"Wokeness ist letztlich eine anti-wissenschaftliche Weltanschauung"

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Nach den beiden im hpd veröffentlichten Texten über die jüngste Vorstandswahl bei der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) kochen die Emotionen hoch – wie so oft, wenn es um Begriffe wie "Wokeness" geht, unter denen viele etwas anderes verstehen. hpd-Autor Florian Schwarz, der sich seit langem mit diesem Thema befasst, versucht hier darzustellen, wovon eigentlich die Rede ist und weshalb es der GWUP gut täte, sich selbst an ihren eigenen Maßstäben zu messen.

Eine Ideologie breitet sich aus im Westen, seit Jahren still und leise, jetzt mit zunehmendem Lärm. Es klafft bereits ein tiefer Spalt zwischen ihren Anhängern und Gegnern, und er tut sich nicht auf zwischen links und rechts, progressiv und konservativ, wohlhabend und arm, sondern quer zu allen Lagern. Zerwürfnisse und Entfremdung sind auch unter Linken und Linksliberalen zu beobachten – und ausgerechnet auch in Gruppen, die sich der wissenschaftlichen Aufklärung verschrieben haben.

Die Ideologie, von der die Rede ist, wird häufig als "Wokeness" (deutsch auch Wokismus) bezeichnet. Ursprünglich stammt das Wort woke von schwarzen Aktivistinnen und Aktivisten in den USA der 30er Jahre und bedeutete, achtsam und sensibel zu sein gegenüber rassistischer Diskriminierung. Heute beanspruchen Woke für sich, besonders aufmerksam zu sein gegenüber allen Formen von Diskriminierung; sie wollen tolerant und empathisch sein, bereit, von Minderheiten zu lernen, wo Unterdrückung stattfindet – und etwas dagegen tun.

Dieser Anspruch macht Wokeness vordergründig sympathisch und attraktiv – zumal die meisten Menschen sich angesprochen fühlen von positiv besetzten Worten wie Gerechtigkeit, Gleichheit oder Antirassismus. Wer also Woke und Wokeness kritisiert, begibt sich in die Gefahr, als jemand abgelehnt zu werden, der sich dem aufrechten Kampf gegen Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung in den Weg stellt.

Nun wirft die Wokeness ihren Schatten auch auf die GWUP, die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften. Im Streit um die Frage, ob Fächer und Theorien aus dem Feld der sogenannten Critical Studies (CS) als wissenschaftlich akzeptiert oder als unwissenschaftlich kritisiert werden sollten, ist ein heftiger Streit entbrannt. Ein Streit, der offenbar auch den Hintergrund bildet für die überraschende Wahl des neuen GWUP-Vorstands. Manche sprechen gar von einem Putsch, da sich im Vorfeld heimlich eine Gruppe einflussreicher Mitglieder getroffen hatte, die die Kritik an den CS offenbar als irgendwie politisch ablehnt. Was in diesem Falle nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da die CS selbst den Anspruch haben, die Gesellschaft politisch zu beeinflussen. Auch herrschte offenbar die Sorge, Kritik an CS – und damit an Wokeness – könnte als Beleg für eine rechte Gesinnung interpretiert werden oder sei sogar ein solcher Beleg. Unmittelbar vor der Wahl des Vorstands jedenfalls zauberte die Gruppe einen eigenen Vorstandskandidaten aus dem Hut (wenn in dem Kontext dieses Bild erlaubt ist) und überrumpelte die Mitglieder – zumindest jene, die von den Absprachen nichts wussten.

Aber was lässt sich gegen Wokeness überhaupt einwenden? Vordergründig scheinen die Ansprüche und Ziele dieser Ideologie ja keine anderen zu sein als die des liberalen, aufgeklärten Humanismus.

Tatsächlich stellt Wokeness jedoch eine Abkehr von den naturwissenschaftlichen Prinzipien und vom humanistischen Weltbild dar. In den Geistes- und Sozialwissenschaften führt Wokeness bereits seit Jahren dazu, dass kein objektiver Standpunkt gegenüber Forschungsobjekten eingenommen wird, sondern ein moralischer, die entsprechenden Arbeiten sind deshalb nicht mehr wirklich ergebnisoffen.

Das wird schnell klar, wenn man sich vor Augen führt, dass Wokeness eigentlich nur ein anderes Wort für "Critical Social Justice" ist. "Critical" bedeutet hier nicht nur kritisch den gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen gegenüber. Kritisch werden hier vielmehr die üblichen Methoden gesehen, mit denen heute Wissen über die Welt gewonnen wird. Kritik bedeutet hier besonders auch "Selbstkritik" derjenigen, die von gesellschaftlichen Privilegien profitieren.

