Die sozialökonomische Wir - Bildung
Das Diskriminierungsgefühl ergibt sich in den NBL klar und deutlich nicht aus dem Bestimmungsmerkmal der ethnischen Tradition, sondern aus der Entwicklung seit der sogenannten Wiedervereinigung. Im Rahmen des generellen Prozesses der sozialen Erosion in Deutschland bildet die Entwicklung in den NBL eine besonders verschärfte Form. Verbunden mit der de facto politischen Diskriminierung als wahlberechtigte Minderheit führt die gefühlte soziale Diskriminierung zu dem Entstehen eines emotionalen Wir-Gefühls. Für viele Soziologen ist dieser jetztzeitig bezogene Prozess der Kern der Ethniebildung: Eine Ethnisierung des Sozialen, die zu einem ethnisch geprägten Wir- Gefühl führt (vgl. Prof Scherr). Ob das dann noch eine Ethnie in klassischem Verständnis ist, ist zunächst irrelevant. Wichtig ist, dass aus einer gegenwärtigen unsozialen Entwicklung ein Wir-Gefühl entsteht. Selbstverständlich existiert neben diesem allgemein verbreiteten Gefühl noch das der regionalen Identitäten, aber die sind auch in dem klassischen Ethnienbegriff enthalten. Beispielhaft für ähnliche Fälle in der Welt wird in den NBL somit die überdachende und grundlegende Rolle der sozialökonomischen Situation einer sozialen Gruppe für die Bildung eines Wir-Gefühls sichtbar. Und dies unabhängig von ihrer regional differenzierten Zusammensetzung sowie über administrativ nicht einheitliche Territorien.
Um nun der mit dem Begriff Ethnie zusammenhängende Inkompatibilität des beschriebenen Entwicklungsprozesses zu entgehen, wäre es sinnvoll in diesem Kontext den Begriff „Ethnie“ durch den Begriff „soziale Identität“ zu ersetzen. Letzterer ermöglicht einen Diskriminierungsbezug, der sich nicht nur aus der klassischen Tradition ableitet, sondern insbesondere gegenwärtige Entwicklungen mit ihren spezifischen eigentumsbedingten Verhältnissen einbezieht. Er wäre dadurch flexibler und anpassungsfähiger sowie zukunftsoffen. Er ist nicht nur gruppengebunden, sondern ermöglicht auch die Verknüpfung mit individuellen Charakteristika.
Startete die Wende unter der Losung „Wir sind das Volk“ und wurde dann schnell durch ein vielversprechendes „Wir sind ein Volk“ abgelöst, so scheint dieses Versprechen nicht mehr zu stechen. Durch die soziale Wir-Bildung kommt es in Ostdeutschland vielerorts wieder zu Überlegungen, wer nun hier das Volk wirklich sei. Das kann für die Entwicklung der Demokratie positiv sein, kann aber in seinem Fortschreiten auch zu einer wirklichen Ethnisierung des Sozialen führen, welche die vorher skizzierten Gefahren der Ethnisierung gesellschaftlicher Prozesse auslösen kann. Ein Wir-Gefühl beinhaltet immer ein Wir – Sie Verhältnis. Die Ethnisierung durch soziale Konflikte kann sehr schnell zu verschärften gegenseitigen bzw. feindlichen Exklusionskämpfen führen. Ob diese fruchtbringende Lösungen für die in Deutschland bestehenden Probleme bergen, ist fraglich. Als Beispiel für einen in dieser Hinsicht ausweglosen Weg kann die heutige Situation in Belgien gelten. Ebenso illustrativ dafür sind die Konflikte aus der gescheiterten Integration der Immigranten und ihre zunehmende isolierende Selbstethnisierung. Ob es zu einer vollen Ethnisierung des Wir-Gefühls kommt, ist abhängig von dem Weg, welchen dieser Prozess in Ost- und Westdeutschland nehmen wird.
Unsichere Prognosen der Wir-Entwicklung
In seinem Vortrag entwickelte Dr. Th. Koch drei mögliche Varianten der Entwicklung des Wir-Gefühls in den NBL und daher, im Kontext mit den gegenseitigen Exklusionsverhältnissen, implizit in ganz Deutschland: ihre Erosion, ihre erweiterte Reproduktion und ihre Transformation.
Grundlage der Erosion wäre eine beschleunigte ökonomische Entwicklung der NBL, welche die sozialen und kulturellen Differenzen zwischen den zwei Landesteilen aufhebt und eine uniforme Lebenswelt herstellt. Die neue Ostgeneration würde dann voll in der BRD angekommen sein und die ältere Generation würde moralisch kapitulieren, so ähnlich wie das mit den nordamerikanischen Südstaaten geschah. Die DDR hat es dann nicht mehr gegeben. Diskriminierungen auf der Basis der sozialen Identität wären obsolet.
