Deutschland Deine Kinder (1)

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Schatten / Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Der „Runde Tisch Heimerziehung“ hat seinen Abschlussbericht vorgelegt. Dazu ist noch einiges zu sagen. Zum einen eine Reflexion von Daniela Gerstner. Zum anderen wird der hpd wöchentlich Erfahrungsberichte von Betroffenen, Aktennotizen und Fachartikel veröffentlichen. Der erste Text ist der Erfahrungsbericht des Heimkindes Roswitha, Jahrgang 1944.

 

 

Kinderrechte & Menschenbilder in Deutschland - Eine Reflexion

Am 13.12.2010 stellte der vom Deutschen Bundestag einberufene „Runde Tisch Heimerziehung“ nach zweijähriger Arbeit die Ergebnisse seiner Tagungen vor.

Zuvor hatte der Petitionsausschuss im Deutschen Bundestag mehr als zwei Jahre lang über mehrere Petitionen getagt, die schließlich zu einer Sammelpetition zusammengefasst wurden, mit dem Ergebnis, den Beschluss zu formulieren, dass der oben genannte „Runde Tisch (westliche) Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“ einberufen werden sollte. Formal hätte er dies als staatliche Aufgabe ablehnen können, denn 1961 war die Rechtsgrundlage geschaffen worden, die Heime durch die Landesjugendämter kontrollieren zu lassen. Somit war die Heimaufsicht in Westdeutschland Ländersache.

Doch die Landesjugendämter nahmen ihre Fachaufsicht gegenüber den Heimen der jungen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland damals nur ungenügend war (80% befanden sich in kirchlicher Trägerschaft). In den 1960er Jahren wehrten sich vor allem die damaligen Träger konfessioneller Heimerziehung (1949-1975 lebten ca. 500.000 bis 600.00 Minderjährige in kirchlichen Heimen) (1) gegen die Kontrollen durch die Landesjugendämter und benannten diese als unzumutbare staatliche Einmischung in die christliche Erziehungsautonomie.

Die Einberufung eines Runden Tisches konnte also nach jahrelangen Kämpfen der ehemaligen Heimkinder als ein Eingeständnis der mangelhaften staatlichen Fürsorge interpretiert werden. Bemerkenswert war und ist bis heute, dass die Bundeskanzlerin sich nicht dazu geäußert hat. Die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen schrieb gleich nach der Begründung des Runden Tisches einen Brief, die Bundesregierung wünsche nicht, dass über finanzielle Entschädigungen diskutiert würde. (2)

An der Vorgehensweise, einen Runden Tisch einzuberufen, an dem neunzehn hochrangige Vertreter der Träger, Verbände, des Bundes, der Länder, der Kirchen und Wissenschaftler, in Anzahl und Machtposition deutlich überlegen, drei Opfer (stellvertretend für 800.000 Betroffene) umringten, zeigte sich bereits die Absicht, Frieden zu schließen mit den Tätern und die Opfer zur Resignation zu „ermutigen“. Vertreter der Industrie fehlten am Runden Tisch, sollten erst gar nicht zur Rechenschaft gezogen werden, obwohl namhafte deutsche Firmen von der Zwangsarbeit der Kinder- und Jugendlichen profitiert hatten. (3)

Den drei von Vertretern des Runden Tisches ausgewählten komplex traumatisierten SprecherInnen der Heimerziehungs-Betroffenen, wurde weder die Begleitung durch eigene Rechtsanwälte zur Unterstützung ihrer Anliegen zu den Sitzungen zugestanden, noch die Teilnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Manfred Kappeler, dessen Forschungsschwerpunkt die Heimerziehung war und der sich seit Jahren für die Rechte der Geschädigten einsetzt (er war von 1989–2005 Professor für Sozialpädagogik an der TU-Berlin). Prof. Dr. Kappeler konnte daher notgedrungen die Anliegen der Betroffenen nur im Hintergrund unterstützen, indem er eine Berliner Selbsthilfegruppe betreute, mehrere qualifizierte Stellungnahmen zu den Zwischenberichten des RTH verfasste und einen Workshop einberief, bei dem es u. a. darum ging, wie die Akten der Heimerziehung gesichert werden konnten und welche Ansprechpartner sich in den Behörden dafür verantwortlich erklärten. (4)

Auch andere Selbsthilfegruppen wie z.B. der VEH e.V. (Verein ehemaliger Heimkinder), der von der Giordano Bruno Stiftung unterstützt wurde und die „Gegen-Presse-Konferenz“ organisiert hatte, die gleich nach der Abschluss-Konferenz des Runden Tisches am 13.12.2010 stattfand, um der Presse eine erweiterte Perspektive und Hintergrundinformationen mitzuteilen, konnten aufgrund dieser Bedingungen nur „durch das Nadelöhr“ der drei SprecherInnen (die drei Abwesenheitsvertreterinnen ohne eigenes Stimmrecht hatten) auf die Verhandlungen einwirken. Dies führte unweigerlich zu einer Überforderung für die SprecherInnen, denn die Erwartungen und die in sie gesetzten Hoffnungen waren hoch, während es von Beginn an das Interesse der „institutionellen Eltern“ „Vater Staat“ und „Mutter Kirche“ war, die eigene Rechenschafts- und Entschädigungspflicht möglichst gering zu halten.

