Viele Menschen streben nach einem langen Leben. Doch ist es wirklich sinnvoll, diesem Ziel bedingungslos hinterher zu jagen? Das erlebt unser Autor wieder mit Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet, sich aufgeopfert und verzichtet haben – getrieben von der Hoffnung, sich im Alter endlich eine erfüllte Lebensphase gönnen zu können. Doch nicht selten endet dieser Plan abrupt: Ein Schlaganfall, eine Krankheit oder ein Sturz führt dazu, dass sie ihre mühsam erarbeiteten Ersparnisse in die Kosten eines Pflegeheims stecken müssen und in Abhängigkeit und Hilflosigkeit dahinsiechen.
Diese Beobachtungen bringen mich zu der Frage: Sollten wir unser Leben wirklich auf eine möglichst lange Lebensspanne ausrichten oder wäre es nicht sinnvoller, den Fokus auf die Qualität und Würde unseres Lebens zu legen?
Es ist entscheidend, zwischen einem bewussten, überlegten Freitod und einem impulsiven Suizid aus einer Kurzschlussreaktion zu unterscheiden. Tragische Suizide entstehen häufig in akuten Notsituationen, in denen Betroffene keinen Ausweg sehen. Mit der richtigen Unterstützung und Zeit könnte sich ihre Perspektive häufig verändern, und der Suizidwunsch würde möglicherweise verblassen.
Ein bewusster Freitod hingegen ist das Ergebnis eines ruhigen, gut durchdachten Prozesses. Er entsteht aus einer tiefen Auseinandersetzung mit der eigenen Situation und steht für Selbstbestimmung und Würde – auch wenn er oft von Verzweiflung begleitet ist.
Hospizarbeit und Palliativmedizin leisten Großartiges, indem sie Menschen am Lebensende unterstützen. Sterbehilfegegner argumentieren häufig, dass diese beiden Säulen ausreichen würden, um Leiden im Sterben zu lindern, und dass es daher keiner dritten Säule wie der Sterbehilfe bedarf. Doch was ist mit denen, die nicht bis zum Todkrankenstatus warten wollen? Auch Lebenssattheit – das Gefühl, ein erfülltes Leben gelebt zu haben – kann ein legitimer Grund sein, das Leben beenden zu wollen. Menschen, die bewusst für sich entschieden haben, dass es Zeit ist, Abschied zu nehmen, dürfen nicht pauschal ignoriert werden.
Ein weiteres eindrückliches Beispiel für die Notwendigkeit der Sterbehilfe ist die Geschichte von Noah Berge, einem ehemaligen Profi-Basketballspieler, der nach einem schweren Unfall von der Halswirbelsäule abwärts gelähmt war. Trotz intensiver Bemühungen, über zweieinhalb Jahre hinweg in ein erfülltes Leben zurückzufinden, konnte Noah mit seiner Situation nicht fertigwerden. Hospizangebote und Palliativmedizin waren für ihn keine Option, da sie nicht auf seine Bedürfnisse ausgelegt waren. Schließlich entschied sich Noah für Sterbehilfe, um in Würde und Frieden Abschied von seinem Leben zu nehmen. Seine Geschichte zeigt, dass Sterbehilfe in bestimmten Fällen der einzige Weg ist, Menschen Würde und Frieden zu ermöglichen.
Ich glaube, dass der Fortschritt der Menschheit uns die Möglichkeit gibt, unser Lebensende bewusst und würdevoll zu gestalten – im Gegensatz zu Tieren in der Natur, die einem leidvollen Sterben hilflos ausgeliefert sind. Die Fähigkeit, über das eigene Ableben zu entscheiden, ist für mich ein Ausdruck menschlicher Entwicklung. Warum sollte es "unnormal" sein, diesen Fortschritt zu nutzen und bewusst eine Abkürzung zu wählen, anstatt einen oft von Leid und Hilflosigkeit geprägten natürlichen Verlauf zu ertragen?
Oft höre ich von Kritikern der Sterbehilfe, dass vulnerable Gruppen wie ältere oder kranke Menschen unter Druck gesetzt werden könnten, sterben zu müssen. Als Beispiel wird angeführt, dass Kinder aus finanziellen Motiven Druck ausüben könnten, etwa um schneller an ein Erbe zu gelangen, oder dass die hohen Pflegekosten ein Grund sein könnten, pflegebedürftige Menschen subtil in Richtung eines vorzeitigen Lebensendes zu drängen. Doch in der Realität zeigt sich oft ein anderer Druck: Der Druck, weiterzuleben. Pflegeheime, die Medizinindustrie oder überforderte Angehörige hindern Betroffene häufig daran, über einen bewussten Abschied nachzudenken. Das Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Ende wird gesellschaftlich weiterhin stigmatisiert und häufig als persönliches Versagen dargestellt.
Auch Menschen mit psychischen Erkrankungen begegnen zusätzlichen Hürden. Es ist wichtig, sicherzustellen, dass alle verfügbaren Therapien ausgeschöpft werden. Doch was ist mit denen, die trotz jahrelanger Behandlungen keine Linderung erfahren? Sie ebenfalls ernst zu nehmen und ihnen nicht pauschal die Möglichkeit der Sterbehilfe zu verweigern, ist aus meiner Sicht unverzichtbar.
Es wird oft argumentiert, dass der bewusste Freitod eines geliebten Menschen eine psychologische Belastung für Angehörige darstellen könnte. Doch der Tod ist, unabhängig von seiner Form, immer ein schmerzvoller Moment, der unvermeidbar Trauer mit sich bringt. Niemand hat das Recht darauf, von der Trauer verschont zu bleiben – sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens und spiegelt die Tiefe menschlicher Verbindungen wider. Dennoch bietet ein friedvoller und selbstbestimmter Abschied die Möglichkeit, bewusst Lebewohl zu sagen und einen klaren Schlussstrich zu ziehen. Die Chance, den Tod als bewussten und würdevollen Akt zu verstehen, kann Angehörigen helfen, den Verlust besser zu verarbeiten und mit mehr Frieden Abschied zu nehmen. Der Freitod meiner Freundin Käthe Nebel hat mir gezeigt, dass so ein Abschied auch als feierliche Zeremonie stattfinden kann. Mehr über Käthe Nebels bewussten Abschied und ihr Engagement können Sie auch beim hpd nachlesen. Statt allein die Belastung der Angehörigen in den Mittelpunkt zu stellen, ist es mir wichtig, die Perspektive der sterbewilligen Person zu respektieren. Der Tod bleibt ein unvermeidbarer Teil unseres Lebens.
Letztendlich zählt für mich nicht, wie lange ein Leben dauert, sondern welche Qualität es hat. Eine freie Gesellschaft sollte die Entscheidung für einen bewussten Freitod nicht nur zulassen, sondern sie als Ausdruck von Menschlichkeit und Selbstbestimmung respektieren.

Kommentar hinzufügen
Netiquette für Kommentare
Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare vor der Veröffentlichung zu prüfen und über die Freischaltung zu entscheiden.