Viele zivilgesellschaftliche Organisationen leiden unter Mitgliederrückgang; die Bereitschaft, sich verbindlich und langfristig zu engagieren, nimmt ab. Das gilt auch für die Mehrzahl der säkularen Verbände. Dieser Trend bedeutet aber nicht, dass die behandelten Themen nicht auf Interesse stoßen und die vertretenen Positionen keine Unterstützung in der Bevölkerung finden. Ist es an der Zeit, neu zu definieren, wie sich Verbundenheit mit einer Weltanschauung ausdrücken kann?
Der neuste Band der Humanistischen Akademie Deutschland befasst sich unter dem Titel "Humanismus in, Mitgliedschaft out?" mit diesen Fragen. Der hpd hat mit dem Herausgeber des Buches, dem Akademie-Direktor Ralf Schöppner, über diesen Themenkomplex gesprochen.
hpd: Wie lauten kurz zusammengefasst die zentralen Ergebnisse der Leipziger Untersuchung?
Ralf Schöppner: Die Forscher*innen vom Leipziger Institut für Religionswissenschaft haben in ihren qualitativen Interviews nicht nach "säkular" gefragt, sondern: "Wer sind die Humanist*innen in Berlin?" Es ist eine kleine Datenbasis, aber ein eindeutiges Ergebnis: Die Befragten betrachten sich als Humanist*innen, weil sie sich praktisch für humanistische Belange engagieren und weil sie zentrale humanistische Überzeugungen wie zum Beispiel Selbstbestimmung, Verantwortung und Toleranz teilen. Formelle Mitgliedschaft spielt keine Rolle.
Ich möchte die hpd-Leser*innen herzlich einladen, die Forscher*innen und ihre Ergebnisse bei der heutigen Buchpräsentation kennenzulernen.
In einem der Aufsätze wird als Kritik am Modell der Körperschaft des öffentlichen Rechts formuliert, es sei auf die beiden großen christlichen Kirchen zugeschnitten. Wie könnte eine nicht bürokratisch verfasste Weltanschauungspflege konkret aussehen?
Auch eine reformierte und zeitgemäße Religions- und Weltanschauungspolitik wird in Deutschland wohl kaum ohne Bürokratie auskommen. "Weltanschauungspflege" findet empirisch nicht zwingend nur in einer KdöR und im Modus formaler Mitgliedschaft statt. Sie bedeutet heute auch nicht mehr Pflege einer zweifelsfreien und womöglich ins Dogmatische tendierenden Anschauung. Und auch der in religionswissenschaftlicher Sicht sicherlich unterkomplexe Dualismus von entweder religiös oder nicht-religiös wird der weltanschaulich-religiösen Vielfalt pluralistischer und individualistischer Gesellschaften schon lange nicht mehr gerecht. Es gibt Religiöse, Nicht-Religiöse und Diverse.
Wie lässt sich der Begriff "Zugehörigkeit" denn genauer fassen?
Meine persönliche Meinung dazu ist, dass humanistische Organisationen zusätzlich zu Mitgliedern all diejenigen als Zugehörige betrachten können, die sie in irgendeiner Form unterstützen oder an ihren praktischen Angeboten teilnehmen. Das bedeutet nicht, ihnen pauschal den Stempel "Humanist*in" zu verpassen, denn wir wissen nicht bei allen, warum sie mit von der Partie sind. Und ein weltanschaulicher Gesinnungs-TÜV findet nicht statt. Aber der beständig wachsende Anteil der Konfessionsfreien in Deutschland und unsere eigenen langjährigen Erfahrungen mit Unterstützenden und Teilhabenden geben keinen Anlass zu der Annahme, diese würden wesentliche Aspekte der humanistischen Weltanschauung nicht teilen.
Ich habe letzte Woche mit eurem Verleger, Gunnar Schedel, über das Buch gesprochen. Er meinte, er sei in den vergangenen Jahrzehnten auf Veranstaltungen der SPD, der Grünen, der Linken und der FDP beziehungsweise von deren Stiftungen gewesen, habe sogar bei allen referiert und würde das gegebenenfalls auch wieder tun – fühle sich aber keiner dieser Parteien "zugehörig". Könnte es nicht sein, dass das bei Leuten, die auf Veranstaltungen humanistischer Organisation kommen, auch so ist, dass sie einfach Interesse am besprochenen Thema haben und am Diskurs darüber teilhaben möchten? Ist eine Grenzziehung zwischen verbindlichem Engagement und unverbindlichem Interesse nicht sinnvoll?
