In eigener Sache: Textarchiv / Toxische Papiere

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Ausdrucke des Textarchivs / Foto: C. Frerk

BERLIN. (hpd) Das Datenarchiv und das Textarchiv der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) werden gut besucht, sind aber sonst ‚leise’ Internetportale. Jetzt gibt es einen Grund, sich zu melden: Im Textarchiv sind nun 136 Texte und genau 1.500 Seiten mit humanistischen, philosophischen und religionskritischen Artikeln.

Begründet wurde das fowid–Textarchiv seinerzeit, um den mittlerweile 270 empirischen Studien des fowid-Datenarchivs eine weitere Dimension der theoretischen wie philosophischen Reflexion hinzuzufügen. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf kürzere Texte gelegt – möglichst unter zwanzig Seiten -, die zudem in einer für allgemein Gebildete verständlichen Sprache geschrieben sind.

Das Themenspektrum des fowid-Textarchivs reicht (alphabetisch) unter anderem von Antisemitismus, Atheismus, Esoterik, Evolutionstheorie, Feuerbestattung, Glaube und Vernunft, Gottlosenkartelle, Hedonismus und Humanismus bis hin zu Sexualität, Sinnsuche, Staatsleistungen, Sterbehilfe, Theodizeeproblem, Wahrheit und Werte.

Als Autoren haben ihre Texte u.a. zur Verfügung gestellt: Hans Albert, Gerhard Czermak, Horst Groschopp, Eric Hilgendorf, Norbert Hoerster, Manfred Isemeyer, Bernulf Kanitscheider, Johannes Neumann, Armin Pfahl-Traughber, Michael Schmidt-Salomon, Volker Sommer, Manfred Spitzer, Gerhard Streminger, Franz M. Wuketits.

C.F.

Der neueste Text ist von Herbert Gerl:

Wohin mit den toxischen Papieren?

Untertitel: Ein lerntheoretischer Blick auf alte Lasten und neue Risiken im Prozess der Zivilisierung des christlichen Monotheismus.

Herbert Gerl beginnt mit einer Feststellung Nietzsches: „Alle Religionen zeigen ein Merkmal davon, dass sie einer frühen unreifen Intellektualität der Menschheit ihre Herkunft verdanken.“ Daraus resultiert heute für die Religionen ein Problem, denn die Situation ist „in mancherlei Hinsicht prekär. Es zwingt sie - um beim Beispiel des Christentums zu bleiben - zu unvorhergesehenen und merkwürdigen Manövern. Sie müssen, damit sie auch heute noch gehört werden und mit ihrer göttlichen Botschaft ‚ankommen’, etwas tun, was sie eigentlich gar nicht wollen dürfen: sie müssen diese Botschaft nach Maßgabe ihres eigenen Verstandes, so gut es eben gehen will, nacharbeiten und die ‚gute Nachricht’ durch, wie es heißt, ‚pastorale’ Auswahl und Auslegung verbessern, um sie dem inzwischen eingetretenen späteren und reiferen Stadium der intellektuellen Entwicklung und dem fortgeschrittenen moralischen Standard ihres Publikums wie einer kritischen Öffentlichkeit anzupassen und kompatibel zu halten.“

Die Vertreter der Religionen müssen also lernen. Was sie getan haben, und „so ist schließlich - wie Nietzsche in einem durchaus zweischneidigen Kompliment feststellt - im Verlauf einer jahrhundertelangen Entwicklung, aus dem Christentum als einer „ländlichen Plumpheit… eine sehr geistreiche Religion geworden, mit Tausenden von Falten, Hintergedanken und Ausflüchten im Gesichte.“

„Den Hintergrund dieser Überlegungen bildet dabei - wie schon angedeutet - der systemtheoretische Befund, dass jedes System, das seine Umweltbeziehungen nicht oder nicht ausreichend optimieren kann, das also nicht im gebotenen Maße weiterlernt, über kurz oder lang zu einem natur- oder auch kulturgeschichtlichen Dinosaurier wird und zwar noch Staunen erregen, aber keinen kreativen Beitrag zu einer humanen Zivilisation mehr leisten kann.“

Die Religionen müssen also lernen, ein Projekt, dem Peter Sloterdijk ein Ziel gegeben hat: „Die Zivilisierung der Monotheismen.“ Was aber steht einer endgültigen Zivilisierung des christlichen Monotheismus im Wege? Es sind die „toxischen Papiere“ der Gründerzeit.