In diesen vom Petitionsausschuss und schließlich vom Runden Tisch vorgegebenen Bedingungen wiederholten sich den Betroffenen schmerzhaft bekannte Machtstrukturen. Traumatisierte Betroffene wurden gegenüber Vertretern der Institutionen in die unterbürdige Rolle gebracht, ihre Rechte ohne Beistand gegenüber den Täterorganisationen zu erstreiten.

Die Leiterin des Runden Tisches und Theologin Antje Vollmer und die Vorstände der Träger und Kirchen setzten sich selbst in das Recht, die Definitionsmacht über die Betroffenen innezuhaben. Die Selbstbeschreibung in einem Interview vom 13.12.2010 mit Antje Vollmer (es war kurze Zeit online auf der Website der ARD), klang allerdings nach einer Umkehr der Verhältnisse: „Der Runde Tisch ist von sich aus ganz ohnmächtig, er kann nur Lösungen vorbereiten. Wenn ich Ihnen sage, welche Zahlen am Anfang da waren, dann haben wir enorm viel erreicht.“ Dabei verschwieg sie, dass diese vermeintliche „Ohnmacht“ eine bewusste Inszenierung war, denn Staat und Kirchen brachten darin ihr Loyalitätsbündnis zum Ausdruck und entzogen sich der Überprüfung ihrer Vergangenheitsschuld durch eine neutrale Institution. (5)

„Mutter Kirche-Vater Staat“, so lautet der Titel einer in diesem Jahr erschienen wissenschaftlichen Untersuchung über die Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung. Traugott Jähnichen beschreibt in dem Kapitel „Von der „Zucht“ zur „Selbstverwirklichung“? - „Ordnung und Zucht“ als Leitmotive der 1950er Jahre:

„Nach der Katastrophe der Dezivilisierung durch den Nationalsozialismus besann man sich mehrheitlich zur Stabilisierung der Lebens- und Wertemuster in den fünfziger Jahren auf die traditionalen Pflicht- und Gehorsamstugenden […]. In diesem Sinn sah man es in der Erziehung als vorrangiges Ziel an, Kinder und Jugendliche durch Erziehung zum Gehorsam gegenüber Autoritäten zu disziplinieren. Die kaum zu übersehende Nähe dieses Erziehungsstils zur Zeit des Nationalsozialismus versuchte man dadurch zu rechfertigen, dass es nun darum gehen sollte, im Gegensatz zur Diskreditierung des Gehorsams in der NS-Zeit den „echten“ bzw. „eigentlichen“ Gehorsam wiederherzustellen. Die Einprägung des Gehorsams gegenüber Autoritäten, ein geradezu monotoner Verweis auf „Ordnung und Zucht“ der Lebensführung sowie eine konstitutiv durch die Notwendigkeit des Strafens bestimmte Pädagogik sind die wesentlichen Merkmale dieser Haltung, wie sie auch theologisch legitimiert und z.T verstärkt worden ist.“(S. 132-133)

Die Möglichkeit, eine neutrale Institution damit zu beauftragen, das Unrechtssystem in den Heimen zu untersuchen, mit der Kompetenz, die Herausgabe von Heimakten zu erzwingen und Zeugen zu stellen, wie z.B. in Irland praktiziert, wurde bewusst nicht genutzt. So sind weitere zwei Jahre vergangen, in denen Akten von ehemaligen Heimkindern von Jugendämtern, Heimen und Klöstern zumindest potentiell vernichtet oder in den Archiven des Vatikans versiegelt werden konnten. (6)

Experten rechnen damit, so die Verlautbarungen, dass sich von den ca. 800.000 Betroffenen lediglich ca. 30.000 melden werden, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Diese Äußerung hat eine suggestive Botschaft. Man kann sie leicht so interpretieren, dass der Staat nicht erwartet, dass sich mehr Berechtigte melden werden. Wie eine Einladung oder gar eine Ermutigung an die Nachkriegs-Kinderheim-Überlebenden klingt dies nicht.

Das Ergebnis ist aus Sicht der Betroffenen ehemaligen Heimkinder, die heute zwischen 45 und 70 Jahre alt sind, als mangelhaft zu bezeichnen. Ungenügend und erneut diskriminierend sind die zugesagten Regelwerke für finanzielle und immaterielle Entschädigungen. (7) Den Betroffenen wurde immer wieder nahegelegt, Verständnis dafür entwickeln, dass „kein Geld da“ sei, während der Staat aus allgemeinen Steuergeldern (die Kirchensteuereinnahmen sind hier nicht berücksichtigt) jährlich ca. 500 Mill. Euro allein für kirchliches Personal ausgibt. (8)

Besonders erschütternd ist es, dass der Runde Tisch Heimerziehung sich ausdrücklich dagegen verwehrt hat die Ansprüche von Betroffenen mit körperlichen- und geistigen Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Die Begründung gab der Runde Tisch in „Amtssprache“, es wurde gesagt, man habe dafür keinen Auftrag. (9) Auch wurde die Chance vertan, die institutionelle Erziehung in eine gesamtdeutsche Betrachtung einzubeziehen, denn die Heime der ehemaligen DDR wurden von der Untersuchung ausgeschlossen.

