Hundert Jahre "weltliche Schule" und "Lebenskunde"

Am 15. Mai 1920 entstand in Berlin-Adlershof die erste "weltliche Schule". Nahezu zeitgleich wurde an einigen Schulen in Berlin-Lichtenberg "Lebens- und Religionskunde" anstelle von Religionsunterricht eingerichtet. Zwar gab es ähnliche Bestrebungen schon vorher im Raum Düsseldorf und parallel in Sachsen, doch war die Berliner Schule die erste in Deutschland, die dafür eine Ministererlaubnis erhielt. Preußen wurde schließlich zum einzigen Land im Reich, das solche Schulen duldete: jede mit einmaliger Ministererlaubnis.

Die konzeptionelle Vorgeschichte und das knappe Dutzend Jahre des Kampfes um solche Schulen bis zu ihrem sofortigen Verbot 1933 im Nationalsozialismus gehört zu den heroischsten und tragischsten Kapiteln der deutschen Freidenkergeschichte – und zwar aller ihrer vielen Fraktionen. Nie vorher und nie wieder danach erreichten ihre Akteure derartigen Einfluss, wenn man einmal von der DDR absieht. Die "weltliche Schule" schaffte es bis hinein in den staatlichen Machtbereich des Volksbildungswesens, mehr noch, 1919 in die Weimarer Reichsverfassung (trotz vieler Rückzüge per Kompromiss um Kompromiss) und damit auch bis hinein ins Grundgesetz. Nichts anderes verbirgt sich hinter der verfassungsmäßig garantierten "bekenntnisfreien Schule" (Art. 7,3) – von der es aber heute nicht eine einzige gibt.

Es ging den freidenkerischen Initiatoren 1920 auch gar nicht um einzelne Schulen, sondern um die grundsätzliche, deutschlandweite Herstellung der Weltlichkeit des Schulwesens auf dem Wege der Schaffung "weltlicher" Schulen überall. Die in der kurzen Geschichte realer "weltlicher Schulen" der Weimarer Republik aktiven Pädagogen sprachen zunächst von "Freien Schulen", frei im Denken, weil frei von religiösen Dogmen. Zudem entstanden zahlreiche Privat-, Lebensgemeinschafts-, Versuchs- und Aufbauschulen, die sich "weltlich" definierten – aber faktisch keine "weltlichen Schulen" waren. Alle zusammen erreichten sie auch nur ein Prozent der deutschen Schülerschaft.

"Weltliche Schule" war seit der "Erklärung der Religion zur Privatsache" 1875 in sozialdemokratischen Programmen ein Kampfbegriff der Arbeiterbewegung, aber auch ein Ziel linksliberaler Bildungs- und Gesellschaftsreformer, gerade im Umfeld der intellektuellen "Humanistengemeinden" der ethischen Kulturbewegung ab 1892, in denen das Konzept sowohl von "weltlicher Schule" als auch von "Lebenskunde", die zuvor "Moralunterricht" hieß, entwickelt wurde. Eine Schlüsselperson und ein "Übersetzer" war hier Dr. Rudolph Penzig.

Offiziell hießen diese Einrichtungen die gesamte Weimarer Zeit über "Sammelschulen" oder "Sammelklassen". "Weltliche Schule" war als Begriff in der Amtssprache regelrecht verboten. Rechtlich gesehen handelte es sich um "Notlösungen", um den Schul- und Religionsfrieden zu sichern. Eine solche Schule erforderte vor allem dissidentische Eltern, die ihrer Distanz zur Kirche auch im Bildungsweg ihrer Kinder Ausdruck geben wollten, indem sie diese vom Religionsunterricht abmeldeten. Der Genehmigungsweg war kompliziert, die Schulen selbst blieben formal katholisch oder evangelisch. Es gab viele Streikaktionen, wobei auch Gegner dieser Schulen zu den gleichen militanten Mitteln griffen.

"Weltliche Schulen" waren laut Verfassung für ganz Deutschland vorgesehen. Das sollte ein Reichsschulgesetz klären, das aber nie zustandekam. So gab es sie nur in Preußen, hier wiederum besonders in den linksorientierten Regierungsbezirken Berlin (52 "weltliche Schulen"), Düsseldorf (75), Hannover (6), Magdeburg (13) und Arnsberg (54).

In den Ländern bauten Konservative und Kirchen Gegenstrukturen auf, auf die dann in der Bundesrepublik nach 1945 zurückgegriffen wurde. Die Verhandlungen in der Nationalversammlung 1919, der Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung und die späteren Debatten um ein Reichsschulgesetz zeigen, dass der Begriff "bekenntnisfreie (weltliche) Schule" zwei Bedeutungen besaß, wie sie Walter Landé, einflussreicher preußischer Ministerialrat für Schule und Verbindungsperson Preußens in diesen Fragen beim Reich, an­hand des Entwurfs von 1921 für ein Reichsschulgesetz, festhielt:

"Die bekenntnisfreie Schule, die bekenntnismäßigen Religionsunterricht im Artikel 149 Absatz 1 nicht erteilt, und zwar

a) weltliche Schule, die ohne Einschränkung des Bekenntnisses oder der Weltanschauung zur Aufnahme aller Schüler dient,

b) Weltanschauungsschule, die grundsätzlich zur Aufnahme von Schülern bestimmt ist, die für eine bestimmte Weltanschauung erzogen werden sollen."

