Rezension

Ostdeutschland als Blaupause für den Westen

Blaupause ist ein Modewort. Es meint Vorbild, Grundlage, Idee, Modell, Muster. Blaupause klingt geheimnisvoll. Es passt zum Thema "die Konfessionsfreien". Diese sind noch immer ein gesellschaftswissenschaftliches Geheimnis. Ihre Zahl scheint aber inzwischen groß genug, dass Kirchen und ihre Theologen diese Großgruppe nicht mehr ignorieren oder deren Existenz als allein ostdeutsches Phänomen, gar als Produkt der DDR, denunzieren können. Was bleibt davon? Niemand kann an dem Thema vorbei, ohne über das weitgehend religionsfreie Ostdeutschland zu reden – als "Blaupause" für ganz Deutschland, gar Europa? Der vorliegende Sammelband, den Horst Groschopp im Folgenden bespricht, gibt dazu einige Hinweise, die der Rezensent hinsichtlich ihres möglichen Ertrages für das "säkulare Spektrum" befragt.

So reich das Spektrum an Problemen im Feld von Religion, Kirche und Ungläubigkeit ist, so breit aufgestellt sind die 13 Autoren (davon sechs Professoren der Theologie und fünf der Philosophie), die die beiden Herausgeber für einen "Dialog aus christlichem Ursprung" gewonnen haben. Neben streng theologischer Kategoriendebatte finden sich soziologisch, naturwissenschaftlich, ethisch (Dieter Birnbacher und Eberhardt Schockendorff über Sterbehilfe) und politisch argumentierende Positionen, um einem Dialog im Rahmen der Eugen-Biser-Stiftung mit Juden und Muslimen nun einen mit betont religionskritischen, humanistischen und sogar atheistischen Thesen hinzuzufügen.

Das Ziel, einen "Dialog aus christlichem Ursprung" zu führen, mündet logischerweise zum Ende des Buches in zwei grundsätzlichen gegenteiligen Betrachtungen, die beide (Perry Schmidt-Leukel bzw. Gregor Paul) die gleiche Frage erörtern: Was hat uns das Christentum gebracht? Beide Autoren bemühen sich, ein breites Verständnis von Christentum zu entfalten. Nimmt man ihre Positionen als Ergebnisse des Dialogs, so kann abschließend freundlich formulierte Dissonanz festgehalten werden. Schmidt-Leukel ist sehr optimistisch. Er sieht ausgerechnet durch das Christentum einen Beitrag zur Menschheitsentwicklung dahingehend erbracht, die religiösen und weltanschaulichen Unterschiede erkannt und befördert zu haben, historisch zurückreichend auf die achsenzeitliche Universalisierung des Gottesbewusstseins (vgl. S. 300 f.). Paul dagegen, die Widersprüche der Kirchengeschichte betrachtend, meint lapidar: "Radikale Sakularität ist unabdingbar." (S. 313)

So erfreulich kontrovers sind alle Texte. Dialog meint gegenseitige Kenntnisnahme. Gleich einleitend stellt Gerhard Vollmer Das naturalistische Menschenbild vor. Nun ist sein Aufsatz eine fast kanonische, jedenfalls sehr waghalsige direkte philosophische Ableitung aus naturwissenschaftlichen Befunden. Das erleichtert Arnim Kreiner (Naturalismus und Theismus) das theologische "Erklärungsgeschäft" (S. 41). Er legt dar, wie der Theismus mit dem Naturalismus umgehen sollte und behandelt vor allem die "Frage, auf welche Strategien man aus pragmatischen Gründen setzen sollte" (S. 39). Selbstverständlich sei eine Verbindung von Religion und Naturalismus möglich, ja sogar notwendig, weil Gott sonst nicht in der Welt wäre (vgl. S. 48).

Auch andere theologische Beiträge in dem Band zeichnen sich durch eine problematisierende Offenheit aus. Bei der Frage von Bernward Gesang (Kann Theismus überzeugen?) drängt sich allerdings die Nachfrage auf: Wen soll der Theismus überzeugen? Klar, die Nicht-Theisten. Der Autor zieht sich in seiner Antwort auf den Glauben zurück und begründet von dort aus radikal, dass "es fraglich ist, inwiefern ein gehaltvoller Theismus überhaupt überzeugend vertretbar ist" (S. 59), wogegen dann Saskia Wendel schreibt "Drum besser wär’s, dass nichts entstünde"? Streitfall "Theodizee".