Um ein größeres öffentliches Bewusstsein für diese zahlreichen Kindheits-Schicksale zu erwecken und zu eigenem Nachdenken und kreativen Initiativen zur Verbesserung von Kinderrechten und Entschädigungen von Betroffenen einzuladen, startet der hpd eine Artikelfolge mit der Überschrift:

Deutschland Deine Kinder

Anliegen der Folge ist es, einen Beitrag zur Integration von Erfahrungswissen in die Gegenwart zu leisten. Das klare Benennen der unbequemen Wahrheit, dass Menschenrechtsverletzungen von Kindern in einer Demokratie wie Deutschland Realität waren und sind, ist eine notwendige Voraussetzung für Lernprozesse zu einer menschlicheren und menschenwürdigeren Gesellschaft.

Unterschiedliche nationalsozialistisch, christlich und reformpädagogisch geprägte Erziehungskonzepte sollen ebenso beleuchtet werden, wie die sich darin äußernden Methoden der Bildungsselektion in Eliten und Ausgeschlossene. Damit will der hpd Anregungen zu einer gegenwartsbezogenen integrierenden Betrachtung geben, die konstruktiv nutzbar sein soll für die aktuelle Diskussion um Bildungsförderung & Integration, Gewalt & Trauma, vor dem Hintergrund von Weltanschauungen.

Der hpd wird dazu wöchentlich persönliche Erfahrungsberichte von Betroffenen, Aktennotizen, künstlerische Beiträge und auch Fachartikel und Forschungsergebnisse veröffentlichen. Um dieses Anliegen zu realisieren hat sich eine Arbeitsgruppe gegründet (Evelin Frerk, Daniela Gerstner, Manuel Koesters, Kathrina Micada), die sich aus unterschiedlichen Fachkompetenzen zusammensetzt.

Daniela Gerstner

 

Anmerkungen:
(1) Vgl. Bernhard Frings: Annäherung an eine differenzierte Heimstatistik-Statistik der Betroffenheit, in: W.Damberg, B.Frings, T. Jähnichen, U. Kaminsky (Hrsg.): Mutter Kirche-Vater Staat? Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung seit 1945, Münster, 2010
(2) Interview mit Prof. Dr. Manfred Kappeler
(3) Hintergrundinformationen dazu in einem Artikel des hpd.
(4) Informationen  von Prof. Dr. Manfred Kappeler
(5) ZDF zum Endbericht des Rundes Tisches Heimerziehung / Antje Vollmer
(6) vgl. Axel Verderber: Christlich geführte Kinderheime in Irland und Deutschland, in: Hrsg: Yvonne Boenke: Lieber einen Knick in der Biographie, als einen im Rückgrat, 2010
(7) VeH-Kritik am Zwischenbericht
(8) Vgl. Carsten Frerk: Violettbuch Kirchenfinanzen, Aschaffenburg, 2010
(9) Vgl. hierzu den Beitrag des Begründers der „Gewaltfreien Kommunikation“ Marshall Rosenberg.

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Der erste Beitrag ist eine Passage aus dem Heimleben von Roswitha Weber, die in einem christlichen Kinderheim aufgewachsen ist. Sie wurde 1944 in Leverkusen geboren und lebt in der Bundesrepublik Deutschland.

Bitte beachten:
Dieser Bericht enthält Inhalte, die bei traumatisierten Menschen Erinnerungen an eigene schmerzhafte Erlebnisse wecken können. Bitte achten Sie auf Ihre Belastbarkeitsgrenzen.

Das Heim-Leben der Roswitha Weber

Geboren in Leverkusen 1944

Mit dem 2. Lebensjahr wurden sie und ihre Geschwistern auseinandergerissen. Roswitha wurde von ihrer Schwester Anni liebevoll versorgt, die Mutter kümmerte sich nicht um die kleine Tochter. Von der Fürsorge Leverkusen wurde sie in das St.-Josef-Waisenhaus Lippstadt, Hospitalstr. 15, gebracht. Dort angekommen, lernte Roswitha schon als Kleinkind mit ihren ca. 4 Jahren bewusst die grausamen Erziehungsmethoden der Schwestern vom Hl. Vincenz kennen. Die Erinnerung an diese Zeit schmerzt Roswitha noch heute. Nur die Liebe von Schwester Anni hatte sie als Kleinkind erfahren dürfen. Anni hatte sie gefüttert, die Windeln gewechselt und auf allen Wegen, die sie machte, auf ihrem Arm mitgenommen. Als sie ihre Schwester Anni nach Jahren wieder sah, erkannte sie ihre große Schwester nicht mehr. Die Liebe und Geborgenheit einer Mutter kannte Roswitha nicht, sie spürte die Sehnsucht nach Liebe ein Leben lang. Die Vincentinerinnen kannten kein Erbarmen mit der kleinen Roswitha.

Bettnässerin

Sie wurde Bettnässerin, ein Verhängnis. Bei diesem Vergehen kannten die Schwestern kein Pardon. Die kleinen Mitbewohnerinnen wurden von der Nonne aufgefordert, Roswitha bei Wiederholung zu bestrafen.

Das musste sie ertragen, denn sie nässte oft ins Bett. Sie wurde dafür angespuckt, geschlagen von ihren kleinen Mitbewohnern. Wer von den Kleinen nicht mitmachte, bekam gesondert von der Nonne eine Tracht Prügel. Schwester Marte ließ nicht locker und prügelte bei den kleinsten Anlässen auf die kleinen Kinder nach ihrem Ermessen drauflos. Bettnässer bekamen ab 15 Uhr weder zu trinken noch etwas zu essen. Roswitha war ein lebhaftes Kind, wollte alles wissen und spielte gerne mit den anderen Heimkindern. Für die Schwester Marte auf der Krabbelstation war sie zu wild beim Spielen, sie nahm einen Strick und band Roswithas rechtes Bein an einem Stuhlbein fest.

