Politikwissenschaftler Dr. Veith Selk im Interview

"Man muss die AfD politisch stellen, nicht moralisierend"

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Dr. Veith Selk

"Ich wollte diese Diskussion unbedingt", sagte Meral Sahin nachdem 100 Kölner Antifaschisten die Bühne beim antirassistischen Birlikte-Fest besetzten und dadurch eine Diskussion zwischen ihr und dem AfD-Mann Konrad Adams verhinderten. Die Kontroverse um Birlikte ist ein Sinnbild für die Debatte über den richtigen Umgang mit der Alternative für Deutschland. Sollte man die AfD von der Debatte ausschließen oder sie inhaltlich stellen? Im hpd-Interview spricht der Politikwissenschaftler Dr. Veith Selk von der TU Darmstadt über die Gründe für den Aufstieg der Alternative für Deutschland und über Strategien im Umgang mit der populistischen Partei.

hpd: Herr Selk, die AfD ist auf Erfolgskurs. Wieso?

Dr. Veith Selk: Die AfD formuliert im kulturpolitischen Feld eine national-konservative, illiberale Position, die von keiner anderen Partei angeboten wird, aber einige Wähler anspricht. Thematisch sind hier sind vor allem die europäische Integration, die Familienpolitik, die Migration und der Islam zu nennen. Die Große Koalition und das in-die-Mitte-Rücken der SPD und vor allem der CDU haben zu einer Homogenisierung des deutschen Parteiensystems geführt, die rechts eine Lücke aufreißt, in die AfD vorstoßen konnte. 

Die AfD artikuliert allgemein eine neue Konfliktlinie, die für westliche Demokratien in der Zukunft noch Zündstoff bereithalten wird. Es handelt sich um den Konflikt zwischen Befürwortern von Öffnung und den Befürwortern von Schließung.

Bei ihrem Bundesparteitag in Stuttgart hat die Partei ein Grundsatzprogramm beschlossen. Wie positioniert sich die Partei konkret?

Das Grundsatzprogramm vermittelt teilweise einen anderen Eindruck als die Wahlkampfparolen und das öffentliche Auftreten einiger Führungsfiguren oder so mancher Rechtsaußen aus einem Landesverband. Das Programm artikuliert eine Kritik an der undemokratischen Funktionsweise der Europäischen Union und an der einheitlichen Währung für die ökonomisch heterogenen Länder der Eurozone. Wirtschaftspolitisch vertritt die AfD eine ordoliberale Position, d.h. sie plädiert für einen Staat, der die ganz Schwachen schützt, etwa durch einen Mindestlohn, ansonsten aber Ansprüche auf Umverteilung abwehrt und vor allem das Wettbewerbsprinzip zur Geltung zu bringen hat. Sozialpolitisch will die AfD den Sozialstaat zwecks Familienförderung hingegen ausbauen. Es geht um eine Rückkehr zum male breadwinner-Modell, d.h. zur heterosexuellen Familie, in der die Ehefrau sich um die Kinder kümmert und vom Staat dafür unterstützt wird. Kulturpolitisch plädiert die AfD für einen Kulturnationalismus, der die deutsche Identität schützen soll. Was die deutsche Identität ausmacht, abgesehen von der deutschen Sprache, bleibt unklar. Innenpolitisch formuliert die AfD eine law and order-Position, die der "Sicherheit" Vorrang vor der "Freiheit" gibt. Auch mit Blick auf das Asylrecht, die Migration und die Religionsfreiheit für Muslime ist das Programm illiberal und fordert eine Begrenzung. Im Programm wird zudem eine grundsätzliche Kritik an der "politischen Klasse" formuliert, die sich den Staat zur Beute gemacht habe. Direkte Demokratie nach dem Vorbild der Schweiz wird als Heilmittel gegen den Parteienstaat empfohlen.

Das Programm ist insgesamt rückwärtsgewandt und nostalgisch. Die Botschaft lautet: Zurück zum souveränen Nationalstaat! Zurück zur Lebensform und der vermeintlich heilen Familienwelt der 60er Jahre! Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft! Konsequenterweise müsste die AfD eigentlich fordern: Bonn muss wieder Hauptstadt werden.

Richtet sich die wirtschaftspolitische Ausrichtung der AfD nicht gegen die Interessen eines Großteils ihrer Wählerschaft?

