Ist die Diskriminierung von Ossis möglich?

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Ampelmännchen – grün / Foto: wikimedia commons

BERLIN. (hpd) Nach dem in den Medien stark beachteten Fall der angeblich wegen ihrer Ossi-Zugehörigkeit für einen Job in Stuttgart abgelehnte Frau S., wird das bereits für Immigranten sehr relevante Problem der ethnischen Diskriminierung nun auch für das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen thematisiert.

Es stellt nicht nur die Frage nach der Existenz einer Ossi-Ethnie, sondern auch nach den Bestimmungskriterien der Ethnie und nach dem Wesen der Diskriminierung in der heutigen Gesellschaft.

Mit den zunehmenden Auswirkungen der Globalisierung nehmen in der Welt offensichtlich die regionalen Konflikte zu. Sie verdichten sich zu idiotischen bis blutigen Formen, wenn sie sich mit ethnischen oder religiösen Differenzen paaren. Das von Belgien über Spanien bis Jugoslawien auch in Europa.

Ethnisierte Konflikte sind deshalb gefährlich, weil sie meistens emotional geladen aus dem Bauch kommen. Genau wie religiöse Konflikte eignen sie sich gut dazu, eigennützliche Interessen bestimmter Gruppen zu kaschieren, um sie scheinbar zur Sache der ganzen Bevölkerung zu machen. Sie können auf der Grundlage nur einzelner Elemente des Menschseins ein falsches Identitätsgefühl erzeugen, das ganze Völker feindlich trennt. Fanatischer Kommunitarismus bis hin zu Rassismus können so die Universalität der Menschenrechte kollektiv und individuell aufheben. Prinzipiell gilt es somit, jeder Versuch zur Ethnisierung von bestehenden Konflikten zu vermeiden. Individuelle und kollektive Identitäten beruhen auf einem Komplex von Faktoren, die den Weg zu der notwendigen individuellen und kollektiven Selbstbestimmung nicht zwangsweise über die normativ verengten Pfade der Ethnie oder Religion führen.

Gibt es Ethnien in Deutschland?

Trotz dieser prinzipiellen Bedenken über die Verwendung der Kategorie Ethnie bei gesellschaftlichen und insbesonders sozialökonomischen Konflikten, die nachher noch zu präzisieren sind, bedeutet dies nicht, dass es sie nicht gibt oder sie grundsätzlich ohne Bedeutung sind. Sie werden gerade dann ein zu thematisierendes Faktum, wenn sie mit Diskriminierung bzw. Ungerechtigkeit verbunden sind, d. h., wenn sie sozialökonomisch fundiert sind. So geschehen in Stuttgart im vorigen Jahr. Geklagt hatte Gabriela S. aus Ostberlin gegen eine erfolglose Bewerbung um eine Stelle als Bilanzbuchhalterin im Schwabenland. Zusammen mit der Ablehnung fand sie auf dem zurückgesandten Lebenslauf die handschriftliche Notierung „Ossi“ mit einem Minuszeichen. Sie berief sich auf das seit 2006 geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Diskriminierung wegen Geschlecht, Religion und ethnischer Herkunft verbietet. Das Arbeitsgericht Stuttgart wies die Klage in erster Instanz ab, da die Ostdeutschen keine eigene Ethnie im Sinne des AGG sind. Es fehlt entsprechend der klassischen Definition der Ethnie an Gemeinsamkeiten in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung und Ernährung und überhaupt hat die DDR nur 40 Jahre bestanden. Nach Widerspruch des Anwalts konnte dann in letzter Instanz ein Vergleich erwirkt werden, was die juristische Stichhaltigkeit des Gerichtsurteils bereits in einem schwächeren Licht erscheinen lässt.

