Politikwissenschaftler Dr. Veith Selk im Interview

"Man muss die AfD politisch stellen, nicht moralisierend"

Die durch den Populismus herausgeforderte politische Elite hat ihrerseits auch versucht der AfD zu begegnen - mit Erfolg?

Zunächst hat man die AfD ignoriert, d.h. man wollte ihr keine Aufmerksamkeit schenken. Als das nicht gelang, hat man versucht, sie als rechtsradikal und undemokratisch zu stigmatisieren und gegen die Partei zu moralisieren. Es gab aber auch den Versuch, sich politisch auf den Streit mit der AfD einzulassen, wenn auch nur sehr zaghaft. Und schließlich hat man sich verbal abgegrenzt, aber zentrale Forderungen der Partei übernommen, wie dies die CSU mit der Forderung nach einer Obergrenze für Asylbewerber getan hat.

Bemessen am Ziel, den Erfolg der AfD zu verhindern, waren alle Strategien erfolglos. Was passiert wäre, wenn man anders reagiert hätte, wissen wir allerdings nicht.

Jetzt wo es der AfD gelingt die Repräsentationslücke zu besetzen, stellt sich natürlich die Frage worauf es konkret in der parteipolitischen Auseinandersetzung ankommt. Angela Merkel spricht mit Blick auf den Brexit bereits davon man müsse die "Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern verkleinern". SPD-Partei-Vize Olaf Scholz argumentiert in einem Strategiepapier die SPD solle die AfD nicht weiter dämonisieren, sondern sich ihr inhaltlich stellen. Es sieht so aus als wären Ihre Argumente bereits zur Regierung durchgedrungen.

Möglicherweise wird der politischen Elite langsam mulmig. Sie merken, dass das Problem Rechtspopulismus nicht nach dem Motto "Achtung, alles Anti-Demokraten!" wegmoralisiert werden kann. Sie merken aber auch: das Modell des demokratischen Kapitalismus samt Klassenkompromiss inklusive Aufstiegsversprechen, Normalarbeitsverhältnis und Wohlfahrtsstaat gerät in Bedrängnis. Ein Problem ist, dass die herrschende kapitalistische Leistungsethik und ihr normatives Korrelat, die Chancengleichheit, von immer mehr Menschen als Ideologie erkannt werden. Unzufriedenheit, Wut und auch Ressentiment sind die Folgen. Mit Blick auf die Alternativen zu diesem Modell herrscht Ratlosigkeit. Ein nostalgisches "Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft" ist ein Ausdruck dessen. Ich fürchte, das Problem wird sich auch durch eine Revitalisierung der parteipolitischen Auseinandersetzung nicht lösen lassen. Hinzu kommt, dass das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems sinkt. Immer mehr Menschen halten sich für kompetent, "die Politik" jedoch für inkompetent. Es ist schwierig, in so einem Umfeld von Millionen von Bundeskanzlern der Reserve Politik zu machen. Sich der AfD inhaltlich stellen zu wollen, finde ich dennoch sinnvoll.

Auf der anderen Seite streiten Antifaschisten ganz im Gegensatz zu Olaf Scholz schon lange dafür rechte Positionen mit Verweis auf ihren menschenfeindlichen Gehalt als diskussionsunwürdig von der demokratischen Debatte auszuschließen und sehen in einer Repräsentationslücke einen Erfolg ihrer Arbeit. Ist es wirklich sinnvoll AfD-VertreterInnen und ihre Positionen in einen demokratischen Diskurs zu integrieren?

Die Vorurteils- und Einstellungsforschung hat gezeigt, dass es in der Bundesrepublik einen nicht geringen Anteil an Wählern mit rechtsradikalem Weltbild gibt. Es ist positiv, dass deren Positionen nicht als ein normaler Beitrag zur Willensbildung gelten. Der Versuch, das mit der AfD ebenfalls zu tun, ist aber kontraproduktiv. Er kann nicht gelingen, weil die AfD als Partei gegenwärtig keine eindeutig anti-demokratische Position vertritt. Zudem spielt er der AfD in die Hände. Die AfD beschreibt sich als authentische Stimme des Volkes, die die Elite durch political correctness zum Schweigen bringen wolle. Diese Beschreibung ist dann glaubhaft, wenn man die AfD als eine "menschenfeindliche" Partei bezeichnet und mittels Moral alle Positionen der AfD für illegitim erklärt, obwohl sich viele (wenn auch nicht alle) Positionen der AfD im Rahmen der Verfassung bewegen.