Ja und Nein. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen abhängen oder profitieren, auch in der Mittelschicht, lautet die Antwort: deren Interessen werden von der AfD nicht vertreten. Mit Blick auf die Familienförderung sieht die Sache anders aus. Eltern, die wollen, dass die Mutter zu Hause die Kinder erzieht, das aber nicht realisieren können, weil das Geld nicht reicht, haben durchaus einen Anreiz, die AfD zu wählen.

Soziale Positionen übersetzen sich nicht bruchlos in Interessen und Wahlpräferenzen. Für die subjektive Wahrnehmung der eigenen Interessen spielt nicht nur Wissen über politische Zusammenhänge, sondern auch die eigene Identität eine Rolle. Und die Identitätsrhetorik, die die AfD anbietet, ist für viele Wähler der AfD attraktiv. Die Botschaft lautet: "Ihr gehört zum guten Volk, das von Fremden und der korrupten Elite bedroht wird. Und wir sind Euer Sprachrohr". Das wurde möglich, weil schon lange vor der AfD das politische Vokabular von klassen- und interessenbezogenen Begriffen gereinigt worden ist. Diese Begriffe sind später durch diffuse Marketingformeln ersetzt worden ("Neue Mitte", "Sozial ist, was Arbeit schafft" usw.). Das erschwert die Artikulation und Formulierung konkreter Interessen mit Klassen- oder Schichtbezug. Dieser strukturelle Populismus hat in der Bundesrepublik lange funktioniert, fällt den Eliten jetzt aber vor die Füße. Vielleicht ist das auch eine Antwort auf die Frage, warum es der Partei DIE LINKE nicht gelingt, aus der jetzigen Situation politisch Kapital zu schlagen.

Die Botschaften kommt bei den Wählerschaft der AfD jedenfalls gut an. Aktuell liegt die Partei bundesweit bei 15%.

Die AfD hat viele kulturkonservative Wähler, die sich von den anderen Parteien nicht repräsentiert fühlen. Sie wurde allerdings auch von Protestwählern gewählt, also von Wählern, die ihre Wahl als Ausdruck ihrer allgemeinen Unzufriedenheit verstehen, d.h. diese Wähler haben mit den inhaltlichen Positionen der AfD kaum Berührungspunkte oder stehen ihrer Ideologie eher indifferent bis unwissend gegenüber, es sind Protestwähler ohne Programmkenntnis bzw. Programminteresse. Zugleich hat die AfD rechtsradikal eingestellt Wähler. Für sie ist die AfD zwar meist keine ideologische Heimat, stellt aber eine wählbare Alternative zu den etablierten Parteien dar. Ob sich in Sachsen-Anhalt eine offen rechtsradikale Landespartei entwickelt, muss man noch abwarten. Fragt man die Wähler der AfD nach ihrer politischen Verortung, ordnen sich viele übrigens nicht rechts ein.

Für den Erfolg der AfD ist von Bedeutung, dass nicht wenige ihrer Wähler der Meinung sind, dass "das Volk" politisch nicht gehört werde und "die da oben" sowieso machen, was sie wollen. Eine Spaltung zwischen Elite und Masse ist für repräsentative Demokratien generell charakteristisch, sobald diese Spaltung aber nicht mehr durch politische Repräsentation überbrückt wird, öffnet das ein Gelegenheitsfenster für populistische Mobilisierung, die im Namen "des Volkes" gegen "die Elite" und auch gegen "Fremde" mobil macht.

Diese populistische Unterscheidung zwischen gutem Volk und korrupter Elite nehmen doch auch jene Linke vor, die an die Stelle des Feindbildes "Flüchtling" das des "Finanzspekulanten" stellen. Sehr explizit ist das zum Beispiel in einem Clip von Joko und Klaas zu sehen, wo das eine Feindbild der blöden Rechten durch ein anderes der schlauen Circus Halligalli-Redaktion ausgetauscht werden soll. Oder bei Jakob Augstein, der mit Blick auf Anti-Flüchtlings-Proteste forderte die Demonstranten sollten lieber gegen Banken demonstrieren. Anders gesagt: Die Wut von Pegida und AfD ist richtig, aber sie muss auf die "Richtigen" gelenkt werden.