Wokeness geht von folgenden Prämissen aus: Wissen ist nicht das, was wir an Erkenntnissen über die Realität sammeln, indem wir unsere Ideen, Vorstellungen, Hypothesen an ihr testen und dann korrigieren und anpassen. Wissen ist vielmehr ein soziales Konstrukt. Gruppen, die sich durch verschiedene Eigenschaften auszeichnen – etwa die ethnische Herkunft, die Kultur, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder Identität – machen ihre eigenen Erfahrungen und verfügen deshalb über ein eigenes spezifisches Wissen. Da andere Gruppen nicht dieselben "gelebten Erfahrungen" machen, können sie dieses Wissen nicht infrage stellen.

Jede Gruppe kann also für sich ihre eigene Wahrheit beanspruchen, die akzeptiert werden muss. Selbst wenn sich das Wissen der Gruppen widerspricht. Zu entscheiden, dass eine Gruppe mit ihren Erfahrungen der Realität näher kommt als eine andere Gruppe, ist für Woke anmaßend und diskriminierend. Vor diesem Hintergrund hat etwa Neuseeland beschlossen, an Schulen das traditionelle, teils esoterisch-religiöse "Wissen" der Maori zu lehren – als andere, aber gleichberechtigte Form des Wissens neben den naturwissenschaftlichen Fächern, die ja nur das "westliche" Verständnis von Wissenschaft berücksichtigen. Eigentlich dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Kreationisten den Ball aufnehmen und fordern, ihr besonderes religiöses Wissen über die Schöpfung müsse neben der Evolutionstheorie im Biologieuntericht gelehrt werden. Hatten wir das nicht schon?

Wokeness beruht darüber hinaus stark auf den Vorstellungen des postmodernen Säulenheiligen Michel Foucault, demzufolge alle, wirklich alle Beziehungen und Verhältnisse auf Macht ausgerichtet sind: Immer und überall gibt es Unterdrücker und Unterdrückte. In der westlichen Welt stellen natürlich weiße, heterosexuelle Männer die dominierende Gruppe dar. Sie sollen deshalb in der Lage sein, zu bestimmen, welches Wissen gelten soll. Und natürlich bevorzugen sie Erkenntnisse, die ihren eigenen Interessen dienen. Sie bestimmen den vorherrschenden "Diskurs" und die "Narrative" in der Gesellschaft, denn sie entscheiden, wie über was gesprochen wird. Sie sichern sich so ihre Privilegien und unterdrücken die Wahrheit anderer Gruppen.

Wer nun in einer solchen Gesellschaft aufwächst, internalisiert deren Strukturen, die geprägt sind durch Hass, Scheinheiligkeit, Egoismus, Unterdrückung. Diejenigen, die von diesen Verhältnissen profitieren, können sich ihnen nicht leicht entziehen; sie halten daran fest und verteidigen sie, häufig, ohne sich dessen bewusst zu sein. Denn da sie Teil des Unterdrückungssystems sind, bleiben dessen Strukturen für sie weitgehend unsichtbar.

Aber für gute Menschen gibt es Rettung: Sie müssen auf die Anhänger der Critical Social Justice hören. Sie müssen woke werden. Sie müssen helfen, den Diskurs zu ändern – zum Beispiel, indem sie die Sprache ändern.

Für marginalisierte Gruppen ist das woke Weltbild besonders interessant, da ihr spezifisches "Wissen" angeblich helfen kann, die unsichtbaren Machtstrukturen aufzudecken und aufzuzeigen – den vielbeschworenen, aber selten genau beschriebenen strukturellen Rassismus und Sexismus, das weiter vorherrschende Patriarchat, Homophobie, Transphobie, toxische Männlichkeit, etc., die alle Schichten der Gesellschaft, alle ihre Institutionen, ihre kulturellen Normen und Werte, die Gesetze und die Polizei prägen sollen. Dafür werden noch die schwächsten Hinweise aufgespürt – etwa sogenannte "Mikroaggressionen".