Nach einigen Stunden Stillsitzens, vergaß die Kleine, dass sie angebunden war und lief mit dem ganzen Stuhl durchs Zimmer. Die Nonne Marte war aufgebracht, jetzt ging sie mit einem anderem abgeschnittenen Stück Strick anders vor. Sie nahm jetzt beide Beine von Roswitha und band sie an einem Tischbein fest. Aufstehen konnte sie nun nicht mehr und es gab, weil sie weinte, noch zusätzlich einige Ohrfeigen und Schläge auf den Hinterkopf. Bald wurde sie 6 Jahre alt und Roswitha kam in die große Mädchengruppe zu Schwester Serapa, drei Etagen tiefer. Kaum einige Stunden in der neuen Gruppe, schlich sich Roswitha die Treppen hinauf, zur Krabbelgruppe, sie wollte hier bleiben. Hinter einen Schrank im Flur versteckte sie sich und wusste nicht genau wie sie es anstellen sollte, heimlich sich auf ihren so vertrauten Platz zu schleichen. Von diesem Versteck aus konnte sie auf die Toilettenreihen der Kleinkinder sehen. Wie die „Orgelpfeifen“ saßen die Kleinen auf ihren Töpfchen. Schwester Marte war ungeduldig, hob jedes Kind vom Topf, sah hinein, wer von den Kleinen nichts im Topf hatte, wurde von ihr mit den Rücken an die Wand gekloppt. Alle schrien laut durcheinander, die Schwester wurde immer hektischer, Roswitha schlich sich leise die Treppe hinunter „Bloß weg hier, sonst schnappt die mich auch noch“, sagte sie zu sich.

„Heringsschwänze"

Roswitha erzählt weiter: „Mir ist von einer Speise eingefallen, die wir essen mussten. Ganz wichtig ist, dass man von dieser Art der Nahrungsaufnahme und der Behandlung etwas erfährt“, sagt Roswitha: „Am Morgen, früh um 6 Uhr, vor dem Frühstück, gingen wir in die Hauskapelle zur Messe. Mittags und am Abend, vor jedem Essen beten, das Gebet lautete: „Alle Augen warten auf dich oh Herr, für diese Speisen danken wir dir, Amen ...“ Es gab zum Mittagessen mal wieder ganze Heringsschwänze, Melcher mit Grießbrei, oder ganze Heringsschwänze gekocht mit getrockneten Pflaumen vermischt, als Alternative. Wenn dieses Essen uns Kindern vorgesetzt wurde, hatten sich mehrere Kinder, so wie ich, übergeben müssen. Die Blechnäpfe (Teller) mit dem Erbrochenen, wurden bis zur nächsten Mahlzeit auf die Seite gestellt. Keines von uns Kindern wusste, von wem das Erbrochene auf dem Blechnapf (Teller) war, den man wieder vorgesetzt bekam. Es musste gegessen werden.

Die Blechnäpfe (Teller) wurden immer voller, immer wieder musste ich mich übergeben. Es stank und gärte nur so vor sich hin. Ein anderes Essen gab es nicht. Nach Tagen wurde mir mit Gewalt die „Gülle“ in meinen Rachen gegossen. Nach diesen Essenszwängen wurde besonders darauf geachtet, dass auch ich mein Nachtischgebet laut mitbete: „Wir danken dir oh Herr, für diese Speisen, die wir empfangen haben ... Amen.“ Nach einiger Zeit wurde ich sehr krank und bekam Mundfäule. Ich hatte Schmerzen im Mund, konnte kaum etwas essen, als Kind wusste ich noch nicht, woher diese Mundfäule kam.

Die leckeren, ausgenommenen Heringe wurden den Nonnen mit Pellkartoffeln schön serviert. Ich musste, als ich 11–12 Jahre alt war, fast täglich das silberne Tablett mit den Speisen für die Nonnen in ihren Speisesaal tragen und dabei kräftig an die Türe vom Refektorium anklopfen, (bei 2 Türen, Innen und Außentür) warten, bis eine Nonne mir das silberne Tablett abnahm. Ich musste warten und blieb nach meinem Klopfen an der Tür stehen, bis eine Nonne mir die Türen aufmachte, hinein in den „heiligen Raum“ durfte ich nicht. Neugierig war ich schon, was da wohl in diesem Raum, abgeschirmt von uns Kindern, stattfand. Kurz hinein geblinzelt habe ich, obwohl es streng verboten war. Es blieb ein geheimnisvoller Ort für mich, erkennen konnte ich nie etwas.

Während ich mit dem Tablett wartete, schaute ich oftmals unter die Haube, mit der das Essen abgedeckt war. Es sind mir bei dieser Heimlichkeit, nur beim Hinschauen, fast die Augen ausgefallen, das Wasser lief mir in meinem Mund zusammen. Das allerbeste Essen war unter diesen Hauben. Die Heringe, von Kopf und Schwänzen befreit, mit wunderbaren Pellkartoffeln. Es waren gute Butter, Schinken und die schönsten Wurstsorten darunter, die wir als Heimkinder an unserem Tischen nicht mal zu Gesicht bekamen. Die Heringsschwänze hatten wir essen müssen. Zum Abendessen gab es für uns Brote mit knapp bestrichener Margarine. Stullen mit nichts drauf, „Karo barfuss“ wurden diese Brote von uns genannt. Während wir Heimkinder dünn und schmächtig waren, immer hungrig, waren die Nonnen „propper“ an Körperfülle.