Wer gegen Flüchtlinge demonstriert, der will gegen Flüchtlinge demonstrieren, und nicht notwendigerweise auch gegen den Finanzkapitalismus. Prinzipiell ließe sich die populistische Unterscheidung auch gegen die ökonomische Elite verwenden. Aber ich sehe das momentan nicht. In der Parole "We are the 99 percent" fehlt die Konkretisierung des einen Prozents. Wer ist das? Empörung über gierige Manager und dergleichen gibt es, aber das bleibt soziologisch amorph und ist auf konkrete Fälle begrenzt. Die Sündenbockfunktion wird gegenwärtig vor allem von den Politikern übernommen. Sie lassen sich identifizieren und verantwortlich machen – auch für Dinge, die sie vielleicht gar nicht zu verantworten haben oder beeinflussen können.

Ein Gedanke hinter dem Konzept des Linkspopulismus scheint zu sein: Wir müssen den Volkszorn auf die Richtigen lenken. Ich habe aber meine Zweifel, ob ein Konzept, das auf Massenlenkung setzt, der Demokratie gut tut. Überdies lassen sich strukturelle Probleme nicht dadurch lösen, dass man gegen konkrete Bevölkerungsgruppen mobil macht.

Linkspopulismus wird gegenwärtig propagiert, weil der Rechtspopulismus von Trump und dem Front National Unterstützer aus dem unteren Drittel der Gesellschaft gewinnt und die verteilungspolitische Frage teilweise in identitätspolitische Fragen verschiebt. Eine Lösung dieses Problems sehe ich aber nicht in einem Linkspopulismus, sondern eher darin, wieder verstärkt verteilungspolitische Fragen auf die Agenda zu setzen und die öffentlichen Debatten zu entmoralisieren.

Jörn Schulz hat zu dieser Argumentation in der Jungle World geschrieben: "AfD-Wählern geht es nicht ums Geld [...] Ihr Hass gilt jeder gesellschaftlichen Emanzipation, dafür sind sie bereit, Opfer zu bringen. Hier muss eine Gegenstrategie ansetzen." Ist es nicht naiv anzunehmen man könne dem gesamtgesellschaftlichen Rollback der AfD mit sozialer Politik beikommen?

Da hat er einen Punkt. Das Problem ist nicht rein verteilungspolitisch, es hat eine identitäts- und kulturpolitische Dimension. Manchmal geht beides ineinander über. Wenn beispielsweise ein prekär beschäftigter Dienstleistungsproletarier mit niedrigem Bildungsgrad in der Zeitung liest, dass für 800.000 Euro in Berlin aus dem "Studentenwerk" jetzt das "Studierendenwerk" gemacht werden soll – aus Gründen der Gerechtigkeit –, dann regt der sich auf, dass "für so etwas" Geld da ist. Er denkt: um die Sorgen von studierenden Mittelschichtskindern kümmert man sich, aber nicht um mich! Anerkennung wird nicht nur, aber eben auch über Geld verteilt. 

Tatsache ist: Unsere Gesellschaft ist ungerecht, vor allem für die Unterschicht. Wer unten ist, der bleibt unten. Und wer unten ist, der hat wenig von geschlechtergerechter Sprache und Frauenquoten im oberen Management. Mit Blick auf die Struktur ihrer Wählerschaft ist die AfD allerdings keine Arbeiterpartei oder Partei der kleinen Leute. Überspitzt ausgedrückt, könnte man sie mit Blick auf ihre Wähler eher als Partei kulturkonservativer Männer bezeichnen. Denen geht es wohl nicht vorrangig ums Geld. Allerdings haben sie eine pessimistische Zukunftserwartung und Abstiegsangst.

Die durch den Populismus herausgeforderte politische Elite hat ihrerseits auch versucht der AfD zu begegnen - mit Erfolg?

Zunächst hat man die AfD ignoriert, d.h. man wollte ihr keine Aufmerksamkeit schenken. Als das nicht gelang, hat man versucht, sie als rechtsradikal und undemokratisch zu stigmatisieren und gegen die Partei zu moralisieren. Es gab aber auch den Versuch, sich politisch auf den Streit mit der AfD einzulassen, wenn auch nur sehr zaghaft. Und schließlich hat man sich verbal abgegrenzt, aber zentrale Forderungen der Partei übernommen, wie dies die CSU mit der Forderung nach einer Obergrenze für Asylbewerber getan hat.