Die "wissenschaftlichen" Analysen der Critical Social Justice bestehen darin, alle vorherrschenden Narrative, Paradigmen, Diskurse und Erkenntnisse infrage zu stellen, da sie den Machthabern dazu dienen, andere zu unterdrücken. Das Aufdecken der Strukturen funktioniert unter anderem durch Dekonstruktion (eine Methode, Sprache und Texte zu deuten, um deren eigentliche Aussagen bloßzulegen – unabhängig davon, was die AutorInnen selbst zu sagen meinen). Wo es schwierig ist, die Wurzeln von wahrgenommenen Problemen zu identifizieren, werden Faktoren so lange "problematisiert", bis alles ins woke Weltbild passt. Mit dem Ziel, die Unterdrückung nonbinärer Menschen oder Transpersonen zu beenden, wird zum Beispiel die Realität der biologischen binären Geschlechtlichkeit "problematisiert" und infrage gestellt. Der heterosexuellen Mehrheit wird außerdem "Heteronormativität" vorgeworfen als Mittel, die eigene Macht zu erhalten. Wer sagt, es gebe nur zwei biologische Geschlechter (und natürlich Intersexelle), entlarvt sich als transphob.

Das Ziel der sozialen Gerechtigkeit lässt sich nun aber nur erreichen, wenn genug Menschen woke werden und helfen, die unsichtbaren Machtstrukturen abzubauen. (So sind etwa Ibram X. Kendi zufolge alle Menschen so lange Rassisten, bis sie sich entsprechend seiner Vorstellungen als "Anti-Rassisten" engagieren.) Wer anderer Meinung ist als die Woken, ist eben noch nicht aufgewacht, ist ein Ignorant oder schafft es nicht, die eigenen Privilegien einzuräumen oder gar aufzugeben – im woken Jargon ist hier häufig die Rede von "White Fragility" (Robin DiAngelo). Um diesem Vorwurf zu entgehen, wenden sich auch immer mehr vormals rational denkende, kritische und vor allem selbstkritische Menschen dieser Ideologie zu – wahrscheinlich häufig, ohne sich der absurden und dunklen Seiten der Wokeness bewusst zu sein.

Der Platz reicht hier nicht, um alle Aspekte der Wokeness, ihre Ursprünge und Absurditäten darzulegen. Wer aber bis zu diesem Punkt noch immer Sympathie für diese Ideologie hegt, sollte sich letztlich die Gretchenfrage stellen: Wie halte ich es tatsächlich mit der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen? Denn im Mittelpunkt der Wokeness stehen nicht die einzelnen Individuen mit ihrer Würde und ihren Wünschen. Die Idee des Universalismus – dass alle Menschen trotz aller Unterschiede als Menschen im Prinzip gleich und gleichberechtigt sind, wie es die Philosophen des Humanismus, allen voran Denis Diderot, erklärt haben – wird von der woken Ideologie abgelehnt. Das lässt sich etwa bei Vertretern der sogenannten Critical Race Theory wörtlich nachlesen: "Anders als der traditionelle Bürgerrechtsdiskurs [etwa von Martin Luther King, d.A.], der die Betonung auf Inkrementalismus [Verbesserung bestehender Strukturen, d.A.] und schrittweisen Fortschritt legt, stellt Critical Race Theory gerade die Grundlagen der liberalen Ordnung infrage, inklusive der Gleichheitstheorie, des Abwägens rechtlicher Argumente, des Rationalismus der Aufklärung und der Neutralitätsprinzipien der Verfassung." ("Unlike traditional civil rights discourse, which stresses incrementalism and step-by-step progress, critical race theory questions the very foundations of the liberal order, including equality theory, legal reasoning, Enlightenment rationalism, and neutral principles of constitutional law." (Richard Delgado & Jean Stefancic: Critical Race Theory: An Introduction, 3rd Edition, New York 2017)

Woke unterteilen die Menschheit anhand von bestimmten Merkmalen in Gruppen und betonen deren Unterschiede und ihre dadurch angeblich definierten besonderen Identitäten – Hautfarbe (auch wenn das nicht mehr laut gesagt werden soll), Kultur, Religion, sexuelle Orientierung und Identität und so weiter. Diese Identitätspolitik überschneidet sich deutlich mit dem Weltbild der Rechten, die darüber hinaus allerdings verschiedene Gruppen nicht nebeneinander in einer Gesellschaft leben lassen wollen, sondern ihnen bestimmte Weltregionen zuteilen möchten. Diese Aufspaltungen der Gesellschaften, ja der ganzen Menschheit, ist ganz im Sinne der anti-aufklärerischen Vorstellungen mancher europäischer Philosophen wie etwa Herder mit seinen Ideen vom Volksgeist, und der Anhängern der neuen Rechten. Aus der linksliberalen, humanistischen Sicht lässt sich Wokeness deshalb kaum anders als reaktionär betrachten.

