freiburger Gruppe, aber auch als Landes- und Bundesverband gründen.
Besonders eindrücklich fand ich die Passage, in der du Begegnungen mit Heidegger beschreibst. Heute ist diese Aura der Großartigkeit, die ihn damals umgeben haben muss, ja kaum noch nachvollziehbar. Kannst du uns die damalige Stimmung ein bisschen verständlicher machen?
Dazu muss man wissen: Martin Heidegger galt als der deutsche "Jahrhundert-Denker". Diskreditiert durch seine frühe Nähe zum Nationalsozialismus und vorzeitig in den Ruhestand versetzt, hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Das muss ihm sehr schwer gefallen sein, denn spätestens aber in den 1960er Jahren begann er vor handverlesenem Publikum Vorträge oder wie in der Universität Heidelberg "Geheimseminare" abzuhalten, über deren Stil so mancherlei gemunkelt wurde. So war wohl der Boden bereitet, dass der ehemalige Rektor der Universität als Gast des Philosophieprofessors Eugen Fink im Wintersemester 1966/67 erstmals auch in Freiburg vor einer Gruppe persönlich Eingeladener über Texte Heraklits laut nachdachte. Daran teilzunehmen glich fast der Aufnahme in philosophischen Erbadel.
"Aura der Großartigkeit" trifft es. Wenn Heidegger sprach, dabei auf eine ungemein intensive Art Anwesende zu fixieren und eine hypnotische Stimmung zu erzeugen wusste, wirkte er wie ein Magier. Bei einigen Anwesenden provozierte er vielleicht religiöse Gefühle. Selbst renommierte Professoren zeigten in dieser wöchentlichen Seminarveranstaltung ein Demutsverhalten, das ich ansonsten niemals erlebt habe. So feierte deutscher Untertanengeist wieder einmal Triumphe. Mancher hörte zuweilen wohl den Weltgeist raunen. Jedenfalls begann ich damals einiges zu begreifen.
Du giltst als Experte für den ganz frühen Nietzsche, hast lange das international besetzte Dortmunder Nietzsche-Kolloquium verantwortet. Dein Band "Nietzsche absconditus. Kindheit" hat 1991 ein großes Echo gefunden. Später gab es eher Gegenwind. Was waren denn die Einwände gegen deine christentumskritische Lesart Nietzsches?
Die mir bekannt gewordenen Einwände waren sehr schwach. Der beste Einwand war, dass es von Nietzsche viele fromme Kindertexte gab. Das stimmt, doch sie waren Pflichtgeschenke für seine Mutter und nähere Verwandte zu Festtagen. Das lässt sich belegen. Vor allem in seinen für sich selbst geschriebenen Texten treibt jedoch schon das Kind sein Denken konsequent weiter. Derlei Unterschiede werden aber viel zu wenig beachtet, sei es, weil sie nicht ins Konzept passen, sei es, weil selbst konsequenzenreiche Details und Biographica kaum jemanden interessieren. Manche schweben lieber hoch über den Niederungen des Alltäglichen.
Vielleicht das Hauptproblem war freilich, dass und wie ich 1994 eine in vielen Medien als stichhaltig bejubelte Intervention von knapp 20 katholischen Professoren gegen die Seriosität der ersten drei Bände der Kriminalgeschichte des Christentums Karlheinz Deschners zerpflückt und öffentlich zurückgewiesen habe. Dazu kam noch, dass ich mich an dem kirchenkritischen Film "Die hasserfüllten Augen des Herrn Deschner" von Ricarda Hinz beteiligte. Erst damit hatte ich wohl mein Konto selbst bei fast allen Wohlgesonnenen überzogen. Die erwähnte, auf meine Seriosität als Interpret bezogene Verleumdung war vielleicht dazu die Retourkutsche.
Der letzte Teil deiner Autobiographie ist überschrieben mit "Und worüber denkt er denn sonst noch nach?" Darin nimmst du zu gesellschaftlichen Konfliktthemen Stellung. Was ist denn da die legitime Perspektive für einen Philosophen?
Jede, die er mit guten Gründen für erkenntnisrelevant hält. Und wenn er ihm problematisch Erscheinendes im Sinn von Kants "sapere aude!" selbst dann zur Diskussion stellt, wenn auch immer mehr derjenigen Personen, die nicht vorweg schon vor jedem Zeitgeist "buckeln", sich ängstlich wegzuducken scheinen. Meist genügt es ja schon, Aussagen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu analysieren und besonders auf Widersprüche, Ausblendungen usw. zu achten. Leitfäden sind Aufklärung und Kritik, in meinem Fall aus "alteuropäischer" Tiefenperspektive, deren Berücksichtigung den Blick ungemein zu schärfen vermag. Da ich auch "als Philosoph" Bürger bin und das Grundrecht der Meinungsfreiheit, das das Recht auf Irrtum einschließt, als unverzichtbar einschätze, hätte ich noch für mehrere Leben "genug zu tun". So konnte ich nur anfangen.
Die Fragen stellte Martin Bauer (der Hermann Josef Schmidt seit 1990 kennt) für den hpd.
Hermann Josef Schmidt, "Dann bin ich ja genauso tot wie Sie!". Erlebnisse, Erfahrungen, Überlegungen, Einsichten und zumal Fragen eines alteuropäischen Philosophieprofessors, Aschaffenburg 2023, Alibri Verlag, 818 Seiten, 29 Euro, ISBN 978-3-86569-155-2
Fotoquelle Portrait: who-is-hu.de