Gesellschafts-Kolumne

Im Tod sind längst nicht alle gleich

PARIS. (hpd) Manche Tote können sich vor Besuch kaum retten, andere müssen selbst den Lebenden einen Besuch abstatten, um nicht vergessen zu werden. In der hpd-Gesellschaftskolumne erklärt Carsten Pilger den Unterschied zwischen Jim Morrison und ertrunkenen Flüchtlingen und verrät, welche Sehenswürdigkeit das Berliner Regierungsviertel aufwerten könnte.

Die Totenruhe ist in Paris ein sehr dehnbarer Begriff. Die Stadt, in der jede noch so kleine Sehenswürdigkeit ein potenziell sprudelnder Quell frischen Geldes ist, stellt ihre Gebeine für das Touristenvolk gerne zur Schau. Das bekannteste Beispiel ist der Friedhof Père-Lachaise im Osten der Stadt, dessen Anziehungskraft nicht nur aufgrund kunstvoll gestalteter Mausoleen und Grabmäler besitzt. Wie so oft ist es der große Name manch Bestatteter, der Père-Lachaise einen Dauerplatz in den Touristenführern der Stadt sichert: Edith Piaf, Oscar Wilde und Jim Morrison. 

La Môme Piaf besang „La vie en rose“ und Fans sorgen auch heute für frische Rosen auf ihrem Grab. Zu Lebzeiten hingen zwar nicht alle, aber viele Leser an den Lippen des Autors Oscar Wilde. Auf seinem Grab hinterließen viele Fans mit rot geschminkten Lippen einen Kussabdruck – bis die Friedhofsverwaltung entschied, dass diese Ehrerweisung das Gestein schädigen könnte. Und der legendäre Frontmann der Doors konnte den Diebstahl der Büste auf seinem Grab nicht mehr erleben (es sei denn, er lebt noch irgendwo unter falschem Namen, wie einige Anhänger behaupten). Die Erinnerung an die Schönen, Berühmten, Genialen, aber auch Tragischen ist vielfältig, bunt und kaum übersehbar. Es scheint so, als sei der Aspekt des Todes hier wirklich nebensächlich. Neben den Stars verblassen die Gräber der unbekannteren Bürger der Stadt, zumindest bis die Familie mit Politur und Schwamm zum Sonntagsausflug auf den Friedhof kommt.

Ein anderer Friedhof sorgt in Deutschland für Schlagzeilen. Das Zentrum für Politische Schönheit überführt derzeit im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge nach Berlin. "Wir geben den Menschen die Würde zurück, die ihnen an der europäischen Außengrenze genommen wurde", so ein Sprecher der Aktionskünstler, Justus Lenz. Innerhalb weniger Tage haben über 1.500 Spender mehr als 45.000 Euro gesammelt. Als Höhepunkt der Aktion ist eine Demonstration vor dem Kanzleramt geplant, die mit der Grundsteinlegung eines Friedhofs für die „unbekannten Einwanderer“ enden soll.

Dass dieser am Ende wirklich entsteht, ist eher unwahrscheinlich. Manche Beobachter werfen den Künstlern Zynismus vor, andere die Störung der Totenruhe für politische Zwecke. Dabei wird der Sinn der Begräbnisse von ertrunkenen Flüchtlingen massiv verkannt. Diese Totenruhe ist laut. Sie ruft zum Handeln auf. Sie erinnert an die blinden Flecken der von Friedens- und Freimarktsgedanken beschwingten Erzeuropäer. Europa. Der Kontinent, der anders als die Heimatländer geflüchteter Menschen eine politische Stabilität aufweist und Menschen, die ein Leben in Sicherheit suchen, ein solches auch ermöglichen könnte. Wenn die Regierungen der Europäischen Union es denn wollten. 

Die Toten sind keine Piafs, keine Wildes, keine Morrisons. Und doch ist das Interesse an einem Friedhof vor dem Kanzleramt groß, gerade weil hier der Aspekt im Vordergrund steht, der etwa bei Père-Lachaise fast schon nebensächlich ist: Der Tod. Der Friedhof für die „unbekannten Einwanderer“ stünde der Hauptstadt gut zu Gesicht. Wenn im Tod dann alle gleich sind, behandelt Europa vielleicht irgendwann auch mal die lebenden Flüchtlinge wie seine Bürger.