Beispielbild
Plakat der Ausstellung "Denket selbst".

Dass die "Weltanschauungsschulen" gar nicht als "bekenntnisfrei" gelten konnten, sondern "konfessionelle Bekenntnisschulen" waren, ging im Urteil der Zeit weitgehend unter, zumal es keine freidenkerischen gab. Der sozialdemokratische Staatssekretär Heinrich Schulz, der die Schulartikel in der Nationalversammlung begründete, sprach noch klar von "jüdischen, freireligiösen und sonstigen" Schulen.

Der Nationalsozialismus bescherte diesem Spuk der "weltlichen Schulen" ein rasches Ende – von den Kirchen applaudiert. Zwar änderte sich das Schulsystem kaum, doch nahm die ideologische Einflussnahme auf den Unterricht vehement zu, christlicher Religionsunterricht wurde dort wieder eingeführt, wo er abgeschafft beziehungsweise vernachlässigt worden war. Linke, vor allem aber jüdische Lehrer wurden aus den öffentlichen Schulen verbannt, dann auch jüdische Kinder. Lebenskunde wurde nun "Rassekunde" innerhalb der Biologie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte auf dem Gebiet der späteren DDR, zu diesem Zeitpunkt noch Sowjetische Besatzungszone, die Sowjetische Militäradministration für Berlin bereits im Juni 1945, dass nur die Kirchen das Recht hätten, Religionsunterricht in ihrer Konfession für die Kinder ihrer Gläubigen zu erteilen, nicht der Staat. Diese Maßnahme begleitete die Entnazifizierung der Lehrerschaft, die zugleich mit einer größeren Fluchtbewegung von Lehrern in die westlichen Besatzungszonen zu einem Personalmangel und zur "Neulehrer"-Bewegung führten.

Die 1945er Regelung wurde zunächst für die gesame Ostzone übernommen, bis in den 1950er Jahren die vorangetriebene Trennung von Staat und Religion die Verbannung der Kirchen aus den Schulen zur Folge hatte. In der DDR fand schließlich "Christenlehre" außerhalb der Schule als freiwilliger Unterricht der Kirchen in deren Gemeinden statt. Das Schulsystem selbst war als mehrgliedrige Einheitsschule konstruiert, ebenso ein altes Ziel der SPD wie das Fach "Staatsbürgerkunde" (rein formal gesehen).

Ganz anders verlief die Geschichte in den westlichen Besatzungszonen. Hier knüpften die jeweiligen Schulsysteme 1945 unmittelbar an die Strukturen an, wie sie bis 1933 bestanden, behielten aber die Vorteile bei, die der Nationalsozialismus den Kirchen (etwa für die Katholiken im Konkordat vom 20. Juli 1933) eingeräumt hatte. Ein Beispiel für den unmittelbaren Einfluss, der den Kirchen in der Gesellschaft und den Schulsystemen großzügig gegeben wurde, ist die Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947. Ähnliches vollzog sich im Prinzip in den neuen Verfassungen der anderen westdeutschen Länder und wurde dann 1990 auf Ostdeutschland übertragen.

Andreas Goeschen zeichnet in seiner 2005 veröffentlichten verfassungsrechtlichen Dissertation minutiös die Rechtsgeschichte der Formel von der "bekenntnisfreien (weltlichen) Schule" nach und belegt, wie der Zusatz "mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen" (Art. 7,3) ins Grundgesetz kam – übrigens bezeichnenderweise ohne den Klammerzusatz "weltlich".

So leben wir faktisch unter einem Reformverbot in Richtung Weltlichkeit des Schulwesens. Ich halte das Problem für viel schwerwiegender als die "Ablösung der Staatsleistungen".

Vor über 20 Jahren – zum 80. Jahrestag – gab es in Berlin eine Ausstellung "Denket selbst" des HVD und des Heimatmuseums Treptow. Da ging es vorwiegend um das Schulfach "Lebenskunde", aber auch um die "weltlichen Schulen". Beide bildungspolitischen Forderungen, die nach "Weltlichkeit des Schulwesens" und die nach einer "Lebenskunde", bedürfen der Erinnerung und des Nachdenkens darüber, was davon für die Gegenwart nützlich sein kann.

Der Text wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift "Materialien und Informationen zur Zeit" MIZ 1/20, S. 29–32. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Das Drehbuch der Ausstellung "Denket selbst" des HVD und des Heimatmuseums Treptow ist – wie viele andere Quellen – dokumentiert in dem demnächst erscheinenden Buch: Horst Groschopp: Weltliche Schulen und Lebenskunde. Dokumente und Texte zur Hundertjahrfeier ihrer praktischen Innovation 1920. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, ca. 300 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-86569-219-1 (Humanismusperspektiven, Band 8).

Unterstützen Sie uns bei Steady!