Theologie und Kirche müssen zur Kenntnis nehmen, der Band spiegelt dies, dass sich außerhalb von ihnen nicht nur säkulare Experten für Rituale etablierten, ihre bisherige Domäne, sondern dass eine nichtreligiöse Spiritualität zunehmend soziale Räume besetzt und sich sogar Ansätze einer humanistischen Mythenbildung zeigen, die jede Kultur, will sie mehr sein als eine Idee, auszeichnet. Zwei der Autoren reflektieren diese Novitäten als Fragen nach einer atheistischen Mystik, denen sich Alois Maria Haas (Das Verhältnis von Atheismus und Mystik – eine Skizze) außerordentlich umfänglich, aber ganz anders pointiert widmet als Franz Josef Wetz (Säkulare Mystik. Technoclubs, Mittagsstille und Sternenhimmel).

Wetz sieht Mystik als eine Technik, mit der "Verzückung" bewirkt wird (vgl. S. 113, 112). Er stellt Formen säkularer Mystik vor und setzt diese in Korrelation zu neuronalen Vorgängen im Menschen und äußeren Erscheinungen dieser Mystiken in der Kultur, dabei den expressionistischen Romancier Gustav Sack (postum 1920) zitierend, der in diesen Formen Fluchtbewegungen des modernen Menschen sah (vgl. S. 125). Dem wäre religions- wie kulturwissenschaftlich genauer nachzugehen und Fußball, Facebook und Medienbetrieb auf ihre Kulturbezogenheit und Religionsaffinität hin zu betrachten.

Der Beitrag von Roderich Barth ("Religion, bevor sie Religion ist" – Überlegungen zur Kulturhermeneutik der Moderne) leitet über zum spannenden Mittelteil des Buches, den aktuellen Debatten darüber, wer die Konfessionsfreien sind und welche Strategie sie in organisatorischer Hinsicht leiten sollte.

Eigentlich gehört hierzu auch der Beitrag von Daniel Cyranka (Typisch ostdeutsch? Repräsentationen von "Religion" und "Nichtreligion"), der das "Ossi" als Kollektivsingular in Beziehung setzt zum Bild vom "Orientalen", das, historisch gesehen, vor dieser ostdeutschen Spezies als Protyp des "symbolischen Ausländers" galt. Der Cyranka-Text ist in mehrfacher Hinsicht sehr anregend. Ossis wie ich kommen angesichts der von ihm gefundenen Zuschreibungen aus dem Schmunzeln nicht heraus, etwa wenn er diskutiert, dass Ostdeutsche überall in Deutschland Ostdeutsche sind, auch in Ostdeutschland, während Westdeutsche nur im Osten westdeutsch sind. (Anmerkung: Woraus folgert, dass der Westdeutsche immer als Deutscher gilt, während der Ostdeutsche diesen Status erst nachweisen muss; was wiederum ein Zugang sein kann zu erklären, warum bestimmte enttäuschte Ostdeutsche sich nun besonders "deutschvölkisch" geben.) Welche Folgen diese von Cyranka dargelegten kulturellen Vorurteile für gängige und medientaugliche, auch theologisch gemeinte Bilder und Thesen von ostdeutscher Nichtreligion haben, lässt den Autor ein ums andere Mal folgern, dass hier oft empirisch so vermutlich nicht vorhandene Realitäten sozusagen quasiwissenschaftlich verhandelt werden (vgl. S. 171). Man kann weitere Aufhellung erhoffen.

Gert Pickel wird dann mit seinen religionssoziologischen Befunden im Sammelband zum Fackelträger der Aufklärung über Konfessionsfreie. Die Überschrift seines Textes ist eine gute Inhaltangabe: Religion, Religionslosigkeit und Atheismus in der deutschen Gesellschaft – eine Darstellung auf der Basis sozial-empirischer Untersuchungen. Seine Ergebnisse diskutiert Pickel anhand dreier aktueller Interpretationsstränge und ordnet sie ein: Säkularisierungstheorie (die er favorisiert), Individualisierungen des Religiösen, Religiöse Marktmodelle. Pickel legt wert auf die Einordnung religiöser Entwicklungen in soziale Vorgänge, betont die Abhängigkeit davon, arbeitet das Zwischenstadium "kirchliches Randmitglied" als Vorform des endgültigen Abschieds heraus, verneint die These von der "Bastelreligion" usw. und zeigt dies alles an Zahlen.