Wie immer geht es hier um die folgenschwere Deutungshoheit über Begriffe und Kategorien, um die Kluft zwischen Realität und Gesetzen auch bei der Bestimmung was heute unter Ethnie zu verstehen ist und wann daher von ethnischer Diskriminierung gesprochen werden kann. Die moderne Soziologie geht dabei von einem viel weiteren Begriffsverständnis aus als die Richter in Stuttgart bzw. die durch sie angewandten Gesetze. Der Soziologe Prof. Bierschenk der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz z. B. verteidigt deshalb explizit die Existenz einer ostdeutschen Ethnie ebenso im Magazin stern. Auch Dr. Thomas Koch, Wissenschaftler am Brandenburg-Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien, beantwortete Ende Januar in Berlin in einem, durch den bekannten Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Dietrich Mühlberg moderierten, ausführlichen Vortrag „Wer oder was sind die Ostdeutschen?“, die Frage mit einem vorsichtigen Ja.

Diese Positionierung ändert jedoch nichts an die prinzipielle Fragwürdigkeit der Verwendung der Ethnie. Insofern hat das Gericht implizit recht, obwohl eine objektive Anwendung der eigenen, altherkömmlichen Definitionselemente des Ethnienbegriffes genügend Raum gelassen hätte, um die tatsächliche Existenz einer ostdeutschen Ethnie nachzuweisen. Diese widersprüchliche Anwendung seines eigenen Definitionsverständnisses lässt an die Konsistenz seiner Argumentation starken Zweifel aufkommen. Lässt sogar eine Politisierung oder Ideologisierung der Denkweise vermuten. Wäre die andere Position juristisch legitimiert worden, dann hätte konsequenterweise Frau Gabriela S. recht auf Entschädigung bzw. müsste eingestellt werden. Eine Entscheidung mit Präzedenzwirkung für vielleicht Tausende andere ähnlich gelagerte Fälle.

Einer der vordergründig wichtigsten ethnischen Bestandteile, das das Gericht in diesem umgekehrten Sinne hätte objektiv werten müssen, wäre zunächst die Situation der Religion in den neuen Bundesländern gewesen.

Der ostdeutsche Volksatheismus als ethnisches Kennzeichen?

Viele Autoren haben auf den Seiten des hpd bereits seit Langem auf die scharfen Unterschiede in der Situation der Kirchen und der Religionen zwischen den alten und neuen Bundesländern hingewiesen und in dem fowid Archiv findet sich dazu der entsprechende statistische Nachweis. Dr. Horst Groschopp z. B. bewies, dass der vom katholischen Theologen Eberhard Tiefensee entwickelte Begriff „Volksatheismus“ als ein wesentliches Merkmal der DDR-Kulturgeschichte anzusehen ist und vielleicht als ein atheistischer Humanismus in den Farben der DDR in der heutigen Bundesrepublik weiterexistiert. (so z. B. in: „Soziologische Befunde über die 'dritte Konfession' " in der Zeitschrift MIZ Nr: 4/ 04 und in der kulturation. Dass er tatsächlich stabil weiterexistiert, wird durch eine Reihe von Fakten bewiesen, die in diesem Kontext hier nur kurz angedeutet zu werden brauchen.

Illustrativ, aber ausreichend beweiskräftig für die hier behandelte Thematik, ist zunächst die Tatsache, dass der Durchschnittswert der Christenquote der Neuen Bundesländer (NBL) 2002 (inklusive Ost Berlin) weit unter dem der BRD insgesamt liegt (12 zu 24 %). Dabei wird zwar das bundeseigene Gefälle von Nord nach Süd reproduziert, aber zusammen mit Schleswig Holstein zeigen die Landesquoten hier (mit einem leichten Ausnahmenwert Sachsens von etwa 17 %), eine relativ gleichmäßige Streuung der Unterproportionalen (von 13 bis 8 %). Entsprechend auch die Werte für die Konfessionslosen: Bundesdurchschnitt 27 % - Durchschnitt NBL 76 % (Streuung zwischen Sachsen und Ost Berlin: 65 zu 88 %). Die frühere Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland markiert also eine eindeutige Eigenständigkeit der beiden Teile in Sache Religiosität. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall haben für die Mehrheit der Ostdeutschen Gott und Kirche noch immer keine Bedeutung.

