WITTENBERG. (hpd) Martin Luther stellt als bedeutender Vertreter der Reformation, die er mit seinem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 eingeleitet haben soll, eine herausragende Persönlichkeit in der Geschichte des Christentums dar. Seine Kritik an kirchlichen und sozialen Zuständen löste eine Reformbewegung aus, welche über die Gründung evangelischer Landeskirchen unter weltlichen Fürsten in der Etablierung des Protestantismus als eigener Konfession mündete.
In diesem Zusammenhang wirkte Luther als Modernisierer des christlichen Glaubens und Kritiker der etablierten Kirche – aber auch als Wegbereiter bedeutender geistiger und politischer Auseinandersetzungen im Übergangsprozess vom Mittelalter zur Neuzeit. Aufgrund seiner historischen und weltweiten Bedeutung besteht ein affirmatives Bild von Luthers Person im öffentlichen Bewusstsein, das hier mit Verweisen auf kritikwürdige Aspekte seines Wirkens konfrontiert werden soll. Zunächst allerdings einige Angaben zu Luthers Biographie und Grundpositionen.
I. Biographische Daten und Grundpositionen
1. Geboren wurde er am 10. November 1483 in Eisleben als Sohn eines Bergmanns, der Luther zunächst Lateinschulen in Mansfeld und Eisenach ab 1497 und der Artistenfakultät in Erfurt ab 1501 besuchen ließ und ihm das juristische Studium ab 1505 ebendort ermöglichte. Dies brach Luther aber nach wenigen Wochen ab, da er in Todesangst angesichts eines schweren Gewitters ein Gelübde abgelegt habe. In dessen Folge trat Luther einem Mönchsorden in Erfurt bei, wurde 1507 Priester und nahm das Studium der Theologie auf. 1512 promovierte Luther in diesem Fach und erhielt eine Professur für Bibelauslegung an der Universität Wittenberg. Bereits zuvor hatte er 1508 und 1509 als Dozent für Moralphilosophie ebendort gearbeitet und sich 1510 und 1511 in Ordensangelegenheiten in Rom aufgehalten. Die inneren Auffassungen, konkreten Erfahrungen und das strenge Mönchsleben brachten ihn in Gegensatz zu dem etablierten kirchlichen Leben, was im Unmut über die Praktiken des Ablasses zum Ausdruck kam.
2. Als zentrales Ereignis gilt hier der Anschlag der 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg, womit Luther gegen die Gewährung von Vergebung für Sünden nach entsprechenden Geldzahlungen protestiert habe. Hierbei handelt es sich allerdings um eine historische Legende: Sie geht zurück auf die Aufzeichnungen eines Zeitgenossen aus dem persönlichen Umfeld Luthers, wobei es sich aber nicht um einen Augenzeugenbericht handelt und worin auch nicht von einem Thesenanschlag die Rede ist. Vielmehr habe Luther seine Auffassungen an diesem Tag lediglich zur Disputation vorgelegt. Weder der angebliche Akteur selbst noch seine Zeitgenossen berichteten von einem öffentlichen Thesenanschlag an der Schlosskirche. Offenbar sandte Luther am 31. Oktober 1517 lediglich seine schriftliche Stellungnahme an verschiedene Bischöfe. Ihm ging es somit zu dieser Zeit nicht um eine öffentliche Auseinandersetzung um diese Frage und wohl auch nicht um einen dezidierten Bruch mit der katholischen Kirche. Dieser Aspekt mag erklären, warum evangelische Kirchenhistoriker so lange ohne nähere Belege am Bild vom Thesenanschlag festhielten.
Darüber hinaus gibt es bei dieser Legende noch einen weiteren beachtenswerten Gesichtspunkt: Entgegen weit verbreiteter Auffassungen wandte sich Luther nicht prinzipiell gegen den Ablasshandel, sondern nur gegen dessen Missbrauch durch einige Prediger. Da es sich dabei um eine lukrative finanzielle Angelegenheit handelte, gewährte man den Käufern derartiger Briefe auch die Vergebung von Sünden nur durch Bezahlung und ohne Reuebekundung. Darüber hinaus war Luther auch in seiner Funktion als Seelsorger von den seinerzeitigen Entwicklungen direkt betroffen, kauften doch gerade seine Beichtkinder über die Landesgrenzen hinweg Ablassbriefe von einem zwielichtigen Dominikanermönch. Gerade diese beiden Gesichtspunkte zusammengenommen motivierten Luther dazu, eine grundsätzliche Klärung der Problematik einzufordern.
