Die Integrationsdebatte als Ablenkungsmanöver

Vom Rechtspopulismus zum Rassismus und Sozialdarwinismus

Die Studie beruht dabei auf Daten aus dem April 2010 – also noch vor der Debatte um Sarrazin. Heute lägen die Werte zweifelsohne noch höher. In den letzten Monaten hat sich in Deutschland eine deutliche Verschiebung ergeben, hin zu rassistischen, biologistischen Konnotationen. Nicht mehr nur ausländerfeindliche Stammtischparolen, sondern geschlossen rechtsextreme, rassistische und sozialdarwinistische Sichtweisen halten immer mehr Einzug. Nicht nur eine vermeindliche “Andersartigkeit” fremder Kulturen dient als Legitimation für Ausländerfeindlichkeit, nein, das ganze Wesen des “Nicht-Ariers”, denn so muss man es dieser Argumentation nach ausdrücken, soll anders sein – bis hin dazu, dass man von genetischen Defekten spricht. Thilo Sarrazin hat die Eugenik und den Sozialdarwinismus wieder hoffähig gemacht, bis in die Leitartikel der großen Zeitungen. Unterstützend kommt die Mär von der vollständigen genetischen Prädisposition des menschlichen Wesens hinzu, die von den Medien so fleißig den weniger Gebildeten eingetrichtert wird. Der “Muselmane”, der “Orientale”, der “Neger” kann nun mal nicht anders, es “liegt ihm im Blut”, dass er fauler, gewalttätiger und auch dümmer ist als der christlich-”arische” Übermensch. Unterschiede zu den Ansichten der 30er und 40er Jahre bestehen höchstens noch in der Konsequenz der Forderungen aus diesem kruden Weltbild. So wollen die heutigen Vertreter – derzeit – “nur”, dass die “genetisch Minderwertigen” sich nicht mehr fortpflanzen – bei dem Gedanken daran, was die nächste Forderung sein wird, kann einem tatsächlich übel werden.

Diese sozialdarwinistische Ideologie beinhaltet aber auch die angebliche Minderwertigkeit der gesamten unteren Bevölkerungsschicht. Doch das sagen deren ideologische Vorreiter nicht so oft – braucht man doch den Zorn und die Stimmen eben dieser Schichten, die man selbst so unglaublich verachtet. Diese sind diejeinigen, die in unserem System zu kurz kommen, die von ihm unten gehalten werden, arm und ohne Chancen und ohne Einfluss auf das gesamtgesellschaftliche Geschehen. Ihre – berechtigte – Wut wird nun umgelenkt auf die, die sicherlich für ihre Lage am wenigsten können, auf Ausländer, auf Migranten, und auf Deutsche, die vielleicht schon Generationen hier leben, deren Vorfahren aber irgendwann einmal zugewandert sind. Die wirklichen Probleme in Deutschland sind nicht die religiösen oder kulturellen Unterschiede, es sind die sozialen. Und vor allem davon soll die aktuelle “Integrationsdebatte” ablenken. Mit den intergationsunwilligen Ausländern ist der Sündenbock gefunden: Sie sind die, die für die Probleme Deutschlands die Verantwortung tragen. Sie schaden der “Volksgemeinschaft”.
“Wer der deutschen Wirtschaft schadet, muss bekämpft werden!” oder: Autoritäre Persönlichkeit 2.0

Hier kommen wir zu einem sehr interessanten Punkt der FES-Studie. In ihr wird das Konzept der Autoritären Persönlichkeit (unter anderem von Adorno entwickelt) erweitert. Die Identifikation mit Macht und Stärke erfolge heute über die deutsche Wirtschaft, so dass Interessen des Wirtschaftsstandortes mit den eigenen gleichgesetzt werden und man sich der derzeitigen wirtschaftlichen, also der neoliberalen, Ordnung, als der höchsten Autorität unterwirft. Die als gemeinsames, nationales Interesse formulierte ökonomische Rationalität ist dabei zur dominanten Argumentationsfigur geworden, die alle Bereiche des individuellen und persönlichen Lebens erfasst. Für Kenner der Kritischen Theorie ist das im Kern nichts neues, doch in den letzten Jahren hat sich diese Entwicklung sicherlich drastisch verschärft, indem die internationale Standortkonkurrenz im Rahmen der Globalisierung der Weltwirtschaft zum dominierenden Argumentationsmuster geworden ist. Dieser müsse man alles andere unterordnen. Die Solidarität mit gesellschaftlich schwächeren Schichten wird dabei immer mehr unterbunden, da diese, wie es die neoliberale Ideologie predigt, dem Wirtschaftsstandort schadeten. Ihnen werden sogar direkte Aggressionen entgegengebracht. Die Hetze gegen sozial Schwache und Hartz-IV-Empfänger – mit Bezeichnungen wie “Faulenzer”, “Sozialschmarotzer” bis hin zu “Parasiten” -, die deutsche Politiker und Medien seit Jahren betreiben, ist nur ein Phänomen. Bis tief in den Charakter der Menschen hat der Egoismus seinen Siegeszug gehalten. Und es ist nicht nur die Oberschicht, die sich diese Persönlichkeitsstrukturen und zutiefst antisolidarischen Verhaltensweisen angeeignet hat.