Hervorzuheben ist Pickels permanenter, sonst nicht allzu üblicher Ost-West-Vergleich, der ihn zu folgender Provokation hinführt, die eingangs "Blaupause" genannt wurde: "Mit etwas Mut könnte man die gegenwärtige Situation in Ostdeutschland als eine Vorwegnahme des westeuropäischen Säkularisierungstrends interpretieren." (S. 187) "Die Differenzen in der Religiosität zwischen West- und Ostdeutschland werden in den letzten Jahren höchstens dahingehend korrigiert, dass der Westen sich dem Osten Deutschlands langsam annähert." (S. 191)

Wenn dem so ist (was spräche dagegen?), muss man sich schon wundern über die bewusste Abstinenz in der "säkularen Szene" gegenüber Ostdeutschland und dessen Vorgeschichte. Ist die organisatorische Schwäche im Osten (abgesehen von HVD Berlin mit "Speckgürtel" Brandenburg) nur der Vorgriff, wie es mit dem Westen weitergeht? Vermutlich. Dann wären aber weitere Fakten ernst zu nehmen und zu interpretieren, z. B. dass zwar der Verfall der Kirche als "Heilsgemeinschaft" in Ostdeutschland anhält, dies aber im Kontrast steht zum unaufhaltsamen Wachstum der Kirchen als Wirtschafts-, Sozial- und Politikbetriebe.

Für die "säkulare Szene" stellt Michael Bauer, Vorstand des HVD Bayern, die Konzeption seiner Organisation, den Verband selbst und die entwickelteren Formen seiner Praxis vor und ordnet beides ein in ein von ihm gefordertes gesellschaftliches Reformprogramm, das der zunehmenden Zahl der Konfessionsfreien gerecht wird und deren Benachteilungen ("Diskriminierung nichtreligiöser Menschen“, vgl. S. 228 ff.) durch ein breites Programm der Gleichberechtigung beseitigt: Kooperative Laizität. Herausforderungen der deutschen Religionspolitik aus Sicht des Humanistischen Verbandes Deutschlands.

Auf eine Diskussion des Laizismus-Begriffs lässt sich Bauer nicht ein, also auch nicht, warum das Konzept "Kooperativer Laizismus" heißt, warum jetzt der Laizismus-Begriff bemüht wird und wo das Programm herstammt. Er macht eingangs lapidar zwei Gruppen in der säkularen Szene aus, die des HVD und die andere. Die letztere (streng laizistische) Richtung verfechte das (französische) Modell einer strikten Trennung von Staat und Kirche, mit der Folge: "Konsequenterweise wollen sie in der Regel keine der Tätigkeitsfelder, mit denen sie sich auseinandersetzen, für sich selbst eröffnen." (S. 226)

Es bleibt selbstredend das Problem, ob sich der HVD in seinen Vor-Ort-Praxisfeldern tatsächlich so optimistisch entwickelt, wie es Bauer annimmt und seinem Konzept generalisierend zugrundelegt. Vorsorglich bestimmt er den Beleg für ideelle Zustimmung außerhalb von Mitgliederzahlen. Der Vorwurf von gegnerischer Seite, man habe einfach zu wenig Mitglieder, sei "schlicht die falsche Messgröße" (S. 231). Folgerichtig umreißt eine Zwischenüberschrift sein Spektrum: "Mitglieder – Zugehörige – Zustimmende – Klienten – Kunden" (S. 230). Das historische Vorbild ist hier zweifellos der Deutsche Freidenkerverband Berlin-Brandenburg von 1930 mit seinen 600.000 Mitgliedern. Die Mehrzahl kam über den "Schmorverein", wie die dem Verein zugehörige Bestattungskasse im Volksmund genannt wurde. Aber sie waren ordentliche Mitglieder mit demokratischen Rechten, also mehr als betreute Klienten und zufriedene Kunden.

Doch was hätte die von Bauer prognostizierte Entwicklung für Folgen für den Verband HVD selbst? Das ist zwar ein weiteres Thema, aber das Problem deutet sich im Bauer-Text an. Es wird sichtbar nicht nur hinsichtlich der Organisationsfrage, was das dann für ein Verband sein sollte oder könnte, sondern im Kontext des Sammelbandes: Was erbringt der Humanismus? Er wird bei Bauer nicht definiert, sondern weitgehend als Forderung an das Hochschulwesen behandelt (vgl. S. 244). Damit bestätigt er das Manko dieser noch jungen "Bewegung", nämlich zu wenig über Humanismus zu wissen und an seiner Theorie und Geschichte zu arbeiten.

Hier wird das Grundproblem des gesamten Sammelbandes sichtbar, dass nämlich die Konfessionsfreien immer weniger allein hinsichtlich ihres Bezuges auf Religion, Christentum oder Kirchen auf der einen und Atheismus auf der anderen Seite bestimmbar sind, sondern dass sie niemandes Blaupause darstellen, sondern eine ziemlich bunte, unbekannte, höchst unerforschte Großgruppe.

Katja Thörner/Martin Thurner (Hrsg.): Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus. Freiburg i. Br.: Verlag Herder GmbH 2016, 358 S., 24,99 Euro, ISBN 978-3-451-31135-2