Ein Gottkönig hat Geburtstag

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Dalai Lama auf Thronsitz / Foto: Archiv CG

DHARMSHALA. (hpd) Er kichert im Gespräch plötzlich los, er hasst alles Weibliche (ausgenommen die „weibliche Energie“, die zur Erlangung der Buddhaschaft auszubeuten ist), er hat das Teufelsaustreiben gelernt, er weiß, dass er mit hundertdreizehn Jahren sterben wird. Er kann einem leid tun: ein reinkarniertes Leben nach dem andern, Tausende insgesamt, gefangen in einer surrealen Wahnwelt.


Von Colin Goldner

Das Jahr 2010, laut tibetischem Kalender das des Eisentigers, steht unter überaus glücksverheißenden Vorzeichen: am 6. Juli feiert “Seine Heiligkeit” der 14. Dalai Lama, Herrscher über das Land des Schnees und Bewahrer des rechten Glaubens, seinen 75. Geburtstag. Buddhistischer Berechnung zufolge vollendet er freilich schon sein 619. Lebensjahr, gilt er doch als Wiedergeburt seiner dreizehn Amtsvorgänger, als deren erster er Anfang des 15. Jahrhunderts in das Amt des Großabtes der von seinem Onkel begründeten Sekte der Gelbmützen bestellt worden war, der er bis heute in ungebrochener Reinkarnationsfolge vorsteht. Er selbst spricht von „tausenden und abertausenden aufeinanderfolgender Lebenszyklen“, die er bereits durchlaufen habe, letztlich sei er niemand anderer als die leibhaftige Verkörperung der höchsten Gottheit auf dem Dache der Welt, des elf-, gelegentlich auch sechzehnköpfigen und tausendarmigen Chenrezig, der in grauer Vorzeit das Volk der Tibeter gezeugt habe. Zwei Warzen - „two small bumps of flesh“ - unterhalb seiner Schulterblätter, wie er immer wieder betont, stellten unzweifelhaft eine Art rudimentärer Überbleibsel dessen zusätzlicher neunhundertachtundneunzig Arme dar. Zudem verfüge er über Ohren von einer Größe, wie nur göttliche Wesen sie trügen.

Nein, der ältere Herr in der roten Kutte versteht sich keineswegs als Komiker, gleichwohl seine enorme Popularität nicht zuletzt derlei Absurditäten zuzuschreiben ist; samt den Hanswurstiaden, die er fortlaufend veranstaltet: wenn er bei seinen Vorträgen unmotiviert loskichert oder auf seinem Thron hin- und herschaukelt, dass es aussieht, als werde er jeden Augenblick hinunterfallen, gerät sein Publikum regelmäßig in Verzückung. Er selbst, Jetsun Jamphel Ngawang Lobsang Yeshi Tenzin Gyatso Sisum Wangyur Tsungpa Mepai Dhe Palsangpo, hält sich vollen Ernstes für all das, was sein Endlosname bedeutet: für den Heiligsten, Barmherzigsten, Ruhmreichsten, Sanftesten, Mitleidvollsten, Sprachgewaltigsten und so fort aller, den Dalai Lama eben, Ozean des Weistums und Gottkönig Tibets.

Der Heiligste, Barmherzigste, Ruhmreichste, Sanfteste, Mitleidvollste...

Schon bei seiner Geburt, wie seine Mutter später, als er längst inthronisiert war, zu berichten wusste, habe es jede Menge Vorzeichen gegeben, dass da ein bedeutender Lama sich reinkarniere. So seien ihr in der Nacht vor der Niederkunft im Traume zwei blaue Drachen erschienen und kurze Zeit danach sei der Vater des Neugeborenen urplötzlich von einer Krankheit genesen, an der er seit längerem gelitten hatte. Gleichwohl wurde der kleine Junge von seinem Vater, einem weithin bekannten Pferdezüchter, keineswegs als „lebender Buddha“ behandelt, vielmehr wurde er häufig von diesem geschlagen.

Der Geburtsort des späteren Dalai Lama, ein ansonsten völlig unbedeutendes Dorf namens Takster, liegt weit im Nordosten Tibets. Es gehörte seinerzeit zur Provinz Amdo, die im Norden an die Mongolei und im Osten an China angrenzte; große Teile Amdos, einschließlich des Gebietes um Takster, standen seit 1928 unter der Administration der nationalchinesischen Kuomintang-Regierung. Genaugenommen ist der Dalai Lama also kein gebürtiger Tibeter, sondern Nationalchinese. Auch sein Rufname war ein chinesischer: Tschi.

Seine Mutter hatte bereits acht Kinder zur Welt gebracht, von denen aber nur noch vier am Leben waren. Er war insofern das fünfte Kind der Familie. Insgesamt gebar seine Mutter sechzehn Kinder, es wurden allerdings nur sieben davon groß. Die älteste Schwester - er hatte letztlich zwei Schwestern und vier Brüder - war 18 Jahre älter als er. Zu seinen drei älteren Brüdern hatte er praktisch keinen Kontakt, der älteste war Jahre zuvor schon als Wiedergeburt eines verstorbenen hohen Lamas und zugleich Wiedergeburt seines eigenen Onkels, der ebendieser Lama gewesen war, entdeckt worden und lebte in dem nahegelegenen Kloster Kumbum, in dem ein anderer, noch lebender Onkel eine hohe Stellung als Verwalter und Steuereintreiber innehatte. Der zweitälteste Bruder besuchte eine chinesische Schule in einem Nachbardorf, nur sein um drei Jahre älterer Bruder Lobsang Samten lebte noch in der Familie. Allerdings verließ auch dieser Bruder nach kurzer Zeit das Elternhaus: er wurde als Mönchsnovize ins Kloster Kumbum geschickt, das über feudalen Großgrundbesitz samt daraus abgeleiteter nahezu unumschränkter Macht über die Menschen der Region verfügte.

Im Winter 1937/38, Tschi war gerade einmal zweieinhalb Jahre alt, kam ein von der tibetischen Regierung in Lhasa ausgesandter Suchtrupp zum Kloster Kumbum, auf der Suche nach der Reinkarnation des vier Jahre zuvor verstorbenen 13. Dalai Lama. Eine ganze Reihe okkulter Anzeichen hatte den Trupp nach Amdo geführt: der Umstand vor allem, dass der Kopf der einbalsamierten und auf einen Thron gesetzten Leiche des Verstorbenen zur Seite gekippt war, so dass sein Gesicht nach Nordosten zeigte; es war dies als unzweifelhafter Hinweis gedeutet worden, dass in eben dieser Richtung seine Wiedergeburt aufzufinden sei. Tatsächlich wurde man im Umfeld des Klosters fündig: just im nahe gelegenen Elternhaus zweier Kumbum-Mönche, die just einen kleinen Bruder dort wohnen hatten. Das Alter dieses kleinen Bruders entsprach auch noch genau dem des gesuchten Kindes.