Der Begriff wurde von Herbert Gerl in bewusster Anlehnung an die „Wertpapiere“ der Banken formuliert, zu denen er schreibt: „Mit Erstaunen hat vor kurzem eine breite Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen müssen, dass Institute, ausgestattet mit Macht, Geld und Prestige - ich meine die Banken - , diese Stellung im öffentlichen Leben zu einem guten Teil aufgebaut hatten auf der Grundlage dessen, was man seitdem mit diesem Begriff benennt. Es sind „Wertpapiere“, die, wie ein in dieses Spiel teilweise einbezogenes und entsprechend irritiertes Publikum inzwischen weiß, nichts mehr wert sind, weil sie auf Spekulationen beruhten, die leider ‚geplatzt’ sind. Dieser Luftballoneffekt, für die Betroffenen durchaus unangenehm, entsteht bekanntlich immer dann, wenn an etwas geglaubt wird, das irgendwann, früher oder später, an die Realität anstößt und dieser Prüfung durch die harte Wirklichkeit nicht standhält.“

Also: „Kann es eine Ausgliederung und womöglich Endlagerung dessen geben, was sich einer begründbaren Wertschätzung und zeitgemäßen Weiterentwicklung der religiösen Option in den Weg stellt?“

Zur Vergegenwärtigung dessen, worum es sich (beispielsweise) handelt, dokumentiert Herbert Gerl aus dem Kernbestand des „Buch der Bücher“; zum einen aus dem Alten Testament und dem Propheten Jesaja, zum anderen aus dem Neuen Testamen und den Schriften des Paulus. Es verdeutlicht die Sichtweise eines zornigen Vatergottes, der sich nicht anders zu helfen weiß als seinem Zorn seinen unschuldigen Sohn sich selbst zum Opfer zu bringen.

Schwarze Pädagogik

Beide, Jesaja und Paulus, repräsentieren einen bestimmten Typus des Lernens und der Pädagogik, „den Typus des Lernens aus Angst, des Lernens aufgrund von Drohungen, der Verhaltensanpassung durch Konditionierung; es ist, wie man das erziehungswissenschaftlich seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nennt, ‚schwarze Pädagogik’ in reiner Form. (...) In beiden Fällen werden Menschen ohne Bedenken zu Objekten gemacht, deren möglicher Eigensinn als störendes Element betrachtet und folgerichtig eliminiert werden muss.
Alice Miller hat als Psychotherapeutin das Konzept solcher schwarzer Pädagogik auf eine griffige und zugleich erhellende Formel gebracht. Der Imperativ hinter allen erzieherischen Einzelmaßnahmen, hinter allen Lern- bzw. Anpassungsforderungen lautet: ‚Du sollst nicht merken’. Es sollen im Lernenden bestimmte Haltungen internalisiert werden und ihm in Fleisch und Blut übergehen, ohne dass sich das Objekt solcher Manöver Klarheit darüber verschaffen darf, was eigentlich vor sich geht und was mit ihm geschieht.“

Nach der Aufzählung der langen Reihe der ‚schwarzen Imperative’ des „Du sollst nicht merken,...“ nennt Gerl das oberste dieser Gebote, „das das ganze System dieser Denkverbote abstützt und gegen Kritik immun macht: Du darfst noch nicht einmal merken, dass Du dies alles nicht merken sollst. Es gehört mit zu Deinen Aufgaben, dies alles vor Dir selber zu verbergen und Dir einzuprägen, dass Lernen und Erkennen für Dich schädliche Bemühungen sind. Denn dieser Gott hat für Dich nicht Erkenntnis und Aufklärung, sondern das Dunkel und das Geheimnis, das Meinen und Glauben vorgesehen.“

Nun stutzt man natürlich, denn die Kirchen zeigen heute, insgesamt gesehen, doch ein anderes Gesicht als die Düsternis in den „toxischen Papieren“. Sind die Grundlagentexte vielleicht innerkirchlich bewusst beiseite gelegt werden? Nein. „Im Gegenteil: die Kirchen halten, mit einer, wenn man die Gründe nicht kennt, erstaunlichen Ungeniertheit und Hartnäckigkeit ausnahmslos an allen, auch den krudesten Texten fest.“

Die schönen und die hässlichen Stellen

Geht man nun auch davon aus, dass kein Pastor heute das Lernen als schwarze Pädagogik befürwortet, entsteht umgehend die Frage, wie es denn möglich sein soll, „auf der Grundlage solch schwarzer Texte eine andere, freiere, nicht drohende oder ängstigende Praxis aufzubauen? Versuche in dieser Richtung werden von Seiten der Kirchen mit Hilfe einiger Manöver in Angriff genommen, die im Folgenden zu skizzieren sind.“