Ausländer als Sündenbock

In diese Ideologie passt es, dass Berufspolitiker und Massenmedien immer wieder Aggressionen schüren gegen Gruppen, die dem Leitbild des konkurrenzfähigen Wirtschaftsstandortes Deutschland angeblich schaden. Doch diejenigen Strukturen, Prozesse und Akteure, die tatsächlich dafür sorgen, dass Deutschland seine Wohlstandschancen nicht ausschöpfen kann, bestimmen und beherrschen das bestehende System. Stetig wachsende Gewinnquoten, wachsende Allokation im keine realen Güter produzierenden Finanzsektor, sinkende Binnennachfrage, das wären tatsächliche Probleme, die man angehen sollte. Doch selbstversändlich würde unsere Bundesregierung diese unter keinen denkbaren Umständen angehen. Sie hat ohnehin Deutschlands Lage genügend verschlechtert: Die zutiefst unsinnige Finanz- und Wirtschaftspolitik inklusive deutscher und europäischer Schuldenbremse, die Subventionierung ihrer Klientel, Kopfpauschale, sinkende Sozialleistungen, das Versäumen der Energiewende. Dazu kommen die zahlreichen ganz offensichtlichen Pannen der schwarz-gelben Regierungszeit. Doch seit immer stärker werdenden Protesten, natürlich vor allem seit denen in Stuttgart, merkten sie, dass sie ganz schnell ein Thema brauchten, wo man mal so richtig populistisch die Sau rauslassen und alle anderen Themen aus dem medialen Focus drängen konnte. Also war es mal wieder die Hetze gegen Ausländer, die so oft bei politischem Versagen von konservativ-liberalen Regierungen als Ablenkungsmanöver missbraucht werden.

Horst Seehofer fordert einen Zuwanderungsstopp von Arabern und Türken, Angela Merkel sagt, Multikulti sei gescheitert, Kristina Schröder redet von “deutschenfeindlicher Gewalt”. Populisten wie Seehofer bolzen für ein paar kurzfristige Wählerstimmen drauf. Doch Seehofer ist nicht das Hauptproblem: Man kann sich bei dieser Art von Politikern sicher sein, dass in ein paar Monaten wieder ein anderes Thema dran sein wird (so hat ja auch Seehofer erstaunlich viele Rollenwandlungen hinter sich, galt er doch früher durchaus als Exponent des sozialen Flügels der Union, forderte dann aber kürzlich eine härtere Gangart gegen Hartz-IV-Bezieher). Natürlich weiß auch er, dass die Zuwanderung nach Deutschland seit langem zurückgeht und längst mehr Menschen aus Deutschland aus-, als nach Deutschland einwandern – auch Türken. Natürlich hat Christian Wulff in vielen Punkten zu dem Thema recht – nur damit kann man nicht so schön eine Show der empörten Stammtische veranstalten. Ein Spuk, der wohl bald wieder vorbei sein wird.

Die Geister, die man rief

Die Gefahr kann eher darin liegen, was diese Leute mit ihrer opportunistischen, unüberlegten Verbreitung von Vorurteilen anrichten. Die öffentliche Meinung ist gerade bei diesem Thema sehr anfällig für einfache Erklärungsmuster, und die plumpen Parolen, die die Politiker selber in den seltensten Fällen glauben, nehmen viel zu viele für bare Münze. Anders wären die oben zitierten Zustimmungsraten und ihr Anwachsen in den letzten Jahren schwer zu erklären. Außerdem könnte die Verwendung rechter bis teilweise rechtsradikaler Äußerungen und Ansichten durch konservative Politiker eine weitere Gefahr beinhalten: Vielleicht werden sie eines Tages die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Denn es könnte sich zusammenfinden, was bisher oft als grundlegend unterschiedliche Richtungen angesehen wurde, im Kern aber schon immer zusammengehört hat: die “klassischen” deutsche Rechte, die Antisemiten und Rassisten, die neurechten völkischen Bewegungen, bis zu den neokonservativen Islamhassern. Viele deutsche Medien können die Rechtspartei kaum erwarten, viele andere europäische Länder und auch Umfragen in Deutschland legen nahe, dass für diese durchaus Potential da wäre. Eine deutsche Tea-Party etwa wäre eine reale Gefahr für die Bundesrepublik, wie wir sie (noch?) kennen.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Quelle: Guardian of the Blind