Frau Doktor

An manchen Tagen kam Frau Dr. Rother zur ärztlichen Untersuchung in das Büro von Schwester Eugena. Die Oberin vom Kinderheim ließ sich die Bettnässer der einzelnen Gruppen vom Kinderheim vorführen und von Frau Dr. Rother untersuchen. Bei Frau Dr. Rother gab es, wie bei jeder Untersuchung, strenge Regeln. Alle Bettnässer standen nackt vor der Oberin und der Frau Doktor. Es gab erst mal Schläge mit dem Lederriemen. Erst von der Schwester Oberin, dann von der Frau Doktor. Frau Doktor, die nach der „Sonder-Behandlung“ jedem Kind eine rosa Pille (Bonbon) in den Mund steckte. Beide Frauen passten auf, dass die Pillen von den Kindern auch runtergeschluckt wurden. Ein Getränk für die Kinder gab es nicht.

Der 1. Schultag

Mit dem 6. Lebensjahr wurde Roswitha in die Städtische Nikolai-Schule eingeschult. Sie war schüchtern und verängstigt und musste sich erst an die neue Situation gewöhnen. An ihrem ersten Schultag bekam sie ein neues Kleid und ein paar neue Schuhe. Die Unterwäsche in einem frischen Weiß und neue lange braune Strümpfe. Sie hatte so schöne Sachen noch nie angehabt. Abgelegte Kleidungsstücke, es waren aufgebügelte Sachen, fast neu, die sie nun weiter abtragen durfte. Stolz hielt sie ihre Einschultüte, die mit einem Apfel gefüllt war.

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1.Schultag, Roswitha ist rechts zu sehen
Die Schwestern behandelten Roswitha mit einer gewissen Verachtung. Zigeuner, so nannte auch die Nonne Serapa die kleine Roswitha gleich von erstem Tag an, als sie zu ihr in die Gruppe kam. Sie hieß nun Zigeuner und alle Kinder und Schwestern im Kinderheim nannten sie so. Das Lernen in der Schule fiel ihr sehr schwer. Bei den Hausaufgaben war sie, wie immer, auf sich alleine gestellt. Nach den Untersuchungen bei Frau Dr. Rother konnte sie sich oft nicht auf die Schularbeiten konzentrieren, sie hatte Aussetzer und konnte sich an die Aufgaben, die der Lehrer ihr gab, nicht mehr erinnern.

„Du da, komm mal her Zigeuner“, hörte sie die Schwester Serapa rufen, wenn sie in irgendeiner Ecke abgesondert von den anderen saß. Wenn sie sich beim Spielen unbeobachtet fühlte, schaukelte sie schnell ihren Oberkörper nach vorne und wieder zurück. Am Abend vor dem Einschlafen bewegte sie ihren Kopf hin und her, das Schaukeln mit ihrem Körper im Bett beruhigte Roswitha. Nach all den Jahren mit den Nonnen im Kinderheim vergaß sie, wie ihr richtiger Name war. Sie glaubte, sie hieß Zigeuner, das war ihr Name.

In den ersten Tagen ihrer Einschulung wurde ihr Name von der Nonne Serapa auf alle Schulhefte geschrieben. Ich heiße Roswitha? Als Roswitha nach einiger Zeit endlich lesen konnte, war sie doch etwas erstaunt, das war ihr Name? Die Schwester rief noch immer „Zigeuner“. Es erschreckte sie, das war doch nicht mein Name …! Sie wusste ja jetzt, ich heiße in Wirklichkeit, Roswitha. An den Namen Roswitha musste sie sich erst gewöhnen, denn auch die Lehrer riefen Zigeuner.

Das Bettnässen ließ nicht nach. Sie hatte immer Angst und schämte sich auch dafür. Sie versuchte, am Abend noch mal auf die Toilette zu gehen. Das war nicht möglich. Die Toiletten wurden, nachdem alle Kinder ins Bett geschickt wurden, abgeschlossen. Bettnässerin blieb sie bis zu ihrem 15. Lebensjahr. Es war das Jahr 1954.

Kommunion

In ihrem 10. Lebensjahr ging sie zur 1. Kommunion. Die Nikolaikirche war geschmückt mit vier großen weißen Schleiern, die von der Decke aus mit Blumen wunderschön ausgestattet waren. Sie freute sich, denn es war ihr Tag. Die Kirche extra für sie geschmückt. Stolz hielt sie ihre Kerze, die sie in einem weißen Spitzentaschentuch in die Kirche trug. Die Kirche war in der Nähe vom Kinderheim. Sie sah die anderen Kinder aus der Stadt und jetzt fühlte sie sich nicht mehr so einsam. Jetzt war sie eine von denen. In diesem Moment fühlte sie sich mit den Stadtkindern verbunden. Im Heim gab es ein gutes Frühstück mit Kuchen, Roswitha fühlte sich wohl, es war nicht wie sonst beim alltäglichen kargen Frühstück.

