Nachruf auf Bernulf Kanitscheider

Ein Meister der intellektuellen Redlichkeit

sw_kanitscheider.jpg

Bernulf Kanitscheider
Bernulf Kanitscheider

Er war einer der bedeutendsten Vordenker des Naturalismus und des aufgeklärten Hedonismus. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der Philosoph Bernulf Kanitscheider am 21. Juni im Alter von 77 Jahren gestorben. Ein Nachruf von Michael Schmidt-Salomon.

Es gibt nur wenige Bücher fremder Autoren, die ich gerne selbst geschrieben hätte. Bemerkenswert viele dieser Bücher stammen aus der Feder von Bernulf Kanitscheider: "Im Innern der Natur" und "Die Materie und ihre Schatten" sind Meilensteine der modernen Naturphilosophie. "Auf der Suche nach dem Sinn" und "Entzauberte Welt" zeigen in bestechender Klarheit auf, was es bedeutet, eine sinnvolle Existenz in einem "sinnleeren Universum" zu führen. "Von Lust und Freude" und "Das hedonistische Manifest" sind Meisterwerke des "aufgeklärten Hedonismus", die in brillanter Weise die Gedanken der verfemten Philosophen Epikur und La Mettrie aufgreifen und ins 21. Jahrhundert transportieren.

In den ersten Jahrzehnten seiner akademischen Karriere hatte Bernulf Kanitscheider hochkomplexe, mit mathematischen Formeln gespickte Texte publiziert (u.a. "Geometrie und Wirklichkeit", "Philosophie und moderne Physik"), denen allenfalls eine Handvoll Mathematiker und theoretischer Physiker folgen konnte. Dies brachte ihm den Ruf ein, ein besonders schwieriger, hochvergeistigter Vertreter der Philosophenzunft zu sein. Umso verstörter reagierten seine Fachkollegen, als ausgerechnet er ab den 1990er Jahren allgemeinverständliche Werke veröffentlichte, die den Körper als "biologische Stradivari" priesen, "Liebe, Lust und Leidenschaft" ins Zentrum der Ethik stellten und mit einer mitunter recht expliziten Sprache bewiesen, dass das Geschäft der Philosophie keineswegs eine Veranstaltung "triebschwacher Intellektualisten" sein muss.

Interessanterweise waren diese so unterschiedlichen Stränge der Kanitscheiderschen Philosophie allesamt logisch miteinander verknüpft. Seine Plädoyers für existentielle Gelassenheit, für ein freies, unverklemmtes Weltgenießen sowie für eine liberalere Drogen- und Sexualpolitik folgten geradezu zwingend aus seinen grundlegenden wissenschaftstheoretischen und kosmologischen Überlegungen. Diese enorme Breite und Konsistenz der Argumentation hat mich stets beeindruckt – und dies führte dazu, dass ich schon bald nach meiner ersten Begegnung mit dem Autor zu einem regelrechten "Kanitscheiderianer" wurde.

Ich traf Bernulf Kanitscheider erstmals Ende der 1990er Jahre auf einem jener berühmt-berüchtigten interdisziplinären Seminare, die der leider viel zu früh verstorbene Georg Batz in Nürnberg organisierte. Ich war damals 30 Jahre alt und frisch promoviert, während Bernulf, 1939 geboren, bereits 25 Jahre als Professor für die "Philosophie der Naturwissenschaft" an der Universität Gießen lehrte. Trotz des großen Alters- und Kompetenzunterschieds begegnete mir Bernulf unvoreingenommen, neugierig, interessiert, ohne jegliches Standesdünkel. Mich faszinierte vor allem die Vitalität, die geradezu jugendliche Begeisterung, mit der der damals 60-jährige Philosoph seine Thesen vortrug. Die "Lust am Denken" verkörperte er wie kaum ein Zweiter – und doch war dieser erste Kanitscheider-Vortrag für mich ein veritabler Schock, denn mir wurde schlagartig bewusst, wie wenig ich über die Welt wusste. Als typischer Absolvent der Geistes- und Sozialwissenschaften hatte ich die Erkenntnisse der Naturwissenschaften bis dahin weitgehend ignoriert. Nach Bernulfs Vortrag war mir klar, dass ich mich sehr viel gründlicher mit Physik, Chemie und Biologie auseinandersetzen musste, was eine "naturalistische Wende" in meinem Denken einleitete, die mich wenig später zum Konzept des evolutionären Humanismus brachte.

