„Wir waren zwar alle aufgeklärte Marxisten...“

hpd: Noch einmal zum 9. November 1989 …

Vielfach bin ich schon danach gefragt worden und kann das nicht so richtig beantworten. Ich weiß nur, dass ich meine Seminare und Vorlesungen hatte. Ich weiß nur, dass ich schockiert war wie der FDJ-Sekretär, und das war ein wichtiger Mann an der Fakultät, sagte, er sei "mal’ nach West-Berlin gegangen…".

Mit meiner Familie bin ich zwei Wochen nachdem die Mauer aufgegangen war nach West-Berlin gegangen, um mal zu gucken. Wir wussten ja, dass es eine Öffnung geben musste, aber das es so schnell und in dieser Form sein würde, das nicht. Es hat mich zwar schockiert und doch war es zu erwarten gewesen. Das hat mich als Belgier auch nicht so bewegt. Ich selber und auch meine Frau konnten ja aus der DDR ausreisen und wiederkommen. Insofern hatte ich eine Sonderstellung anderen Bürgern gegenüber, die das Land nur reglementiert verlassen durften.

hpd: Gibt es Dinge, die du aus der Zeit vor dem 9. November vermisst?

Ja, besonders Kollegialität und Solidarität. Wir wohnten im Süden von Berlin und da wurde alles gemeinsam gemacht. Man hat sich geholfen und heute spricht man noch nicht einmal miteinander. Natürlich wurde das damalige Miteinander auch hervorgerufen durch die Mangelwirtschaft. Man musste sich helfen.

Und die Kollegialität. Wir sind fast jede zweite, dritte Woche mit 10, 20 Leuten zusammen gekommen, haben diskutiert, unseren Wein getrunken und wenn wir uns heute noch zu viert zusammenfinden ist es etwas Besonderes. Man hatte ja Zeit, Zeit zum Denken, zum Reden, Zeit, sich zu Bewegen, wenn auch innerhalb der Grenzen. Das war damals möglich, in Ruhe miteinander zu reden – aber privat, nur privat. Heute ist jeder in Stress und Hektik.

hpd: Wie stellst du dir die weitere Entwicklung vor und siehst du Möglichkeiten zu einem politischen oder wirtschaftlichen Wandel?

Ja, die Antwort auf diese Frage ist genauso wie die Analyse, was die DDR war. Das ist nur möglich, wenn man akzeptiert, dass so eine Betrachtung von einem bestimmten philosophischen Standpunkt aus gemacht wird. Wie es weiter geht – wenn ich es richtig verstanden habe mit Ostdeutschland. Es gibt da verschiedene Varianten und Modelle.

Fangen wir mit einer katastrophalen Vision an: Ostdeutschland wird ein Naturreservat, in dem nur wenige Menschen wohnen, was ja auch real ist, wir haben in den letzten Jahren wieder zwei Millionen Menschen verloren. Bestimmte Städte sind keine Städte mehr und haben die demographische Zuordnung verloren. Also das ist eine Variante.

Dann die positive Variante. Leute, die diese Auffassung vertreten meinen, was Ostdeutschland jetzt durchmacht sei ein vorgezogenes Modell für das, was sich über ganz Deutschland ausbreiten wird. Das heißt eine Verwüstung des ländlichen Raumes, die Konzentration auf die Städte mit allen Begleitaspekten von sozialer Polarisierung bis hin zur geballten Kriminalität. Diesen Prognosen ist entgegen zu setzen, das aus den jetzigen ostdeutschen Erfahrungen und Lehren gezogen werden m ü ß t e n , die am Ende dann doch eine Lösung für das gesamte Deutschland aufzeigen. Ich sehe es ähnlich, weil ich glaube, dass der Zusammenbruch der DDR - also des so genannten real existierenden Sozialismus -, seinen Grund in überalterter Technologie hatte, der sowohl gesellschaftlich wie ökologisch keine Zukunft hatte.

Dass die DDR bzw. der Sozialismus eher zusammengebrochen ist bedeutet nicht, dass der Kapitalismus deshalb so bleiben kann. Der hat vielleicht noch schlimmere technologische Strukturen. Die Finanzkrise beispielsweise ist für mich eine systemische Krise, das ist keine Krise der Finanzstruktur. In diese Krise gehört auch die Ökologie, die Umwelt, das Denken, alles gehört dazu, so dass wir vor einer Krise der bis heute durchgesetzten technologischen Strukturen stehen. Wenn es der Gesellschaft gelingt, den Sprung zu anderen technologischen Strukturen zu schaffen, in denen die Umwelt eine Rolle spielt und nicht mehr die konkurrierenden Herrschaftsverhältnisse, dann sehe ich eine Zukunft. Natürlich muss man die technologische Entwicklung beeinflussen, versuchen zu steuern. Anderseits besteht eine Wechselwirkung. Bestimmte technologische Strukturen heben politische Strukturen auf.

Mutig macht es mich. Es bewegt sich, es ist etwas im Gange und das seit längerer Zeit.