„Der Baum der Verwandlung blüht ewig.“

Gundula, Aktfotografie? Menschen sind im Prinzip ja gleich. Was hast du so anders dargestellt?

Es gibt einige Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen, die grundsätzlich sind oder waren. Das Verhältnis zum eigenen Körper, wie ich mich sehe, auch in der Nacktheit anderen gegenüber trete, das war bei uns unbekümmert. Unsere Nacktheit war nicht okkupiert vom negativen Denken. Wir waren vollkommen ausgelassen in unserer Nacktheit, wir hatten nicht die strengen Standards. Wir waren nicht auf das Äußere festgelegt, hatten nicht die Models als Idol im Kopf. Es war eher so, wie ich es heute in Südamerika empfinde: Jeder gibt sich so wie er ist. Die Südamerikaner sagen, die Gefühle sind wie der Saft einer Pflanze. Wenn wir nackt waren, dann haben wir uns wie die Kinder verhalten, haben uns nicht geschämt. Es war schön, befreit von allen Klamotten und Masken und einfach bloß Natur zu sein. Die ganze Erotik und Sexualität war in der DDR unbekümmert. Jemand sagte mal, „Ja mein Gott, ihr kanntet keine Pornografie?“. Ich fragte: „Warum besetzen Sie das so negativ, wenn ich nur über eine unbekümmerte Erotik, Sexualität und Sinnlichkeit spreche? Sie hat doch gar nichts mit Pornografie zu tun!“ Pornografie ist das Gegenteil davon. Der ganze Osten, nicht nur die DDR war so. Ich meine nicht nur die Frauen auch die Männer waren so. Auch in Polen, in Ungarn, in Russland. Bis heute ist es so geblieben.

Wenn ich in diese Länder fahre und sehe, wie Mann und Frau miteinander umgehen, habe ich großen Spaß, ihre schöne, reinherzige und sinnliche Art zu beobachten. Das ist einfach zauberhaft.

Gundula, ich habe mir immer schon Gedanken gemacht: Wie wird man in diesem Land mit deinen Arbeiten und der Fotografin dazu umgehen? Das hast du erzählt. Wie hast du damals deine Motive gefunden? Wie erreichten sie dich und wie war die Reflexion?

Ich bin 1969 als Fünfzehnjährige zum ersten Mal nach Berlin gekommen und war vom „Scheunenviertel“ in Berlin Mitte begeistert. Nur dort wollte ich wohnen und später hat es sich so ergeben. Ich wohnte, wie auch Regine Hildebrand, in der Rosa Luxemburg Straße 1. Nicht weit vom Alex also. Ich hatte damals, wie jedes junge Mädchen, Mode, Klamotten und Männer im Kopf. Ich war nicht so ehrgeizig und systematisch, wie das vielleicht heute aussehen mag, wenn man meine Fotos sieht. Ich fotografierte das normale Leben. Die Menschen, denen ich dort begegnete, haben fast alle den Krieg erlebt. Das Seltsame war, dass sie aus ihren Wohnungen nicht weg wollten. Sie sind alle in Mitte geblieben. Das war damals die Max-Beer-Straße, die Almstädtstraße. Die Torstraße hieß Wilhelm-Pieck-Straße.

Alle, die da wohnten, wollten nicht weg. Ich kam hinzu und sie hatten alle eine Geschichte zu erzählen. Ich wollte sie anfangs gar nicht hören. Doch man kann nicht in einer Gegend wohnen und dort die Einwohner, ihre Lebensgeschichten und ihre Lebensart ignorieren. Vielleicht vergingen drei, vier Jahre und dann war ich plötzlich mittendrin. Ich hatte viel Zeit. Das war ein Vorteil. Eigentlich bin ich fast jeden Tag durch die Straßen gewandert. Ich habe mich einfach treiben lassen durch die Schönhauser, durch die Gipsstraße oder Mulackstraße und fast jeden Tag passierte etwas und für mich war es ein unglaubliches Abenteuer.

Im Nachhinein lässt sich ja alles viel leichter begreifen. 1977 bin ich in die Rosa-Luxemburg-Straße gezogen und hatte keine Ahnung davon, dass sich 1989 die Grenze auflösen würde. Gerade auf den letzten Drücker habe ich das Berliner „Milieu“ in seinen letzten Zügen erkennen können. Ein perfektes Timing, es hätte perfekter nicht sein können. Heute habe ich diese wunderbaren Bilder und habe damit quasi die letzten Tage einer Lebensweise eingefangen, die es heute nicht mehr gibt. Es war nicht nur Ost-Berlin, es war das gesamte Berliner Milieu und eben die Zeit der Zwanziger Jahre, eine Zeit, die sich so lange in den Gemäuern bewahrt hat. Diese Art von Leben ist vollkommen vorbei. Ich kann mich erinnern, in einer Kneipe hörte ich ein zauberhaftes Lied aus den alten Tagen des Cabarets. Ich habe gedacht, was weht mir hier der Wind der alten Zeit herüber? Woher kommt diese zauberhafte Stimme?

Beispielbild
 
Sie sang:
„Wenn ich nach Hause geh,
wer ist in meiner Näh?
Ein netter junger Mann
bietet mir Begleitung an.
Ich aber voll verschneit
sage: „Ach es tut mir herzlich leid,
was Sie wollen tu ich nicht,
ich hab noch nie geliebt,
noch nie ein Herz betrübt,
noch nie einen Mund geküsst,
weiß nicht, was Liebe ist.
Beispielbild
 
Dein falsches Männerherz ,
es stillt ja nicht den Schmerz.“
Falsch sind sie alle,
bitter wie Galle:
Den ich nicht leiden mag,
den seh ich alle Tag,
den ich so gerne,
weit in der Ferne.
Wenn doch das Rote Meer
alles Champagner wär,
und ich ein Goldfisch klein
oh glücklich wäre ich dann.“

Wunderbar.

Eine alte Frau hatte gesungen. Einige Tage später kam jemand und bat mich: „Hol’ Margarethe runter“. Sie war über achtzig und konnte nicht mehr alleine die Treppenstufen überwinden. Jeder von uns Jüngeren ging hoch und half ihr. Irgendwann war ich an der Reihe. Sie wohnte auf den Hinterhof in der Lychener Straße. Wie alle anderen alten Leute - mit kahlen Dielen, keinem Teppich, ein Raum, Toilette eine halbe Treppe tiefer -, aber sie hatte ein so sinniges Gemüt. Ich brachte sie in die Kneipe, dort hat sie gesungen. In den zwanziger Jahren war sie Cabaret-Sängerin gewesen.