Das neue Leben
Mit dem 14. Lebensjahr wurde Roswitha auch aus dem Kinderheim entlassen. Ein halbes Jahr vor der Entlassung wurde ein Vormund für sie bestellt. Der Vormund war ein Küster der Elisabeth-Kirche, in der Nähe vom Kinderheim Lippstadt, Hospitalstr. 15. Roswithas Körper war dünn, sie war schmächtig, ein kleiner Busen kaum zu erkennen. Sie bewegte sich linkisch, dass war ihre Unsicherheit, sie sah eher wie eine Zwölfjährige aus. An einem Wochentag wurde sie von der Schwester Serapa ihrem neuen Vormund, dem Küster Herrn Stephen, vorgestellt. Zu dem Küster sagte die Nonne: „Hier übergebe ich Ihnen Roswitha zu treuen Händen.“
Die Begrüßung fiel nicht sehr freundlich aus. Weil Roswitha immer Hunger hatte, staunte sie nicht schlecht, es gab für sie eine abgeschälte, in Stücken fein, auf einen schönen bunten Teller, platzierte Apfelsine. Eine seltene Gelegenheit, so etwas Feines zu bekommen. Es stimmte Roswitha friedlich und sie fühlte, jetzt war sie auf einem guten Weg. Eine Arbeitsstelle als Bauernmagd wurde schon im Vorfeld für sie ausgesucht. Dafür kam eine Stellung bei einem Bauern nach Ansicht der Schwestern für sie in Frage. Roswitha wurde nicht gefragt. Am Tag der Entlassung aus dem Heim holte der Bauer sie persönlich ab.
Roswitha: „Wer hier aus der Hölle heraus kam, hatte noch Glück.“ So war ihr Gefühl und sie war erst einmal zufrieden. Was auf sie zukam, davon hatte sie keine Ahnung. Ein Kleid, ein paar neue Schuhe und etwas Unterwäsche wurden ihr mit auf dem Weg in das neue Leben gegeben. Das war die „Aussteuer“ für entlassene Mädchen. Auf dem Hof des Bauern in Bökenfelde angekommen, kam die Bäuerin auf sie zu und sie wurde freundlich von ihr begrüßt.
Die Bäuerin sehr groß und stämmig, in ihrer Art sehr ruppig, sie führte hier das Kommando. Die Bäuerin zeigte ihr, wo sie jetzt schlafen sollte. Ein eigenes Zimmer, das hatte Roswitha noch nie. Das Zimmer lag über dem Kuhstall. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie nun ihr eigenes kleines Reich. Die wenigen Sachen, die sie mitbrachte, waren schnell im Schrank eingeräumt.
Erstmal allein in ihrem Zimmer schaute sich Roswitha um und fühlte sich noch nicht so richtig wohl. Sie war allein und auch etwas traurig, weil sie nicht wusste, was sie jetzt in ihrer neuen Umgebung erwartete. In ihrem kurzen Leben hat sie immer wieder mit Enttäuschungen leben müssen. Eine Ewigkeit verging, bis die Bäuerin sie rief. Roswitha erschrak, sie war in eine melancholische Stimmung versunken und dachte das erste Mal über ihr bisheriges Leben nach. Die Bäuerin rief sie wieder, diesmal etwas lauter. In den Rufen der Frau des Hauses war noch etwas Freundlichkeit in ihrer Stimme zu spüren.
Mit der Freundlichkeit war es vorbei, als sie Roswitha ihr den Arbeitsbereich zeigte. Am gleichen Tag die Küche putzen, den Essbereich putzen, das Treppenhaus putzen. „Es ist jetzt 18 Uhr. Du machst jetzt die Vorbereitung für das Abendessen.“ Die Bäuerin weiter: „Decke schon mal den Tisch.“ Das Problem für Roswitha war groß. „Wie deckt man einen Tisch zum Abendessen ein? Messer, Gabel, Teller, wo sind diese Teile?“ Sie stand vor dieser Aufgabe ziemlich hilflos herum. So etwas hatte sie nie gelernt. Im Heim, wo sie aufwuchs und erzogen wurde, gab es keine Esskultur. Die Teller und das Besteck wurden einfach zusammengewürfelt auf den Tisch gelegt. So kannte das Roswitha. Die Bäuerin: „Nun fang schon an, hier ist das Besteck und hier sind die Teller.“ Roswitha legt die Teller und das Besteck wie es aus dem Küchenschrank entnommen hatte, so mitten auf dem Tisch, wie sie das im Kinderheim bei den Nonnen gewohnt war. „So geht das nicht“, sagte die Bäuerin. Sie zeigte ihr, wie sie ab sofort den Tisch einzudecken hatte. Wasser für Tee sollte sie auf den Kochherd aufsetzen, auch das wusste sie nicht, wie sie das machen sollte.
Drei Personen waren im Haushalt. An Sonn- und Feiertagen kam der jüngste Sohn aus dem Internat hinzu. Aufpassen musste sie dann, dass auch vier Gedecke auf dem Familientisch waren, sonst gab es großen Ärger, hatte sie das versäumt. Ein Fehler, den sie gleich am ersten Tag machte, die Bäuerin: „Was soll denn dein Gedeck an unserem Tisch?“ Die Bäuerin schrie sie wutentbrannt an: „Da hinten in der Küche am Katzentisch, das ist in Zukunft dein Platz zu den Mahlzeiten.“
Roswitha ging mit gesenktem Kopf zu ihrem Platz, den die Bäuerin Katzentisch nannte. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben waren schon jetzt nach diesen Erfahrungen für sie an diesem ersten Arbeitstag vorbei. Roswitha schaute hungrig und ängstlich zum Familientisch, denn an ihrem Tisch waren keine Speisen. Als die Herrschaften mit dem Essen fertig waren, bekam sie den Rest von der Frau des Hauses ohne ein Wort auf ihren Tisch geknallt. Jetzt durfte sie essen. An manchen Tagen blieb bei den Herrschaften vom Mittags- oder Abendtisch für Roswitha nichts übrig. Sie blieb dann brav an ihrem Tisch sitzen und wartete auf ihr Essen. Die Bäuerin kam mit leeren Händen zu ihr und sprach: „Wenn du Hunger hast, hänge dir einen Hering an die Decke, dann kannst du daran lecken.“
Ausschnitte aus: „Stille Schreie oder Wer ist eigentlich ELVIS“, Deutsche Erziehungsheime in der Nachkriegszeit, Regina Page, Copyright (2009) Engelsdorfer Verlag ISBN 978-3-86901-600-9. Veröffentlichung mit ausdrücklicher Genehmigung
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"Die Kirchen stehen zu ihrer Verantwortung in der frühen Bundesrepublik ... die Heimerziehung war damals auf das bloße Funktionieren der Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft ausgerichtet. ... Die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen, das haben wir am Runden Tisch eindrucksvoll erlebt, in ihrer Individualität und subjektiven Befindlichkeit traten dabei oftmals in den Hintergrund."
Johannes Stücker-Brüning, Geschäftsführer der Caritaskommission der DBK, Vertretung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) auf der Bundespressekonferenz Runder Tisch Heimkinder am 13.12.2010