1. a. Alles, was - nach Auskunft einer innerkirchlich gut entwickelten stillen Zensur - nicht mehr zitierfähig ist, wird einfach nicht mehr zitiert und weggelassen, und
1. b. Anwendung der „Strategie der schönen Stellen“, von denen es ja auch in der Bibel einige gibt. Allerdings muss man sich dann des mühsamen Peinlichkeitsvermeidungslernens (Sloterdijk) befleißigen, (da an die schönen Stellen meist abrupt wieder Bedrohliches folgt) d.h. ein schwarzes Lernen zweiter Ordnung.
2. Die Strategie der „systematische Gewöhnung an das Unglaubliche, die Veralltäglichung (und damit Verharmlosung) des eigentlich Schrecklichen. Auch diese Einübung des Nicht-Wahrnehmens, die „ sorgfältige Missachtung des Offensichtlichen ist ein strategisch genau platziertes schwarzes Lernen. Das Bestehen auf einer frühestmöglich einsetzenden christlichen Erziehung von Kindern (in Krabbelgottesdiensten, christlich geführten Kindergärten, in Kinder-Bibel-Wochen, in Aktionen und Ausstellungen „Kinder malen die Bibel“ usw.) soll dazu führen - und führt in der Tat dazu - , dass wiederum nicht bemerkt wird, was da eigentlich an unglaublichen „Glaubensinhalten“ transportiert wird. Allem voran ein blutiges „Erlösungswerk“ Jesu, dessen unbehebbare Absurdität oben expliziert wurde. Das Kreuz - ein tödliches Folterinstrument: überall, schon in Kindergärten, dann in Schulen und Schulbüchern, in Kirchen und Friedhofskapellen, weithin sichtbar und nachts angestrahlt auf Kirchtürmen, bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen, in jeder kirchlichen Aktion und Publikation ganz selbstverständlich präsent. Der blutüberströmte, gequälte Körper Jesu - ein alltägliches Bild, bei dem man sich nichts mehr denkt. Und man soll sich auch nichts mehr dabei denken.
3. Daneben gibt es aber noch ein drittes Element. „Man könnte es die Strategie der theologischen Vernebelung nennen.“ Die Formulierungen, die sich Theologen ausdenken, für etwas, was eigentlich ganz offensichtlich sein müsste.

Zwischenfazit: „Peinlichkeitsvermeidung, Gewöhnung, Verschleierung verändern zwar die Kommunikation und Wahrnehmung der Kirchen in der Öffentlichkeit, aber es sind allesamt Ausweichbewegungen und damit Formen defizitären Lernens. (...) Solchem defizitären Lernen ist ein anderer Lernbegriff gegenüberzustellen, der sich dadurch auszeichnet, dass er es dem Lernenden (sei es ein Einzelner, sei es eine Organisation) ermöglicht, die Grundlagen seines eigenen Denkens und Handelns genau, ohne Einschränkung, ohne Tabu, ohne Strafandrohung in den Blick zu nehmen und aufzuklären. Es ist ein Lernen, das nicht von außen, durch die Umstände aufgenötigt, sondern vom Lernenden selbst, in eigener Regie und Verantwortung initiiert und fortgesetzt wird, solange und soweit, wie er es will. Es ist der anspruchsvolle Weg - sagen wir es ohne Scheu vor großen Worten - eines Lernens als Selbstentwicklung und Selbstbefreiung.“

Herbert Gerl erläutert nun die Konzepte von Maslow, Rogers und Perls. Resümee: „Menschen sind, so Rogers, wenn ihr Selbst nicht bedroht wird, zu einer produktiven Auseinandersetzung mit der Welt, in der sie leben, fähig. Sind sie dazu auch willens? Er bejaht diese Frage eindeutig.“
Und: „All diesen Prozessen liegen, wie es Rogers formuliert, „die vorwärtsbewegenden Kräfte des Lebens selbst zugrunde“. Um diese Kräfte in dieser Weise zur Wirkung und Entfaltung kommen zu lassen, ist eines notwendig: die Offenheit und Freiheit eines bereinigten Anfangs. Auch für Gemeinschaften religiösen Glaubens gilt: Jede Art humaner Entwicklung, jeder weiterführende Schritt in Richtung Zivilisierung setzt voraus, sich der Fesseln eines schwarzen Anfangs (der Einschüchterung, der Dressur, der Dogmatik, des Misstrauens gegen die conditio humana) zu entledigen und auf anderer, unbelasteter Grundlage aufzubauen.“

Aufklärung und Neuanfang

Gerl beginnt seinen abschließenden Absatz mit einem Zitat von Peter Sloterdijk: „’Die Zivilisierung der Monotheismen ist abgeschlossen, sobald die Menschen sich für gewisse Äußerungen ihres Gottes, die unglücklicherweise schriftlich festgehalten wurden, schämen wie für die Auftritte eines im allgemeinen sehr netten, doch jähzornigen Großvaters, den man seit längerem nicht mehr ohne Begleitung in die Öffentlichkeit lässt’. Die Komik in diesem Resümee sollte nicht über seinen inhaltlichen Ernst täuschen: Solche Scham wäre das späte Erwachen aus einem Traum, der während der längsten Zeit seiner Dauer für allzu viele, auch im christlichen Abendland, ein veritabler Alptraum gewesen ist. Es wäre das unwiderrufliche Ende eines Megaexperiments in schwarzer Pädagogik; eines Experiments, das, gemessen an seinen eigenen Ansprüchen, zwar insgesamt missglückt ist, das aber gerade durch sein Scheitern hoffen lässt: hat es doch Menschen dazu gebracht, sich gegen inhumane Zumutungen zur Wehr zu setzen und so Gegenkräfte, Antikörper gegen eine Infektion produziert, die - in einem tiefen Sinn - lebensgefährlich war. Es wäre das gute und fröhliche Ende des monotheistischen Symptoms insgesamt: einer Selbstfesselung, die sich als Religion missversteht.“

Zum gesamten Text im fowid-Textarchiv.