Bemessen am Ziel, den Erfolg der AfD zu verhindern, waren alle Strategien erfolglos. Was passiert wäre, wenn man anders reagiert hätte, wissen wir allerdings nicht.

Jetzt wo es der AfD gelingt die Repräsentationslücke zu besetzen, stellt sich natürlich die Frage worauf es konkret in der parteipolitischen Auseinandersetzung ankommt. Angela Merkel spricht mit Blick auf den Brexit bereits davon man müsse die "Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern verkleinern". SPD-Partei-Vize Olaf Scholz argumentiert in einem Strategiepapier die SPD solle die AfD nicht weiter dämonisieren, sondern sich ihr inhaltlich stellen. Es sieht so aus als wären Ihre Argumente bereits zur Regierung durchgedrungen.

Möglicherweise wird der politischen Elite langsam mulmig. Sie merken, dass das Problem Rechtspopulismus nicht nach dem Motto "Achtung, alles Anti-Demokraten!" wegmoralisiert werden kann. Sie merken aber auch: das Modell des demokratischen Kapitalismus samt Klassenkompromiss inklusive Aufstiegsversprechen, Normalarbeitsverhältnis und Wohlfahrtsstaat gerät in Bedrängnis. Ein Problem ist, dass die herrschende kapitalistische Leistungsethik und ihr normatives Korrelat, die Chancengleichheit, von immer mehr Menschen als Ideologie erkannt werden. Unzufriedenheit, Wut und auch Ressentiment sind die Folgen. Mit Blick auf die Alternativen zu diesem Modell herrscht Ratlosigkeit. Ein nostalgisches "Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft" ist ein Ausdruck dessen. Ich fürchte, das Problem wird sich auch durch eine Revitalisierung der parteipolitischen Auseinandersetzung nicht lösen lassen. Hinzu kommt, dass das Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems sinkt. Immer mehr Menschen halten sich für kompetent, "die Politik" jedoch für inkompetent. Es ist schwierig, in so einem Umfeld von Millionen von Bundeskanzlern der Reserve Politik zu machen. Sich der AfD inhaltlich stellen zu wollen, finde ich dennoch sinnvoll.

Auf der anderen Seite streiten Antifaschisten ganz im Gegensatz zu Olaf Scholz schon lange dafür rechte Positionen mit Verweis auf ihren menschenfeindlichen Gehalt als diskussionsunwürdig von der demokratischen Debatte auszuschließen und sehen in einer Repräsentationslücke einen Erfolg ihrer Arbeit. Ist es wirklich sinnvoll AfD-VertreterInnen und ihre Positionen in einen demokratischen Diskurs zu integrieren?

Die Vorurteils- und Einstellungsforschung hat gezeigt, dass es in der Bundesrepublik einen nicht geringen Anteil an Wählern mit rechtsradikalem Weltbild gibt. Es ist positiv, dass deren Positionen nicht als ein normaler Beitrag zur Willensbildung gelten. Der Versuch, das mit der AfD ebenfalls zu tun, ist aber kontraproduktiv. Er kann nicht gelingen, weil die AfD als Partei gegenwärtig keine eindeutig anti-demokratische Position vertritt. Zudem spielt er der AfD in die Hände. Die AfD beschreibt sich als authentische Stimme des Volkes, die die Elite durch political correctness zum Schweigen bringen wolle. Diese Beschreibung ist dann glaubhaft, wenn man die AfD als eine "menschenfeindliche" Partei bezeichnet und mittels Moral alle Positionen der AfD für illegitim erklärt, obwohl sich viele (wenn auch nicht alle) Positionen der AfD im Rahmen der Verfassung bewegen.

Ein Exorzismus dieser Art ist häufig gut gemeint, aber er schadet der Demokratie, weil er die politische Willensbildung in der Demokratie, das ist der öffentliche Streit, der gerade dadurch integrativ wirkt, dass er Dissens zulässt, mit einem Moralschema vermengt, das den Dissens unterdrücken soll. Hieraus folgt, dass man sich den Positionen der AfD nicht moralisierend, sondern politisch stellen muss.