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Rosis Kommunion
Keine Blechteller, sondern an diesem Tag wurde von Porzellan gegessen. (Ab sofort gab es das Porzellan auch an den Wochentagen für die Kinder.) An diesem Tag sah sie das erste Mal ihre Familie. Sie hatte ihre 1. Kommunion empfangen, etwas ganz Besonderes ging in ihr vor. Roswitha hatte „Jesus Christus in sich und war von allen Sünden befreit“, an ihre letzte Beichte wollte sie an diesem Tag nicht denken. Mit diesem Glückgefühl ging sie nach diesem festlichen Gottesdienst, ihre Kerze stolz in der Hand und mit den Klängen der Orgel-Musik mit den anderen Kommunion-Kindern aus der Kirche. Die Schwestern vom Kinderheim gingen voran und sahen sehr freundlich aus. Roswitha glaubte fest daran, keine Schläge mehr von ihnen zu bekommen, jetzt wo sie „Jesus Christus empfangen hatte“. Ihre glücklichen Gefühle waren überwältigend.

Zur Kaffeezeit meldete sich Besuch für sie an, Schwester Serapa rief sie ins Besuchszimmer, es waren ihre Mutter, die Großmutter und Anni ihre älteste Schwester, die sie an diesem Tag besuchen durften. Nicht mal an Anni konnte sie sich erinnern, sie konnte mit diesen Fremden nichts anfangen. Keine Beziehung, keine Einordnung dieser neuen Situation war ihr möglich. Sie kamen als Fremde und gingen nach der Kaffeezeit als Fremde.

 

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Ihre Familie, von der sie nichts wusste 

Dass sie viele Geschwister hatte (mit ihr sechs an der Zahl in gleichem Heim) wusste sie damals nicht. Bewusst hatten die Nonnen die Zugehörigkeit der sechs Geschwister verschwiegen. Ihre Schwester Helene lernte sie erst als ihre Schwester kennen, als Helene aus dem Kinderheim entlassen wurde. Schwester Serapa tat ganz wichtig, „Komm mal her und sage deiner Schwester Helene schön auf Wiedersehen, sie verlässt uns heute.“ Roswitha war in diesem Augenblick so erstaunt, sie gab dem fremden Mädchen aus der großen Mädchengruppe die Hand und machte dabei einen besonders schönen Knicks.

Nach dieser kurzen Begegnung, wusste sie, sie war nicht ganz alleine. Familienbewusstsein sollte bei den Geschwistern nicht aufkommen. Selbst Freundschaften unter den kleinen Mitbewohnerinnen hatte die Heimleitung verboten.

Die erste Periode

Die erste Regel bekam sie in ihrem 11. Lebensjahr. Die Nonne hat sie, als sie das erfahren hat, zusammengeschlagen. Hildegard B. sagte zur Nonne „Roswitha hat Blut in der Toilette“. Sofort wurde Roswitha von den anderen Kindern abgesondert. Eingesperrt wartete sie verängstigt im Waschraum, es war dunkel, kein Lichtstrahl in diesem Raum. Es war an einem Novemberabend. Derweil fand Gewissenerforschung im Bett sitzend mit Beten statt. Wie jeden Abend wurde dieses Ritual nach dem Abendessen von der Schwester Serapa zelebriert. Die Nonne kam zurück, nachdem sie die anderen Kinder in den Schlafsaalgebracht hatte, die Gewissenserforschung kontrolliert hatte und glaubte, dass die Kinder schliefen.

Die Nonne schloss die Tür vom Waschraum auf, machte das Licht an und fing sofort an zu schreien: „Wo hast Du Blut gehabt?“, fragte die Nonne, sie war ziemlich aufgeregt. Roswitha sprach leise vor Angst: „Ja, hier in der Toilette.“ Die Nonne: „Na, dann wollen wir mal sehen, wo das Blut ist“, und griff Roswitha mit hasserfüllten Gesicht an den Haaren. Die Nonne steckte den Kopf von Roswitha in die Kloschüssel tief hinein und zog kräftig an dem Band der Wasserspülung, das Klowasser lief über ihren Kopf, die Zöpfe hingen in dem Klobecken. Die Elfjährige schluckte Wasser und spuckte es vor Ekel wieder aus.

Die Nonne wiederholte den Vorgang mehrmals, bis sie selbst so erschöpft war, erst dann ließ sie von Roswitha ab. Roswitha hatte große Angst, sie spürte den Zorn dieser Nonne. „Jetzt bin ich schwer krank und muss sterben?“, das war ihr Gedanke. Vor Schreck und Angst von den Aktionen der Schwester hatte Roswitha keine Gefühle mehr, sie zitterte vor Angst am ganzen Körper. Die Nonne nahm Roswitha auf ihren Schoss und zog ihr den Schlüpfer herunter, schaute in den Po und drehte sie um, betrachtete sie von beiden Seiten.

„Da ist ja gar nichts drin“, und schlug wie von Sinnen mit einem Handfeger auf ihren nackten Körper ein. Selbst als sie auf dem Boden lag, trat die Nonne mit ihrem Fuß keuchend auf sie ein „Mach dass du ins Bett kommst Zigeuner, ich werde dir die schmutzigen Fantasien und den Teufel schon austreiben“, rief die Schwester Serapa ihr noch als Gute-Nacht-Gruß hinterher. Roswitha: „Ach wäre ich doch jetzt gestorben oder aus dem Fenster gesprungen, es war ja hoch genug“, sagte sie leise vor sich hin, als die Nonne endlich von ihr ließ.