Als wir 2004 auf der Basis des evolutionären Humanismus die Giordano-Bruno-Stiftung gründeten, war Bernulf sofort bereit, uns als Beirat zu unterstützen. 2005 hielt er am Stiftungssitz einen wichtigen Vortrag zum damaligen Schwerpunktthema "Leitkultur Humanismus und Aufklärung". Was darauf folgte, habe ich in besonders lebhafter Erinnerung: Nach der Veranstaltung saßen wir – wie es sich für Epikureer gehört – bei gutem Essen und gutem Wein in geselliger Runde zusammen und diskutierten über Gott und die Welt. Als es schließlich thematisch um neue Konzepte der Kosmologie ging, zeigte sich auf recht amüsante Weise eine der wenigen Schwächen, die ich bei Bernulf jemals feststellen konnte. Denn in seiner liebenswert bescheidenen Art neigte er dazu, von sich auf andere zu schließen und bei seinen Zuhörern einen Grad an Bildung und kognitivem Verarbeitungsvermögen vorauszusetzen, der wohl nur in den allerseltensten Fällen gegeben war. So verhielt es sich auch an diesem Abend: Als Bernulf gefragt wurde, ob er das Konzept des Multiversums noch einmal auf etwas einfachere Art erläutern könne, nickte er eifrig und trug uns eine Reihe hochkomplexer mathematischer Formeln vor, die im Druck sicherlich drei Seiten ausgefüllt hätten. Als er geendet hatte, war die komplette Gesprächsrunde sprachlos, bis gbs-Stiftungsgründer Herbert Steffen das Schweigen mit einem kleinen Scherz durchbrach: "Okay, jetzt habe ich es begriffen!" Schallendes Gelächter war die Folge – nur Bernulf saß stumm und merkwürdig zufrieden auf seinem Stuhl und ich bin mir bis zum heutigen Tag nicht sicher, ob er damals wirklich verstanden hat, wie wenig wir verstanden hatten.

In den 13 Jahren seiner Mitgliedschaft im gbs-Beirat hat sich Bernulf Kanitscheider engagiert an der Stiftungsarbeit beteiligt. Er nahm an vielen Stiftungstreffen teil und bereicherte unsere Debatten durch kluge, differenzierte Beiträge. Auch in der medialen Kommunikation konnte man sich hundertprozentig auf ihn verlassen. Als Meister der intellektuellen Redlichkeit blieb er stets höflich in der Form, aber hart in der Sache (wie zum Beispiel in dieser Auseinandersetzung mit dem Physiker Gerhard Börner). Logische Inkonsistenz oder Inkonsequenz waren ihm ein Gräuel. In Erinnerung wird uns Bernulf allerdings nicht nur als blitzgescheiter Universalgelehrter bleiben, sondern auch als ein ungemein weltoffener, warmherziger, humorvoller und vielseitig interessierter Mensch, der in wunderbarem Einklang mit seiner Philosophie lebte. Letzteres änderte sich auch nicht, als er im Herbst 2016 von seiner Krebserkrankung erfuhr. Diejenigen, die kurz vor seinem Tod Gelegenheit hatten, mit ihm zu sprechen, waren erstaunt darüber, mit welcher Ruhe und existentiellen Gelassenheit er dem Unvermeidlichen entgegenblickte. Offenkundig profitierte er am Ende sehr davon, dass er sich ein Leben lang konsequent und illusionslos wie nur wenige andere mit der Vergänglichkeit des Menschen, des Sonnensystems, ja des gesamten Universums auseinandergesetzt hatte.

"Der Kosmos schweigt uns an" – auf diese kurze Formel hat Bernulf Kanitscheider seine kosmologischen und existentialphilosophischen Erkenntnisse gerne gebracht. Wir können uns alle glücklich schätzen, dass Bernulf uns nicht angeschwiegen hat, sondern so großzügig war, sein enormes Wissen mit uns zu teilen. Dies wird auch künftige Generationen bereichern, sofern sich evidenzbasierte, sinnlich erfahrbare und intellektuell plausible Konzepte durchsetzen sollten. Bernulf Kanitscheider hat dafür wichtige Grundlagen geschaffen. Das wird von ihm bleiben – weit über seinen Tod hinaus.

Michael Schmidt-Salomon