Selbstbestimmtes Leben. Berichte

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Moira Frank. Foto: privat

(hpd) Der hpd hat zwei junge JournalistInnen gesucht und gleich drei gefunden. Die 17jährige Moira Frank gewann den hpd-Nachwuchspreis in der Kategorie U18:

März 2010. Das 21. Jahrhundert, irgendwo in Deutschland. Wir sind jung, wir kennen Krieg aus Filmen und Spätnachrichten und die Gründe aus dem Politikunterricht der oberen Klassen. Wir können und dürfen unser Leben selbst bestimmen. Können wir das?

Marc, 16: Ich besuche die Hauptschule, bin in den Abschlussarbeiten und schon seit Wochen auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Ich höre oft, Hauptschüler seien Kriminelle, Versager, Idioten. Man geht nicht einmal mehr davon aus, dass ich und andere später überhaupt arbeiten möchten.

Ellen, 13: Meine Eltern sind streng katholisch. Ich besuche jeden Sonntag die Kirche, meine Eltern sind konservativ und verschlossen. Wir können nicht vernünftig reden. Ich zwei Monaten bin ich vierzehn Jahre alt und kann ohne Zustimmung meiner Eltern aus der Kirche austreten. Noch wissen sie nichts davon.

Miriam, 15: „Religionen brauchen gerade heutzutage Dialog, genau wie Kulturen, es ist eben nicht mehr alles aktuell. Das man nicht hinterfragt, ist in gewissem Sinne sogar gefährlich. Ich kann ja nicht einfach alles akzeptieren, nur weil das vor zweitausend Jahren so war.“

Alex, 17: Ich gehe auf ein privates Gymnasium. Zu Bekannten aus der Grundschulzeit habe ich kaum noch Kontakt, Gymnasiasten gelten als arrogante Besserverdiener reicher Eltern. Ich bezahle meine Busfahrkarte selbst, da Schüler nur bis Ende der Schulpflicht unterstützt werden.

Nina, 14: Meine Eltern haben sich getrennt. Das ist besser so, der Streit hat jetzt endlich aufgehört, auch wenn es sehr weh getan hat und meine kleine Schwester viel geweint hat. Aber wir sehen unseren Vater jedes Wochenende. Wir konnten auch mitreden und durften selbst entscheiden, wo wir bleiben wollten. Letztendlich ist es jetzt ganz gut so. Natürlich auch traurig.

Marie, 17: Ich habe die Qualifikationsphase nicht bestanden. Meine Noten werden schlechter und schlechter. Wenn ich achtzehn bin, werde ich von zu Hause ausziehen. Einen Ausbildungsplatz habe ich so gut wie sicher.

Janik, 12: Mein Papa schimpft oft ganz böse über seine Chefin. Er findet, dass Frauen sich lieber um ihre Kinder kümmern sollten, statt Leute, die vernünftig arbeiten wollen, herumzukommandieren.

Roiben, 19: Ich habe mich entschlossen, Theologie zu studieren. Meine Freunde sagen, ich spinne, aber ich möchte dazu beitragen, den Menschen Religion wieder näher zu bringen. Religion muss nicht prüde und konservativ, sondern kann auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch ein Angebot sein.

Mareike, 21: Ich besuche regelmäßig meinen Vater, der seit fünf Jahren mit einem Mann zusammenlebt. Homophobie ist etwas, was ich zutiefst verabscheue. Homophobie ist eine der dümmsten, plattesten und leider viel verbreiteten Hassausrichtungen. Mein Papa ist ein toller Mann.

Sara, 15: Ich habe Krebs. Ich bin schon als Kind regelmäßig zur Vorsorge gegangen, Krebs ist häufig in unserer Familie. Vor zwei Jahren kam die Diagnose. Meine Chancen sind nicht hoch, aber ich habe nicht vor, kampflos aufzugeben. Ich bin allen dankbar, die bei mir sind, jeden Moment.

Antonia, 19: Einem Freund geht es nicht gut. Er schläft kaum, isst zu wenig und ist wortkarg und aggressiv. Ich habe versucht, mich ihm zu reden, aber er will nicht. Ich habe Angst um ihn, aber was soll ich machen? Er ist von zu Hause weggezogen, es kümmert sonst keinen.