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Hauskapelle im St.-Josefs-Kinderheim
Ihre Schreie gingen durch die Nacht, die lauten Schreie hörten alle Mitbewohner, sie schliefen an diesem Abend nicht. Roswitha: „Für die Schwestern waren diese Kinder aus schwachen und zerrüttenden Familien der Verwahrlosung nahe, sie waren mit der Aufgabe überfordert und dachten nicht an den seelischen und geistigen Beistand für die ihnen anvertrauten Kinder“, sagt sie heute. „Wir brauchten Liebe und Geborgenheit“, sagt sie weiter. Roswitha wurde am nächsten Tag von ihren Mitbewohnern ausgelacht und sie hänselten hinter ihr her. Die Nonne hatte nichts dagegen unternommen und hatte ihr auch nicht erklärt, was das Bluten bedeutete. Roswitha konnte ein leichtes Grinsen in ihrem Gesicht erkennen. Als Roswitha am nächsten Tag in der Schule an die Tafel musste, war ihr Kleid voller Blut und sie wurde auch von Ihren Mitschülern ausgelacht. Roswitha war verzweifelt, was ist denn bloß geschehen, sie war zu jung, um das alles, was um sie herum Gemeines geschah, verstehen zu können.

Es war wieder keiner da, der Zeit hatte, sie aufzuklären oder der ihr Bestand leistete. Der Lehrer schickte sie ins Heim zurück. Als sie in der Straße vor dem Kinderheim angekommen war, versteckte sie sich aus Angst vor der Nonne hinter einem Strauch direkt am Zaun. Dem Kinderheim blieb sie fern, bis Hildegard sie entdeckte, als der Schulunterricht für alle zu Ende war. Hildegard war jünger als Roswitha, aber sie hatte schon Erfahrung mit der Periode. Dass wusste Roswitha zu diesem Zeitpunkt nicht. Hildegard nahm sie mit ins Haus. Die Nonne entdeckte die beiden und zog Roswitha wieder an den Haaren, hinauf bis in das 3. Stockwerk. Hier gab die Nonne ihr ein frisches Kleid und Unterwäsche. Jetzt durfte sie sich umziehen, die blutigen, verschmierten Sachen ausziehen, am Waschbecken sich alleine waschen und auf die Toilette gehen und das außerhalb der bestimmten Uhrzeiten. Das war normalerweise verboten. Der kleine Körper war grün und blau von den Schlägen der Nonne vom Vortag. Ihr ganzer Körper tat ihr fürchterlich weh. Diese Schmerzen verspürte sie auch in der Schule, dort hatte sie geweint.

Im Waschraum hatte sie keine Tränen mehr, sie hatte nur Angst, dass sie wieder Schläge bekam. Schwester Serapa gab ihr eine Strickbinde, jetzt kam Roswitha in Schwierigkeiten und dachte: „Was soll ich mit dem Ding anfangen?“, und hielt die Binde auf den Kopf. Die Nonne: „Na hier so, zwischen deine Beine und hier ist ein Gürtel zum befestigen.“ Sie zeigte ihr, wie sie das zusammenknöpfen soll. Weiter sagte sie: „Das bekommst du jetzt alle vier Wochen.“ Roswitha konnte mit dieser Aufklärung nichts anfangen. Die Binde zwischen den kleinen Beinen, es war sehr schlecht damit zu laufen. Sie ließ es über sich ergehen, sie blieb still. Fragen konnte sie doch niemanden.

Das neue Leben

Mit dem 14. Lebensjahr wurde Roswitha auch aus dem Kinderheim entlassen. Ein halbes Jahr vor der Entlassung wurde ein Vormund für sie bestellt. Der Vormund war ein Küster der Elisabeth-Kirche, in der Nähe vom Kinderheim Lippstadt, Hospitalstr. 15. Roswithas Körper war dünn, sie war schmächtig, ein kleiner Busen kaum zu erkennen. Sie bewegte sich linkisch, dass war ihre Unsicherheit, sie sah eher wie eine Zwölfjährige aus. An einem Wochentag wurde sie von der Schwester Serapa ihrem neuen Vormund, dem Küster Herrn Stephen, vorgestellt. Zu dem Küster sagte die Nonne: „Hier übergebe ich Ihnen Roswitha zu treuen Händen.“

Die Begrüßung fiel nicht sehr freundlich aus. Weil Roswitha immer Hunger hatte, staunte sie nicht schlecht, es gab für sie eine abgeschälte, in Stücken fein, auf einen schönen bunten Teller, platzierte Apfelsine. Eine seltene Gelegenheit, so etwas Feines zu bekommen. Es stimmte Roswitha friedlich und sie fühlte, jetzt war sie auf einem guten Weg. Eine Arbeitsstelle als Bauernmagd wurde schon im Vorfeld für sie ausgesucht. Dafür kam eine Stellung bei einem Bauern nach Ansicht der Schwestern für sie in Frage. Roswitha wurde nicht gefragt. Am Tag der Entlassung aus dem Heim holte der Bauer sie persönlich ab.