Ich grüße unseren Verleger vom Alibri-Verlag, der seit vielen Jahren die Schriftenreihen der Akademie wohlwollend und mit konstruktiver Kritik begleitet. Wenn ein katholischer Theologe auf einer Veranstaltung der Akademie referiert, so würde ihn niemand aufgrund dieser Teilnahme als Zugehörigen betrachten. Bei den Gästen einer solchen humanistisch profilierten Veranstaltung aber kann man wohl kaum davon ausgehen, die meisten sitzen da, weil sie mit dieser Weltanschauung fremdeln. Zugehörige sind aber keine Mitglieder, bei denen man vielleicht eher Verbindlichkeit voraussetzen kann. Aber selbst diese Unterscheidung ist brüchig: Denken Sie nur an die vielen Nicht-Gläubigen und "Karteileichen" unter den Kirchenmitgliedern.
Im Buch wir der Begriff des "unbewussten Humanismus" verwendet. Für mich klingt das ein bisschen nach Vereinnahmung...
Das ist ja zunächst einmal die von den Forscher*innen gewählte Begrifflichkeit, um einen Befund ihrer Studie prägnant auf den Punkt zu bringen. Mehrere Befragte äußerten übereinstimmend den Eindruck, in ihrem Lebensumfeld immer wieder auf Menschen zu stoßen, die humanistische Werte teilen oder sich für humanistische Themen aktiv engagieren, ganz ohne den Begriff Humanismus dafür zu verwenden oder humanistische Organisationen zu kennen. Die Befragten und die Forscher*innen wollen damit niemanden vereinnahmen, sondern sie stellen Gemeinsamkeiten unabhängig von verwendeten Begriffen fest.
Was bedeuten die Ergebnisse der Studie denn im Hinblick auf die Politik? Besteht in einer bestimmten Richtung Handlungsbedarf?
Die Ergebnisse müssten eigentlich, sofern man sie mit umfangreicheren Daten bestätigen kann, politische Konsequenzen haben. Noch immer wird humanistischen Weltanschauungsgemeinschaften in weiten Teilen von Politik und Verwaltung die grundgesetzliche Gleichbehandlung mit Religionsgemeinschaften verweigert. Begründet wird dies mit niedrigen Mitgliedszahlen, die angeblich gesellschaftliche Irrelevanz belegen sollen. Die Studie räumt mit der Mär auf, die gesellschaftliche Relevanz des Humanismus spiegele sich in Mitgliederzahlen wider. Deshalb der Titel des Bandes: "Humanismus in, Mitgliedschaft out?"
Im zweiten Teil des Sammelbandes geht es um das Verhältnis von Humanismus und Existenzialismus. Welche Philosoph:innen werden da behandelt?
Der zweite Teil behandelt das Thema Zugehörigkeit auf der konzeptuellen Ebene: Ist der Existenzialismus ein Humanismus? Oder besser: Welcher Existenzialismus gehört zu welchem Humanismus? Es gibt exemplarisch Aufsätze zu Seneca, Camus und zu Althussers Auseinandersetzung mit Sartre. Außerdem einen Beitrag zur französischen Philosophin Corine Pelluchon, die aktuell unter durchaus existenzialistischen Vorzeichen für einen erneuerten Humanismus plädiert.
Und wie passt der antike Stoiker Seneca in diese Reihe?
Das habe ich mich zunächst auch gefragt. Aber unser Autor Hubert Cancik zeigt sehr schön die Verbindung von Philosophie und wirklichem Leben bei Seneca, die Fülle existenzieller Themen: Unsicherheit, Vergänglichkeit, Krankheit, Tod, Befreiung, Selbstwerdung, Sozialität, Vernunft, unkontrollierte Affekte. Mir gefällt Senecas "Wahre Heiterkeit/Freude ist eine ernste Sache": Da steckt sehr viel drin, wenn man es länger bedenkt.
Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.
Ralf Schöppner (Hrsg.): Humanismus in, Mitgliedschaft out? Moderne Formen von Zugehörigkeit. Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Band 10. Aschaffenburg 2023, Alibri, 295 Seiten, 25 Euro. ISBN 978-3-86569-398-3
2 Kommentare
Kommentare
Carsten Ramsel am Permanenter Link
Irgendwie kommen mir die Worte von Rolf Schöppner bekannt vor.
Aufschlussreicher: Stefan Schröder: Freigeistige Organisationen in Deutschland. Weltanschauliche Entwicklungen und strategische Spannungen nach der humanistischen Wende. De Gruyter : Berlin, 2020.
A.S. am Permanenter Link
Ist Humanismus eine NGO, so wie die ev. Kirche?