„Der Baum der Verwandlung blüht ewig.“

Eines Tages, als ich wieder bei ihr war, zeigte sie mir die gefallenen Söhne, Fotos von ihren beiden gefallenen Söhnen. Stell Dir vor, ich, ja jung wie alle Frauen um mich herum, die gerade ihre Kinder bekamen, hatte einen Déjà Vu. Ich dachte, wenn ich fünfundachtzig bin, kommt zu mir ein junges Mädchen. Sie ist Fotografin, sie weiß nichts von Berlin. Ich zeig ihr die Fotos von meinen beiden gefallenen Söhnen…. Es war, als würde sich alles wiederholen.

Solche zauberhaften Geschichten sind es gewesen, die mich in Berlin faszinierten. Wie schön die Menschen damals noch sein konnten! In diesen Trümmerhaufen, den die Generation unserer Väter hinterlassen hatte.

Wenn ich heute in Peru den Menschen erzähle, es sind die Frauen gewesen, die die deutsche Hauptstadt wieder mit aufgebaut haben, dann lachen sie und ich frage: „Was lacht ihr?“ Sie lachen weil sie denken, ich wolle sie veralbern. Ich antworte: „Ja mein Gott, die Männer waren alle gefallen oder in Kriegsgefangenschaft, es gab da kaum Männer mehr, die da waren. Es waren die Frauen, die von jedem einzelnen Stein Putz und Zement abgeklopft haben und Stein auf Stein die Häuser wieder aufbauten. Da lachten die Peruaner noch mehr. Für sie war es ein unfassbares Bild. Deutschland, das starke Land. In Peru bauen die Frauen keine Häuser. Als die Häuser in Deutschland wieder fertig waren, zogen die Männer wieder ein und das ganze Spiel begann von vorn.

Nun lief die Zeit, sie lief und es kam das Jahr 1989. Wie war das für dich?

Ich ging mir damals so, wie auch heute. Ich sage, die Idee von Globalismus funktioniert nicht. An jeder Kleinigkeit sehe ich das.

Wir stehen einem Papierwust gegenüber. Formulare, die man ausfüllen muss und was man alles zu erklären hat, diese ganzen Kreditkarten. Nein, das funktioniert so nicht auf Dauer. Die ganzen Nummern, die man zu behalten hat. Die Leute sind restlos in allem überfordert. Ich sage voraus, dass genau dieses System, dieser Globalismus, gerade dabei ist, sang- und klanglos unterzugehen.

Es ist ja auch nicht so gewesen, dass mit dem Herrn Schabowski am 9. November 1989 plötzlich die Grenze aufging. In den achtziger Jahren habe ich gesagt: „Seht mal meine Bilder und die der anderen Fotografen an.“ Die Agonie war schon zu sehen. Dass die Grenze aufging war also kein Wunder, ich hatte es nur schon eher erwartet und mich nur gewundert, wie lange man das den Menschen zumuten konnte. Ich wundere mich auch, wie heute eine Frau Margot Honecker, das einfach profan als ‚Verrat’ abtun kann. Ich habe den Eindruck - im Vergleich zu meinem Leben in Peru -, dass die Menschen hier kopflastiger sind. Sie lassen sich von Ideen tragen und landen in einer Obsession, einem Fanatismus. Und durch die ewige Wiederholung desselben, kann man nicht mehr neben sich stehen bleiben. Ich merke es auch an mir, der Alltag macht blind. Ich frage mich oft und begreife gar nicht, „Warum machst du das eigentlich jetzt? Tut dir das gut?“ Es geht um die eine Frage: Dient mir meine Arbeit oder diene ich meiner Arbeit? So einfach ist es. Natürlich muss es so sein, dass meine Arbeit mir dient, mir gut tut, mich fröhlich macht, mich schön sein und aufblühen lässt. Nicht ich bin die Dienerin von Normen, Regeln oder Gesetzen, die aufgestellt wurden, mir aber nicht gut tun. So kann es nicht sein.

Gundula, was für Fotografien entstehen jetzt? In dieser Zeit, in diesem Jahr, in den nächsten Jahren?

Ganz konkret: Die Ausstellung „Eulenschrei des Verborgenen“ ist bis zum 18. November bei Pixel Grain, dem Labor in der Rosenstraße in Mitte, direkt gegenüber der Marienkirche zu sehen. Das sind Fotos, die in den tiefsten Anden entstanden sind. Man kann sich keinen größeren Kontrast zwischen meiner Berliner Welt und der vollkommen von Menschen unberührten Welt in den Anden vorstellen. Dort lebe ich mit Condoren, Wasserfällen, die aus höchsten Höhen in die Schluchten stürzen. Dschungelpflanzen sind gigantisch groß wie hier Ulmen oder Buchen. Eine Pracht und Üppigkeit wie am ersten Tag der Schöpfung. Dort habe ich eine Geisterwelt angetroffen, die Naturgeister. Die Berliner sagen, es seien malerische Fotos, sehr archaisch und fragen: „Warum malst Du nicht?“ Ich antworte: „Das dauert mir zu lange. Ich kenne Maler gut. Bevor sie ein Wort herauskriegen vergehen Jahrhunderte, so introvertiert sind sie. Das ist nicht meine Mentalität.