Unter der erweiterten Reproduktion des Wir-Gefühls versteht Dr. Koch, dass bei einer sich durchsetzenden selbstragenden Wirtschaft des Ostens eine Lebenswelt entsteht, die „die DDR im Rücken“ hat. D. h. mit einer eigenständigen Mittelschicht und Elite würde eine alternative Lebenswelt entstehen, die bestimmte Elemente der DDR mitdenkt und reproduziert. Ähnlich wie in Flandern oder im Baskenland könnten so Potenziale einer unabhängigen Entwicklung zur Wiederbelebung der alten Konföderationsidee bzw. u. U. zu Sezessionsbestrebungen führen. Letzteres ist aber unwahrscheinlich, weil es den NBL an den dafür notwendigen politischen Kräfte fehlt und weil die demografische Situation es kaum erlaubt. Trotzdem ist es eine Ebene, welche den Kampf um neuartige Entwicklungsrichtungen ermöglicht.
Letztlich, als eine eher utopische aber deshalb dringend notwendige Version: Die Transformation des Wir-Bewusstseins. Unter den Druck der sich global verändernden Umwelt- und Ressourcensituation muss die BRD als Ganze zu einem paradigmatisch veränderten Wachstumsmodell übergehen. Dieses Modell kann nur als Projekt eines grundlegenden sozialökologischen Umbaus verstanden werden, wo der Abbau jeglicher Exklusion, Diskriminierung und Ungleichheit die Hauptbedingung für eine nachhaltige Entwicklung darstellt. Nur so könnte ein Wir-Gefühl in gesamtdeutscher, ja europäischer oder sogar weltweiter Dimension geschaffen werden. Eine individuelle und kollektive Selbstbestimmung auf der Grundlage der universellen Menschenrechte und ohne die Last der ethnischen Auseinandersetzungen wäre so möglich.
Schlussfolgerungen
Als Fazit wird deutlich, dass die Frage, ob Ossis ethnisch diskriminiert werden können, eine falsche Problemstellung ist. Für eine Klage auf Diskriminierung lässt sich der ethnische Bezug nicht nutzen. Auch wenn die Ossis nach einer moderneren Interpretation des Ethniebegriffs eine Ethnie wären, kann die Bindung der Diskriminierung an eine Ethnie nie das Wesen der Diskriminierung selbst aufheben. Diskriminierung, genau wie Ethnisierung, ist vor allem eine Folgeerscheinung der sozialen Ungleichheit. Sie bildet unabhängig von allen ethnischen und soziokulturellen Erscheinungen einen Normalfall für das heutige Wirtschaftssystem. Alle Antidiskriminierungsprogramme, inklusive der diesbezüglichen Gesetze und Rechtsprechung, haben daher nur als Ziel, die individuellen Folgen der sozialen Diskriminierung und Ungleichheit in der Gesellschaft zu mildern, aber nicht die Ursache zu beseitigen. Dies entspricht eindeutig der Interessenlage bestimmter herrschender Kreise der modernen Gesellschaft.
Der Gerichtsentscheid bringt diese Widersprüchlichkeit klar zum Ausdruck. Er basiert auf dem „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)“, das aber gegenüber den mehr universellen Gültigkeitsbestimmungen des Grundgesetzes die Diskriminierungsgründe eindeutig eingrenzt. Ein Diskriminierungsverbot wegen geographischer Herkunft wäre auf der Basis des Art. 3 Abs. 3 GG möglich, nicht aber im Sinne des AGG, das nur ethnische Diskriminierung vorsieht. Diese Eingrenzung schreibt die obige Auslegung der Diskriminierung für die Gerichtsbarkeit tautologisch fest. Kehrt man die Eingrenzung nämlich um, dann sind alle nicht erwähnten Gründe gestattet. Insbesondere dann alle sozialökonomischen Diskriminierungen.
Frau Gabriela S. ist somit klar und deutlich ein Diskriminierungsopfer, zunächst wegen ihrer sozialen Identität als Ossi, aber viel grundsätzlicher als eine Frau, die um ihre Existenz zu sichern, gezwungen wird, die systemischen Spielregeln des heutigen Wirtschaftssystems zu akzeptieren. Um in der Zukunft Fälle wie der der Frau S. zu verhindern, muss ein erster Schritt hinsichtlich der notwendigen paradigmatischen Transformation des Wir-Gefühls gesetzt werden. Es sollte die einschränkende, einseitige Bindung der Diskriminierung an ethnische, kulturelle oder religiöse Gründe beseitigt werden, indem an erster Stelle ihre Bindung an sozialökonomische Gründe gesetzt wird.
Rudy Mondelaers