„Wir waren zwar alle aufgeklärte Marxisten...“

Wir haben sogar festgestellt, dass die radikalsten Vertreter des alten Systems auf einmal auch Professoren in der neuen Universität geworden waren. Wir und die meisten unserer Kollegen scheiterten jedoch im Berufungsverfahren. Meistens wegen objektiver westdeutscher Formalien, beispielsweise mit der Frage, in wie vielen und welchen Zeitschriften wir in den USA veröffentlicht hätten. Wäre eine Parallelfrage zur Sowjetunion gestellt worden hätten wir einiges aufzählen können… Ein halbes bis dreiviertel Jahr später waren also alle unsere Leute, und auch ich, weg und durch westdeutsche Professoren ersetzt worden.

Logisch war das natürlich. Die Fakultät sollte anstatt „Marx-radikal“ in der DDR nun „Markt-radikal“ ausgelegt und dafür umstrukturiert werden und das nicht mit Dozenten mit einer DDR-Biographie, die möglicherweise noch Sozialismus im Kopf haben.

hpd: Welche Aufgabe zum Wandel der Systeme haben die Kirchen in der DDR übernommen.

Auf den Punkt gebracht haben die Kirchen Räume zur Verfügung gestellt, um den notwendig gewordenen Diskurs der Gesellschaft mit zu bewegen. Eine produktive Haltung. Ohne die Kirchen wäre das Jahr 1989 wohl nicht so zu Ende gegangen. Ob die Kirchen selber ideologisch- politisch-philosophischen Input gegeben haben, das wage ich zu bezweifeln.

Wenn ich mir die Leute ansehe, die später als so genannte Dissidenten in eine Partei gegangen sind – ja, da gibt es einige wenige, die es auch bis heute geblieben sind und deren Basis eine wirklich bürgerlich-christliche Ethik ist. Die meisten jedoch, die nach der Wende die große Rolle eines politischen ‚Dissidenten’ spielten, die hatten diese philosophische Basis nicht. Trittbrettfahrer, ja, so nennt man es. Sie sind alle weg.

hpd: Die Kirche hat eine wichtige Aufgabe geleistet – wie ist das weiter gegangen?

Offensichtlich haben die Kirchen die Menschen nicht halten können. Von den heute noch führenden Dissidenten gibt es wohl noch welche die christlich motiviert sind, aber kirchlich aktive? Das sind wohl nur sehr wenige.

hpd: Wenn ich nach Thüringen oder nach Berlin schaue sind die Pastoren in die Politik gegangen - wie ist es also in der Politik?

Ja, nach der Vereinigung gab es natürlich einen Mangel an Elite aus der früheren DDR. Die den modernen Sozialismus gewollt hatten, die waren ja sowieso weg. Von der sehr konservativen Seite her gab es keine Eliten und was übrig blieb von denen, die denken und sich äußern konnten, waren die Theologen. In allen Parteien spielten die Theologen plötzlich eine Rolle, weil sie die einzigen aus dem Osten geblieben waren, die nach den Kriterien des Westens wohl eine öffentliche und kritische Position wahrnehmen konnten.

hpd: Es gibt von dir ein Manuskript zu einem Buch, das zu diesem Thema eine Beziehung hat…?

Ja, das Buch sollte die Biografie von Paulus aus der Sicht eines Politik-Ökonomen werden mit dem Hintergrund, dass das römische Reich finanziell als Imperium so gegen den Baum gefahren war, dass man sich schwer etwas ausdenken musste, um die Militär-Ausgaben zu reduzieren. Gefunden wurde der Saulus/Paulus, der alle Leute am Mittelmeer zur Liebe, zu einer einheitlichen Ideologie missionieren sollte, der römischen Ideologie. Der geheime Missionar der Ideologie war Paulus. Da spielte natürlich meine Erfahrung mit der DDR, mit Stasi, eine Rolle. Paulus war Geheimagent des Römischen Reiches.

Aber was Stasi in der DDR anging, das ist wieder eine sehr komplexe Geschichte.
Es gab nicht „die“ Stasi. Es gab verschiedene...

hpd: Es interessiert mich nicht so sehr, wie die Stasi gearbeitet hat, sondern mehr, wie die Bürger das in ihr Bewusstsein hineingelassen und es später verarbeitet haben. Wie gingen sie damit um, wie ließ sich gelebtes Misstrauen abbauen, wenn es um das Abhören der Telefone, Bespitzeln und dergleichen ging?

Meinung kann man nicht vernichten, die hat man und die trägt man immer mit. Es geht ja hier um die externen Bedingungen, also mehr um die Veräußerung der Meinung.

Selbstverständlich war die Stasi das Überwachungsinstrument der ganzen Gesellschaft. Ein Instrument in der Gesellschaft. Eine Evaluierung der DDR, nur auf Stasi ausgerichtet, setzt aber für mich eine falsche Akzentuierung.

Die Stasi war nichts anderes als das ausführende Organ der Partei. Als Angriffsfläche wurde nach der Wende aber lieber die Stasi genommen und die Partei verschont. Wäre die SED als Partei diametral und radikal angegriffen worden, dann kratzt man natürlich an der Image der Institution ‚Partei’ an sich und insgesamt, auch im Westen. So weit wollte man aber nicht gehen. Die Stasi war nicht das Hauptproblem der DDR sondern die radikal bürokratische Diktatur des Parteiapparates.