Eileen, 18: Letztes Jahr im Juli hatte ich mein Coming Out. Meine Eltern haben es erstaunlich gut verarbeitet. Einige frühere Freunde reden heute kein Wort mehr mit mir. Bald habe ich mein Abi in der Tasche und dann geht’s ein Jahr ins Ausland. Mit Lena.

Jerek, 14: Ich bin seit zwölf Jahren querschnittsgelähmt. Ich kenne viele geistig und körperlich Behinderte. Wir sind keine Bekloppten und keine Spasten. Ich versuche, mein Leben zu genießen und dankbar für das zu sein, was ich habe.

Moira, 17: Wir sollten lernen, uns zu öffnen, und uns nicht hinter unserer eigenen Unsicherheit zu verbergen, indem wir Menschen beschimpfen, die wir nicht verstehen oder deren Verhalten nicht mit unserer anerzogenen, antrainierten Ästhetikvorstellung übereinstimmt. Ich? Ich habe Glück. Ich kann nicht erst seit gestern entscheiden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Ich habe das Glück, hier und heute nicht unter ständiger Bedrohung von Freiheit und Sicherheit leben zu müssen. Ich kann mein Leben selbst bestimmen.

Zumindest wünsche ich mir das, ein selbst bestimmtes Leben. Und jedem anderen auch.
 

Moira Frank
 

 

Selbstbeschreibung

Ich bin siebzehn Jahre alt, komme aus Norddeutschland und bin noch bis Juni im 11. Jahrgang.  Seit mittlerweile mehr als fünf Jahren schreibe ich Kurzgeschichten und Romane in verschiedenen Genres und arbeite mich seit einem Jahr langsam ins journalistische Schreiben ein. Ich spiele Theater, lese, zeichne und mache mir Gedanken und bin viel zu selten im Kino. Man sollte sagen, dass ich außerdem noch nie einen Atomkrieg geführt habe.

Über die Entstehung des Artikels

Die Idee zum Artikel ist aus einer Diskussion mit Freunden entstanden.
Selbstbestimmtes Leben kann eine sehr vielfältige Bedeutung haben, für jeden ist sie eine andere, selbst für mich gilt, dass ich viel darunter fassen kann und es schwierig ist, mit einem relativ begrenzten Fließtext ein breiteres Spektrum abdecken und dabei möglichst keine zu großen Gedankensprünge von einem Thema zum nächsten zu machen.

Darum habe ich mich entschlossen, andere zum Thema „Selbstbestimmtes Leben“ sprechen zu lassen.

Befragt habe ich zuerst Freunde, in der Hoffnung, so alle mir wichtigen Themen abdecken zu können. Die Namen sind allesamt geändert, nicht, weil jemand nicht zu seiner Aussage stehen wollte, sondern weil ich alle Aussagen eher zufällig anlegen wollte, genauso wie die Themen sehr gemischt sind. Gut ein Drittel der Aussagen ist halb fiktiv, weil ich Schicksale, die mir in den Medien begegnet sind, neutralisiert und somit anonymisiert, mich aber bemüht habe, das eigentliche Problem, Fazit oder Statement weiterhin in einem Zitat deutlich zu machen.
Leider habe ich nicht für alle Themen, die mir für „Selbstbestimmtes Leben“ wichtig erscheinen, sofort auch einen Gesprächspartner gehabt, daher habe ich im Internet recherchiert und geprüft, inwiefern ich ein fiktives oder weitestgehend anonymisiertes Statement glaubhaft gestalten konnte.

Zwei Drittel der Zitate stammen von Freunden, Bekannten und Internetbekanntschaften. Ich habe die Aussagen meist aus einem Gespräch oder einem Chat als Erinnerung aufgeschrieben, jeweils gekürzt und ebenfalls anonymisiert und die Personen dann gefragt, ob ihnen das Zitat zu entfremdet oder noch zu persönlich war, bevor ich die finale Version übernommen habe. Das Alter stimmt jeweils, die Namen sind fiktiv und spielen auch kaum eine Rolle, die dem Namen sonst beigemessen wird. Das Statement könnte von Aron, Alexander oder Ali sein und wäre trotzdem das gleiche. Ich war zuerst versucht, sie abzukürzen (M. und so weiter), was den Artikel dann aber zu willkürlich und fiktiv aussehen ließ.

MF