3. Seine Schreiben lösten eine größere Reaktion aus, als er selbst erwartet und gewollt hatte. Anzeigen in Rom führten zu einem Ketzerprozess, Luther kam der Aufforderung zum Widerruf aber weder 1518 in Augsburg noch 1521 in Worms nach. Zwischenzeitlich hatte er seine Auffassungen in den drei großen Reformationsschriften von 1520 dargelegt: Danach sei die Rechtfertigung des Sünders allein von Jesus Christus abhängig und die Rolle der kirchlichen Einrichtungen als Vermittlungsinstanz nicht bedeutsam. Luther stellte somit die Bibel als „Gottes Wort“ über die Autorität der Kirche. Die wesentlichen Elemente seiner Theologie ließen sich auf die Formel: „Allein Christus, der Glaube, die Gnade, die Schrift“ bringen. Darüber hinaus ging er vom Grundgedanken des Priestertums aller Gläubigen gegen das besondere Priestertum aus und reduzierte die sieben Sakramente auf Abendmahl und Taufe. Und schließlich bestritt Luther offensiv das göttliche Recht des Papsttums und die Irrtumsfreiheit der Konzilien.
4. Man verhängte die Reichsacht, und er musste auf der Wartburg untertauchen. Dort entstanden bedeutende theologische Schriften, wozu auch die deutsche Übersetzung des Neuen Testaments gehörte. Zwischenzeitlich fanden seine Auffassungen breite Zustimmung sowohl unter den Fürsten wie im Volk. Als seine Ideen umgesetzt werden sollten und es zu Unruhen kam, kehre Luther 1522 nach Wittenberg zurück und schlichtete die Konflikte. 1525 distanzierte er sich von sympathisierenden Richtungen: den mehr ethisch ausgerichteten Auffassungen des Humanismus, dem Radikalismus der „Schwärmer“ und „Täufer“ und den sozialen Forderungen der Bauern. Letzteres machte ihn zu einem Unterstützer der Fürsten, die fortan dem Aufbau eigener evangelischer Landeskirchen unterstützend zur Seite standen. 1531 kam es in Schmalkalden zum Bund evangelischer Fürsten und Städte, wodurch das evangelische Bekenntnis ausdrücklich unter staatlichen Schutz gestellt wurde. Am 18. Februar 1546 starb Luther an einem Herzleiden in Eisleben.
II. Kritikwürdige Aspekte
Nun zu einigen kritikwürdigen Aspekten des Wirkens:
1. In der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ von 1520 formulierte Luther seine „Zwei-Reiche-Lehre“, wonach der Christ frei und untertan zugleich sei. Er unterschied eine freie geistliche, innere und eine unfreie äußere, leibliche Natur des Menschen. Als es 1525 zur Erhebung der Bauern kam, meinten sie sich, auf die Lehre des seinerzeit noch als Rebell geltenden Luther stützen zu können. Sein Freiheitsverständnis war aber nur auf die geistliche, nicht auf die weltliche Sphäre bezogen. Luther forderte in der erwähnten Schrift, der fromme Christ solle sich grundsätzlich der Obrigkeit unterwerfen, denn der äußere Mensch sei zum Dienen und Leiden bestimmt. Später mahnte Luther selbst die in die Hände der Türken gefallenen christlichen Sklaven, sie sollten nicht ihren Herren davonlaufen oder sie schädigen. Mit dieser ideengeschichtlich einflussreichen Auffassung bestärkte Luther (so auch der Theologe Karl Barth) die deutsche Untertanengesinnung.
