Ein neues integratives Fach

Ethikunterricht für alle

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Nicht selten hört man in den politischen und gesellschaftlichen Debatten, dass es an der Zeit sei, Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen, anstatt über sie zu sprechen. Und mittlerweile tauscht man sich öfter mit (selbsternannten) "VertreterInnen" von MigrantInnen aus, wenn es um die Themen Integration und Teilhabe geht. Naïla Chikhi fragt sich in diesem Kommentar für den hpd, ob man aber tatsächlich auch die Stimme der stillen Mehrheit hört oder an "selektivem Hören" leidet.

Vor diesem Hintergrund war es mir wichtig, mich mit hier geborenen oder seit langem ansässigen MigrantInnen über das Thema "Ein neues integratives Fach – Ethikunterricht für alle" auszutauschen und ihre unterschiedlichen Ansichten einzuholen. An einer kleinen Diskussionsrunde beteiligten sich Menschen aus dem Orient und Nordafrika, alle mit muslimischer Erziehung oder Konfession. Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass diese Runde nicht als repräsentativ gelten kann. Sie gibt jedoch grundsätzliche Meinungen und Anregungen für diese überaus wichtige Diskussion wieder.

Auf die Frage, ob sie eher einen konfessionsgebundenen Religionsunterricht oder einen Ethikunterricht befürworten würden, antworteten alle spontan und einstimmig: "Ethik!" Eine Teilnehmerin fügte hinzu: "Religion soll eine Privatangelegenheit sein! Wir haben sie zu Hause oder in der Moschee gelernt. Sie regierte unseren gesamten Alltag. Irgendwann reicht es! Im Ethikunterricht konnte ich vor allem als muslimisches Mädchen etwa Luft holen und neue Horizonte entdecken."

In dem Austausch kehrte oft die Tatsache wieder, dass viele zugewanderte Kinder vor ihrer Einschulung kaum Kontakt mit einheimischen Kindern knüpfen konnten. Mal, weil die Eltern es ungern gesehen, mal, weil sie es völlig untersagt haben. Nicht selten übertrugen entweder die Eltern oder die kulturelle Gemeinschaft ihre Vorurteile über die deutsche Gesellschaft auf ihre Kinder. Bei ihrer Einschulung stellten meine GesprächspartnerInnen fest, dass diese Voreingenommenheit auf Gegenseitigkeit beruhte. Diese früh auferlegte Trennung der Kinder unterschiedlicher Konfessionen erzeugte bei meinen GesprächspartnerInnen das Gefühl, in zwei Welten fremd zu sein. Es ist nicht außer Acht zu lassen, dass viele Kinder mit Migrationshintergrund sowohl in der Ursprungsgesellschaft der Eltern als auch in der Aufnahmegesellschaft nicht als dazugehörig anerkannt werden. Die geistige Entfremdung, die mit einem konfessionsgebundenen Religionsunterricht einhergeht, würde meines Erachtens diese ethnische Trennung nur noch verschärfen. Denn in einem religionstrennenden Unterricht erfahren Kinder meistens nur eigene Glaubenssätze, Bräuche und Werte und nicht die ihrer MitschülerInnen. Dies hat nicht selten zur Folge, dass Unterschiede, Aus- und Abgrenzungen intensiviert werden.