Wie oben bereits gesagt, zielen Woke nicht darauf, objektive Erkenntnisse zu gewinnen und Aberglaube zu bekämpfen, indem Vorstellungen und Überzeugungen immer wieder einem Realitätscheck unterzogen werden – eigentlich die Methode, der sich die GWUP verschrieben hat. Im Gegenteil: Die naturwissenschaftliche Methode wird als ein Werkzeug des Machterhalts abgelehnt, das weiße, westeuropäische Männer entwickelt haben, um Imperialismus, Kolonialismus, Sklaverei rechtfertigen und alle anderen Menschen und die Natur auszubeuten zu können. Stattdessen geht Wokeness davon aus, dass jede Gruppe neben ihrer Identität auch über eine eigene, gleichwertige Wahrheit verfügt. Selbst wenn sich deren Aussagen diametral widersprechen. Es geht hier also nicht nur um Eigenheiten bestimmter Fachdisziplinen, die Uneingeweihte auch mal irritieren können. Es geht nicht darum, dass einzelne Vertreterinnen und Vertreter ihrer Fächer auch mal Unsinn reden und so einen falschen Eindruck von Unwissenschaftlichkeit erwecken. Sondern: Wokeness ist letztlich eine anti-wissenschaftliche Weltanschauung.

Da Kritik an Wokeness von vielen Menschen unweigerlich als Hinweis auf eine falsche Gesinnung interpretiert wird, kann man es nicht genug betonen: Alle Probleme, die Woke prinzipiell ansprechen – Rassismus, Sexismus, Homophobie und so weiter – existieren in unserer Gesellschaft leider immer noch. Sie werden von Linken und Liberalen genauso wahrgenommen und bekämpft wie von Woken. Das woke Weltbild ist jedoch keine Voraussetzung dafür, diesen Kampf zu führen. Im Gegenteil. Es ist zerstörerisch. Denn: Mit ihrer Betonung der Gruppenidentitäten und -unterschiede, ihrer bedingungslosen Forderung nach Loyalität, der sozialen Ächtung Andersdenkender, der Ablehnung von Individualität, Universalismus, des Humanismus (und damit letztlich der universellen Menschenrechte), mit ihrer Anerkennung eigener "Wahrheiten" ethnischer, kultureller oder anderer Gruppen, der Ablehnung einer möglichst objektiven, naturwissenschaftlichen Erkenntnissuche, mit ihrem Anspruch, Opfer zu sein oder für gedemütigte und unterdrückte Opfer einzutreten sowie ihrer Unterwerfung unter die Prämissen ihrer postmodernen Führungsfiguren weist Wokeness insgesamt religiöse und – man wagt es kaum zu sagen – der Definition nach faschistoide Züge auf.

Nun werfen Woke genau solche Züge ihren Kritikerinnen und Kritikern vor. Und tatsächlich nutzen viele Rechte und Konservative, religiöse oder faschistoide Eiferer die Kritik an Wokeness, um im eigenen Lager Stimmung zu machen und von anderen Problemen abzulenken. Das belegen die erschütternden Entwicklungen in den USA. Die Motive eines Ron DeSantis – aber auch eines Markus Söder – Wokeness zu kritisieren, sind jedoch andere als die aus einem humanistischen Weltbild heraus. Wer Kritik an Wokeness mit einem Hinweis auf DeSantis, Trump und Co. pauschal abwehrt, wendet die gleichen perfiden Werkzeuge an wie die Rechten.

Es bleibt zu hoffen, dass gerade Organisationen wie die GWUP, die sich explizit der wissenschaftlichen Aufklärung verschrieben haben, sich nicht darauf beschränken, Homöopathie, Astrologie, Anthroposophie oder Esoterik aller Couleur als unwissenschaftlich und gefährlich zu entlarven. Ihre Mitglieder sollten den Mut aufbringen, keine fragwürdigen Bereiche auszulassen. Sie sollten sich auch die Methoden und Arbeiten der Critical Social Justice, der Critical Studies, der Wokeness vornehmen. Auch wenn das vielleicht Follower auf Twitter, Freundinnen und Freunde auf Facebook, sogar Teile des Publikums ihrer Vorträge und der Leserschaft ihrer Bücher kostet. Gerade GWUP-Mitglieder sollten der Versuchung widerstehen, zur einen Seite auf Wissenschaftlichkeit zu bestehen, aber zur anderen Seite zu signalisieren, es gebe einen gewissen Spielraum für verschiedene Realitäten. Ein solcher Opportunismus geht an die Substanz der Organisation.

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