Ein Exorzismus dieser Art ist häufig gut gemeint, aber er schadet der Demokratie, weil er die politische Willensbildung in der Demokratie, das ist der öffentliche Streit, der gerade dadurch integrativ wirkt, dass er Dissens zulässt, mit einem Moralschema vermengt, das den Dissens unterdrücken soll. Hieraus folgt, dass man sich den Positionen der AfD nicht moralisierend, sondern politisch stellen muss.

In der Konsequenz hieße das aber auch, dass wir vielleicht eine Debatte über die Einschränkung der Religionsfreiheit für Muslime, über die Abschaffung des Asylrechts oder der Menschenwürde führen müssten. Antifaschisten bemängeln: die Grenze des Sagbaren wird weiter nach rechts verschoben. Tut es der Demokratie wirklich gut, wenn wir allen Dissens frei von Moral zur Diskussion stellen?

Haben wir diese Diskussionen nicht schon längst? Jedenfalls geht es ja nicht darum, dass politische Fragen ohne Rückgriff auf moralische oder ethische Standpunkte in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollten. Wie sollte das auch gehen? Politische Fragen werfen ja fast immer auch moralische oder ethische Fragen auf. Was vermieden werden sollte, das ist Moralisierung, d.h. die Reduktion von politischen Fragen auf moralische Fragen und der Versuch, die andere Meinung dadurch unmöglich zu machen, dass man denjenigen, der sie äußert, als eine unmoralische, nicht achtungswürdige Person darstellt. 

Ich denke, ein Problem der Demokratie in der Gegenwart ist, dass der Raum des Diskutablen ziemlich eingeschrumpft ist, jedenfalls bei bestimmten Themen. Vertritt man dort eine andere Meinung, wird man schnell ausgegrenzt. Das gilt nicht nur für rechte Positionen, sondern auch für linke. In einer Demokratie muss die Willensbildung offenbleiben für Neues, für Widerrede und für Kritik. Und wer am Ende in der Minderheit ist, und seine Position nicht durchsetzen konnte, der darf nicht dadurch gedemütigt werden, dass seine Position als unmoralisch oder unmenschlich dargestellt wird. Warum sollte die unterlegene Minderheit denn die Mehrheitsentscheidung anerkennen, wenn ihre Position von der Mehrheit als illegitim bezeichnet und im Prozess der Willensbildung ausgegrenzt wird? 

Eine solche politische Kultur setzt sicherlich einen mündigen, zur vernünftigen Verständigung und Erfahrung befähigten Bürger voraus. Stichwort: politische Bildung. Wie könnte die konkret aussehen?

Die Grundlage der Demokratie sind keine symbolischen Sprachverbote in der Öffentlichkeit, sondern demokratische Bürgerinnen und Bürger. Eine Demokratie muss dafür Sorge tragen, dass sie ihre eigene Grundlage erzeugt und schützt. Ich sehe nicht, wie das ohne demokratische Bildung und Erziehung gehen sollte. Es ist fahrlässig, die Entstehung einer demokratischen Kultur und demokratisch gesinnter, mündiger Bürgerinnen und Bürger dem gleichsam naturwüchsigen Zusammenspiel der unterschiedlichen Sozialisationsprozesse unserer Gesellschaft zu überlassen und zu hoffen, dass das Richtige dabei herauskommen wird. Eine Gesellschaft kann vor allem mittels ihres Erziehungssystems auf ihre eigene Zukunft einwirken. Eine Demokratie sollte diese Möglichkeit wahrnehmen. Wie wäre es deshalb mit der Einführung eines "demokratischen Semesters" an Schulen? In diesem halben Jahr könnten schwerpunktmäßig die normativen Prinzipien, die historische Entstehung und die Funktionsweise der Demokratie pluralistisch gelehrt und diskutiert werden.

Zum Schluss noch eine Prognose: Wird sich die Partei politisch ändern um weiterhin bei Wahlen erfolgreich bleiben zu können?

Sie muss vor allem in der Opposition bleiben. Ludwig Ehrhardt ist tot und Berlin bleibt die Hauptstadt der multikulturellen Bundesrepublik. Die Geschichte lässt sich eben nicht zurückdrehen. In der Opposition kann man zumindest so tun, als ob.

Eine wichtige Frage der Zukunft ist, wie die Partei mit rechtsradikalen Tendenzen einiger Mitglieder, Landesverbände und Gruppierungen umgehen wird. Wirtschaftspolitisch müsste die AfD zudem stärker auf Umverteilung setzen; ihr Bekenntnis zum Mindestlohn ist jedenfalls ein Indiz dafür, wohin die Reise gehen könnte.

Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte Jan Maximilian Gerlach für den hpd.