2. Die Negierung des äußeren Freiheitsverständnisses erklärt auch Luthers Position während der Bauernaufstände, welche in der Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Bauern“ von 1525 enthalten ist. Darin wandte er sich von einer früheren verhaltenen Auffassung zugunsten der Bauern und gegen ihre Ausbeuter ab. Er verurteilte allerdings nicht nur den Aufruhr, der im Namen des Evangeliums und seiner Reformationsauffassungen geführt wurde. Luther stellte sich auf die Seite der Fürsten und forderte brutales Vorgehen gegen die Aufständischen: Die Bauern begingen eine Sünde gegen Gott und seien des Teufels. Daher solle man sie heimlich oder öffentlich stechen, totschlagen und würgen. Die Fürsten müssten zu einer erlösenden und rettenden Tat schreiten und im Gehorsam göttlichen Wortes die elenden Bauern massakrieren. Später bekannte Luther auch, er habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen, und ihr Blut sei auf seinem Halse. Hier artikulierte sich aber nicht Reue, sondern der Stolz auf die Wirkung der eigenen Worte.
3. Als Kritiker der bestehenden Kirche galt Luther zunächst selbst als „Ketzer“ und sah sich Verfolgungen ausgesetzt. Mit der gesellschaftlichen Etablierung seiner Glaubensauffassungen ging er aber selbst zur Diffamierung und Diskriminierung von Abweichlern und Häretikern über. Dabei verabschiedete Luther sich auch von früheren Forderungen nach Kultusfreiheit und Toleranz, die er offenbar primär als Mittel zur Stärkung und Verbreitung eigener Positionen angesehen hatte. Auch die anfängliche Ablehnung der Todesstrafe gab Luther auf, hielt er sie doch im Laufe der Zeit immer mehr für ein geeignetes Mittel gegen „Aufrührer“ und „Ketzer“. So stand Luther der Unterdrückung und Verfolgung der „Schwärmer“ und „Täufer“ zustimmend gegenüber, wofür etwa seine Schrift „Dass weltliche Oberkeit den Wiedertäufern mit leiblicher Strafe zu wehre schuldig sei“ von 1536 steht. Auch für die systematische Unterdrückung der Katholiken in Sachsen trat Luther ein, er forderte sogar die Vertreibung von 500 Geistlichen.
4. Trotz der Modernität vieler theologischer Auffassungen blieb Luther dem mittelalterlichen Glauben an „Hexen“ und „Zauberer“ verhaftet. In beiden erblickte er Gehilfen des Teufels, die überall ihr Unwesen trieben: Sie schändeten in Satans Namen christliche Heiligtümer, töteten auch durch Fernwirkung Menschen, vernichteten die Ernte und das Vieh. Konsequenterweise trat Luther daher für die Tötung der „Hexen“ ein, eine Auffassung, die er bis zu seinem Lebensende beibehielt. In Predigten bezeichnete Luther die „Zauberinnen“ als Diebe, Ehebrecher, Mörder und Räuber, beschrieb das schändliche Wirken solcher teuflischer Gestalten und plädierte für deren unbedingte Tötung durch Verbrennung. Ebenso wie gegenüber anderen Minderheiten verschärfte sich Luthers Einstellung im Laufe der Jahre, was sich anhand zahlreicher Kommentare und Predigten feststellen lässt. Unklar bleibt dabei lediglich, ob diese Auffassung und Entwicklung psychologische oder theologische Ursachen hatte.
5. Und schließlich muss noch kritisch auf Luthers Verhältnis zu den Juden hingewiesen werden: Zunächst nahm er ihnen gegenüber eine distanziert-wohlwollende Haltung ein, sollten sie doch zu Christen in seinem Sinne bekehrt werden. Indessen verzeichneten die Missionierungsversuche keine Erfolge und mit zunehmender Enttäuschung wandelte sich das Wohlwollen in Ablehnung. Davon zeugt Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543. Er forderte darin die Beschlagnahme von Geld und Edelmetallen, das Verbot der Lehrtätigkeit für Rabbiner, die Verbrennung von Synagogen, die Vertreibung aus dem Land und die Zerstörung ihrer Häuser. Luther agitierte später sogar mit Anspielungen auf die „Brunnenvergifter“- und „Ritualmord“-Vorwürfe der mittelalterlichen Judenfeindschaft. Zwar forderte er nicht die massenhafte Ermordung der Juden, ansonsten waren die erwähnten Auffassungen aber mit den späteren antisemitischen Praktiken der Nationalsozialisten deckungsgleich.
Armin Pfahl-Traughber