Roswitha: „Wer hier aus der Hölle heraus kam, hatte noch Glück.“ So war ihr Gefühl und sie war erst einmal zufrieden. Was auf sie zukam, davon hatte sie keine Ahnung. Ein Kleid, ein paar neue Schuhe und etwas Unterwäsche wurden ihr mit auf dem Weg in das neue Leben gegeben. Das war die „Aussteuer“ für entlassene Mädchen. Auf dem Hof des Bauern in Bökenfelde angekommen, kam die Bäuerin auf sie zu und sie wurde freundlich von ihr begrüßt.

Die Bäuerin sehr groß und stämmig, in ihrer Art sehr ruppig, sie führte hier das Kommando. Die Bäuerin zeigte ihr, wo sie jetzt schlafen sollte. Ein eigenes Zimmer, das hatte Roswitha noch nie. Das Zimmer lag über dem Kuhstall. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie nun ihr eigenes kleines Reich. Die wenigen Sachen, die sie mitbrachte, waren schnell im Schrank eingeräumt.

Erstmal allein in ihrem Zimmer schaute sich Roswitha um und fühlte sich noch nicht so richtig wohl. Sie war allein und auch etwas traurig, weil sie nicht wusste, was sie jetzt in ihrer neuen Umgebung erwartete. In ihrem kurzen Leben hat sie immer wieder mit Enttäuschungen leben müssen. Eine Ewigkeit verging, bis die Bäuerin sie rief. Roswitha erschrak, sie war in eine melancholische Stimmung versunken und dachte das erste Mal über ihr bisheriges Leben nach. Die Bäuerin rief sie wieder, diesmal etwas lauter. In den Rufen der Frau des Hauses war noch etwas Freundlichkeit in ihrer Stimme zu spüren.

Mit der Freundlichkeit war es vorbei, als sie Roswitha ihr den Arbeitsbereich zeigte. Am gleichen Tag die Küche putzen, den Essbereich putzen, das Treppenhaus putzen. „Es ist jetzt 18 Uhr. Du machst jetzt die Vorbereitung für das Abendessen.“ Die Bäuerin weiter: „Decke schon mal den Tisch.“ Das Problem für Roswitha war groß. „Wie deckt man einen Tisch zum Abendessen ein? Messer, Gabel, Teller, wo sind diese Teile?“ Sie stand vor dieser Aufgabe ziemlich hilflos herum. So etwas hatte sie nie gelernt. Im Heim, wo sie aufwuchs und erzogen wurde, gab es keine Esskultur. Die Teller und das Besteck wurden einfach zusammengewürfelt auf den Tisch gelegt. So kannte das Roswitha. Die Bäuerin: „Nun fang schon an, hier ist das Besteck und hier sind die Teller.“ Roswitha legt die Teller und das Besteck wie es aus dem Küchenschrank entnommen hatte, so mitten auf dem Tisch, wie sie das im Kinderheim bei den Nonnen gewohnt war. „So geht das nicht“, sagte die Bäuerin. Sie zeigte ihr, wie sie ab sofort den Tisch einzudecken hatte. Wasser für Tee sollte sie auf den Kochherd aufsetzen, auch das wusste sie nicht, wie sie das machen sollte.

Drei Personen waren im Haushalt. An Sonn- und Feiertagen kam der jüngste Sohn aus dem Internat hinzu. Aufpassen musste sie dann, dass auch vier Gedecke auf dem Familientisch waren, sonst gab es großen Ärger, hatte sie das versäumt. Ein Fehler, den sie gleich am ersten Tag machte, die Bäuerin: „Was soll denn dein Gedeck an unserem Tisch?“ Die Bäuerin schrie sie wutentbrannt an: „Da hinten in der Küche am Katzentisch, das ist in Zukunft dein Platz zu den Mahlzeiten.“

Roswitha ging mit gesenktem Kopf zu ihrem Platz, den die Bäuerin Katzentisch nannte. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben waren schon jetzt nach diesen Erfahrungen für sie an diesem ersten Arbeitstag vorbei. Roswitha schaute hungrig und ängstlich zum Familientisch, denn an ihrem Tisch waren keine Speisen. Als die Herrschaften mit dem Essen fertig waren, bekam sie den Rest von der Frau des Hauses ohne ein Wort auf ihren Tisch geknallt. Jetzt durfte sie essen. An manchen Tagen blieb bei den Herrschaften vom Mittags- oder Abendtisch für Roswitha nichts übrig. Sie blieb dann brav an ihrem Tisch sitzen und wartete auf ihr Essen. Die Bäuerin kam mit leeren Händen zu ihr und sprach: „Wenn du Hunger hast, hänge dir einen Hering an die Decke, dann kannst du daran lecken.“

 

Ausschnitte aus: „Stille Schreie oder Wer ist eigentlich ELVIS“, Deutsche Erziehungsheime in der Nachkriegszeit, Regina Page, Copyright (2009) Engelsdorfer Verlag ISBN 978-3-86901-600-9. Veröffentlichung mit ausdrücklicher Genehmigung

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"Die Kirchen stehen zu ihrer Verantwortung in der frühen Bundesrepublik ... die Heimerziehung war damals auf das bloße Funktionieren der Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft ausgerichtet. ... Die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen, das haben wir am Runden Tisch eindrucksvoll erlebt, in ihrer Individualität und subjektiven Befindlichkeit traten dabei oftmals in den Hintergrund."

Johannes Stücker-Brüning, Geschäftsführer der Caritaskommission der DBK, Vertretung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) auf der Bundespressekonferenz Runder Tisch Heimkinder am 13.12.2010