In der Konsequenz hieße das aber auch, dass wir vielleicht eine Debatte über die Einschränkung der Religionsfreiheit für Muslime, über die Abschaffung des Asylrechts oder der Menschenwürde führen müssten. Antifaschisten bemängeln: die Grenze des Sagbaren wird weiter nach rechts verschoben. Tut es der Demokratie wirklich gut, wenn wir allen Dissens frei von Moral zur Diskussion stellen?

Haben wir diese Diskussionen nicht schon längst? Jedenfalls geht es ja nicht darum, dass politische Fragen ohne Rückgriff auf moralische oder ethische Standpunkte in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollten. Wie sollte das auch gehen? Politische Fragen werfen ja fast immer auch moralische oder ethische Fragen auf. Was vermieden werden sollte, das ist Moralisierung, d.h. die Reduktion von politischen Fragen auf moralische Fragen und der Versuch, die andere Meinung dadurch unmöglich zu machen, dass man denjenigen, der sie äußert, als eine unmoralische, nicht achtungswürdige Person darstellt. 

Ich denke, ein Problem der Demokratie in der Gegenwart ist, dass der Raum des Diskutablen ziemlich eingeschrumpft ist, jedenfalls bei bestimmten Themen. Vertritt man dort eine andere Meinung, wird man schnell ausgegrenzt. Das gilt nicht nur für rechte Positionen, sondern auch für linke. In einer Demokratie muss die Willensbildung offenbleiben für Neues, für Widerrede und für Kritik. Und wer am Ende in der Minderheit ist, und seine Position nicht durchsetzen konnte, der darf nicht dadurch gedemütigt werden, dass seine Position als unmoralisch oder unmenschlich dargestellt wird. Warum sollte die unterlegene Minderheit denn die Mehrheitsentscheidung anerkennen, wenn ihre Position von der Mehrheit als illegitim bezeichnet und im Prozess der Willensbildung ausgegrenzt wird? 

Eine solche politische Kultur setzt sicherlich einen mündigen, zur vernünftigen Verständigung und Erfahrung befähigten Bürger voraus. Stichwort: politische Bildung. Wie könnte die konkret aussehen?

Die Grundlage der Demokratie sind keine symbolischen Sprachverbote in der Öffentlichkeit, sondern demokratische Bürgerinnen und Bürger. Eine Demokratie muss dafür Sorge tragen, dass sie ihre eigene Grundlage erzeugt und schützt. Ich sehe nicht, wie das ohne demokratische Bildung und Erziehung gehen sollte. Es ist fahrlässig, die Entstehung einer demokratischen Kultur und demokratisch gesinnter, mündiger Bürgerinnen und Bürger dem gleichsam naturwüchsigen Zusammenspiel der unterschiedlichen Sozialisationsprozesse unserer Gesellschaft zu überlassen und zu hoffen, dass das Richtige dabei herauskommen wird. Eine Gesellschaft kann vor allem mittels ihres Erziehungssystems auf ihre eigene Zukunft einwirken. Eine Demokratie sollte diese Möglichkeit wahrnehmen. Wie wäre es deshalb mit der Einführung eines "demokratischen Semesters" an Schulen? In diesem halben Jahr könnten schwerpunktmäßig die normativen Prinzipien, die historische Entstehung und die Funktionsweise der Demokratie pluralistisch gelehrt und diskutiert werden.

Zum Schluss noch eine Prognose: Wird sich die Partei politisch ändern um weiterhin bei Wahlen erfolgreich bleiben zu können?

Sie muss vor allem in der Opposition bleiben. Ludwig Ehrhardt ist tot und Berlin bleibt die Hauptstadt der multikulturellen Bundesrepublik. Die Geschichte lässt sich eben nicht zurückdrehen. In der Opposition kann man zumindest so tun, als ob.

Eine wichtige Frage der Zukunft ist, wie die Partei mit rechtsradikalen Tendenzen einiger Mitglieder, Landesverbände und Gruppierungen umgehen wird. Wirtschaftspolitisch müsste die AfD zudem stärker auf Umverteilung setzen; ihr Bekenntnis zum Mindestlohn ist jedenfalls ein Indiz dafür, wohin die Reise gehen könnte.

Vielen Dank für das Gespräch!


Das Interview führte Jan Maximilian Gerlach für den hpd.