Einer der Mitdiskutanten aus dem Libanon, selbst vor einigen Jahren mit seiner Familie nach Deutschland geflohen, wies auf einen weiteren integrationshemmenden Faktor hin: Der islamische Religionsunterricht. Heute instrumentalisieren manche religiöse Verbände und PolitikerInnen die herzzerreißende Geschichte der aus muslimisch geprägten Ländern geflüchteten Menschen, um einen Islamunterricht in den deutschen Schulen durchzusetzen. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass viele Geflüchtete aufgrund religiöser Verfolgung aus ihrer Heimat geflohen sind. Wir dürfen auch nicht verallgemeinern und behaupten, dass alle geflüchtete Menschen Muslime seien. Viele unter ihnen haben ihre Religion gewechselt oder gar abgelegt. In den meisten Fällen erfahren sie auch hier weiterhin Druck und Repressalien in den Unterkünften. Diese Menschen sind nach Deutschland gekommen in der Hoffnung, hier als Individuen und als BürgerInnen aufgenommen zu werden. Geflüchtete Menschen, seien sie erwachsen oder im schulischen Alter, erneut nach Konfession zu trennen und somit zu isolieren, würde bedeuten, ihnen dasselbe anzutun, was sie in ihren Herkunftsländern erlebt haben. Darüber hinaus haben viele von ihnen den Wunsch geäußert, mehr über die hier geltenden demokratischen Werte zu erfahren, um sich selbstständig in unserer Gesellschaft orientieren zu können.

Nicht selten wird allerdings im Zusammenhang mit der Integration muslimischer MigrantInnen oder auch Geflüchteten die Forderung gestellt, einen Islamunterricht in der Schule anzubieten. Ein beliebtes Argument, das auch in unserer Gesprächsrunde vorgebracht wurde: Lieber in den Schulen durch staatlich ausgebildete LehrerInnen als in den Händen mancher Prediger von Hinterhofmoscheen.

Sicher ein wichtiges Argument. Aber woher diese vielen aufgeklärt denkenden muslimischen LehrerInnen nehmen? Und sollten wir mittlerweile nicht auch in Deutschland wissen, dass es im Islam verschiedene Schulen mit unterschiedlichen Lehren gibt, die je nach Region anders gelebt werden? Manche sind eher konservativ, andere eher liberal. Die hochbrisante Konfrontation und nötige Diskussion zwischen liberalen oder humanistischen und orthodox-konservativen MuslimInnen findet praktisch nicht statt. Weder bei den Gelehrten in der muslimischen Welt noch bei den selbsternannten Vertretern der muslimischen Gemeinschaften hier in Deutschland. Eklatante Beispiele hierfür sind zum einen die Kritik, der Mouhanad Khorchide ausgesetzt wurde, als er 2012 sein Buch "Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion" veröffentlichte oder zum anderen die Gründung des Islam-Instituts an der Humboldt-Universität Berlin. Grundsätzlich ist eher die strikte Ablehnung einer Diskussion vor allem von Seiten der konservativen Kräfte zu verzeichnen.

Wir waren uns in unserer Diskussionsrunde sehr wohl bewusst, dass der Religionsunterricht nach Artikel 7 Absatz 3 GG "unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt" werden sollte. Vor dem Gesetz sollten somit die muslimischen Religionsgemeinschaften das gleiche Recht genießen wie die christlichen, den Inhalt des Islamunterrichts bestimmen zu dürfen.

Doch: Welche muslimische Gemeinschaft sollte dann den Lehrinhalt bestimmen? Die sunnitische, die schiitische, die sufi oder die ahmadi usw.? Sollten diese überaus wichtige Aufgabe die selbsternannten Vertreter der muslimischen Gemeinschaft übernehmen, sprich die Verbände, die von ausländischen politischen Mächten gelenkt werden? Und vor allem: Welche Konsequenzen könnte es auf die hier lebenden muslimischen Kinder haben?

Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen muslimischen Gemeinschaften haben – bedauerlicherweise – die Schulhöfe der Bundesrepublik erreicht. Das ethnisch-kulturelle Mobbing hat sich heute zu einem inner-religiösen und interreligiösen Mobbing ausgeweitet. Das religiöse Mobbing in unseren Schulen ist keine neue Erscheinung. Anzumerken ist die Eskalation der Beschimpfungen und Beleidigungen sogar bis hin zu Tötungsdrohungen. Die Angriffe unter anderem auf alevitische oder liberale muslimische Kinder sind heute nicht mehr zu leugnen. Einen Islamunterricht einzuführen, würde den muslimischen Kindern eine weitere Teilung aufzwingen, wenn er nach Rechtslehre gestaltet wird. Dies würde ein wahrscheinlich krasseres Mobbing gegenüber liberalen oder säkularen MuslimInnen zur Konsequenz haben. Und ein noch heftigeres, wenn das Fach Ethik ein Wahlfach bleibt, denn die Entscheidung zwischen diesem Fach und dem konfessionsgebundenen Religionsunterricht würde einem Outing gleichen.

Eine Gesprächsteilnehmerin der Runde gab zu bedenken, dass die Einführung eines flächendeckenden Islamunterrichts eine weitere Problematik birgt, vor allem für die Mädchen. Es ist längst bekannt, dass muslimische Mädchen aufgrund vermeintlich religiöser Glaubenssätze geschlechtsspezifischen Einschränkungen ausgesetzt sind: Häufig werden sie von der Teilnahme an Schwimm- oder Sexualkundeunterricht oder an Klassenfahrten ausgeschlossen. Heutzutage nimmt auch die Beraubung ihrer Persönlichkeitsentfaltung durch ihre Frühverschleierung vehement zu. Diese steigende Tendenz der Mädchenbenachteiligung ist nicht mehr zu leugnen. Muslimische Mädchen aus orthodox-konservativen Familien oder Gemeinschaften erfahren nicht selten ein rückwärtsgewandtes Frauenbild, das den Prinzipien der Selbstbestimmung und der Gleichberechtigung von Frau und Mann nicht selten diametral entgegensteht. Durch einen konfessionsgebundenen Unterricht wird das Narrativ des konservativen familiären und sozialen Umfelds verstärkt bestätigt. Somit fällt es den Mädchen und den Heranwachsenden viel schwerer, sich von dieser zugewiesenen Rolle im Erwachsenenalter zu distanzieren und sich von der Befangenheit in Konventionen und scheinbaren Selbstverständlichkeiten zu lösen.

Aus diesen Gründen plädiere ich – wie auch meine zugewanderten oder hier geborenen GesprächspartnerInnen – für einen flächendeckenden integrativen Pflichtethikunterricht.

Das Fach Ethik gibt den Kindern die Möglichkeit – unabhängig von ihrer ethnischen, kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit – sich als Individuen begegnen zu lernen und gemeinsam die Welt zu erkunden. In dem altersgerechten moderierten Raum können sie Themen ansprechen, die für sie bedeutsam sind, sich mit anderen MitschülerInnen darüber austauschen, unterschiedliche Ansichten und Wahrnehmungen erfahren. Auf diese Weise lernen Kinder, vorgefertigte Annahmen zu überdenken, Vorurteile abzubauen, Ab- und Ausgrenzungen zu vermeiden. Kritikfähigkeit sowie Achtung vor der anderen Meinung werden somit geübt.

In diesem neutralen Fach sollten keine Gebote, Dogmen oder Rituale, sondern vielmehr Wissen über die verschiedenen Religionen, philosophischen Ansätze und Weltanschauungen vermittelt werden. Dieser geschützte Ort soll frei von Wahrheitsansprüchen sein, damit Kinder befähigt werden, nachzudenken, zu differenzieren und sich von ideologischen Beeinflussungen zu distanzieren. Durch die Anregung zur Analyse, Reflexion und Begründung lernen vor allem Mädchen und Jungen aus patriarchalen Familien sich gegen Zwänge und zugewiesene Rollen zu wehren, um frei, selbstbestimmt und gleichberechtigt zu leben. Denn nur so bildet ein modernes, integratives und aufgeklärtes Bildungssystem Menschen aus, die nicht das Gefühl entwickeln, einer einzigen Gemeinschaft gehören zu müssen, sondern WeltbürgerInnen mit universellen und humanistischen Werten zu sein.

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