Die Ursachen dieser Situation sind sehr komplex, haben aber sicherlich nur in weitestem Sinne etwas mit dem Lauf des römischen Limes zu tun. Sie brauchen hier zunächst nicht thematisiert zu werden, da es nur um den Nachweis der religiösen Eigenständigkeit des Ossilandes geht, die offensichtlich nach allen neuen Daten zu einem stabilen Atheismus ausgewachsen ist. Ganze Familien sind bis in die vierte Generation konfessionslos. Dabei ist diese Konfessionslosigkeit, anders als in den alten Bundesländern, nicht beschränkt auf (vorwiegend männlich bestimmte) Kreise, die sich eher vernunftmäßig, intellektuell von der Kirche abgenabelt haben, sondern um es mit dem oft in diesem Kontext zitierten Halbsatz von Hegel zu kennzeichnen, um Menschen, die „vergessen (haben), dass sie Gott vergessen haben“. Es handelt sich bei den NBL eindeutig um ein genau determiniertes Territorium fast ohne Gott und mit einem gottlosen Volk, wo die Remissionierungsversuche der Kirchen chancenlos bleiben. Um einen sich reproduzierenden Volksatheismus mit der vollen Bedeutung des Wortes Volk also. Auf der anderen Seite lassen die Initiativen der atheistischen Vereine sich aber deshalb nur mühevoll verwirklichen, auch weil es in den NBL eine Konfessionslosigkeit ohne starke aufklärerische Wurzel gibt. Insgesamt zeigt diese kurze Analyse, dass die Argumentation des Stuttgarter Gerichts zumindest in Bezug zu dieser ethnischen Begriffskomponente stark zu hinterfragen ist, danach gäbe es nämlich eine ostdeutsche Ethnie. Aber das gilt auch für andere dieser klassischen Komponenten.

Die Sache mit der Tradition

Gleich vorab müssen die Komponenten Kleidung und Ernährung für die Bestimmung einer Ethnie in großen Teilen der heutigen Welt abgelehnt werden. Wer sich in Europa, aber auch sogar in vielen außereuropäischen Ländern, umsieht, dem muss die Lächerlichkeit dieser veralteten Eigenständigkeitskriterien sofort auffallen. In keinem der zunehmend monströs wirkenden Einkaufstempel gibt es noch irgendwelche Spuren eines eigenständigen Kleidungsangebots. Und von McDonald, KfC, Bürgerking, Pizza King, Baguetten- und Dönerbuden, etc. wollen wir gar nicht reden. Auch die Sprache ist kein Alleinstellungsmerkmal mehr, seitdem z. B. Russlanddeutsche ohne Deutschkenntnisse zu der deutschen Ethnie gerechnet werden. Bleibt die Tradition.

Um die Problematik dieses Kriteriums gleich zu begreifen, brauchen wir nur die Diskussion über das aus dem Begriff Tradition abgeleiteten Unwort Leitkultur aufzurufen. Wer bestimmt und weshalb die Zusammensetzung dieses Traditionskomplexes? Welche Verhaltensmuster, Biografien, Glaubensvorstellungen, Weltanschauungen, Sprachen etc. sind dafür in der Zeit bestimmend? Und ab wann gelten sie als traditionell? Das alles wird weitgehend durch die Deutungshoheit der vorherrschenden Ideologie mit der ihr entsprechenden Normgebung bestimmt. Das Traditionskriterium führt so in der Regel zu einer konservativen bis hin zu einer fundamentalistischen Deutung und Wertung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses. Ausreichende Problemstellungen also, um die juristische, aber vielleicht auch soziologische Anwendung dieses Begriffes aufklärerisch infrage zu stellen.

Der Existenznachweis einer Ethnie kann nur schwer von dieser ideologischen Last der Tradition befreit werden. Dazu müsste, anstatt von nur rückwärtsgerichtetem Wurzelwerk, eher Entwicklung, inklusive ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Phasen berücksichtigt werden. D. h. es muss stattdessen von der Eigenständigkeit und Reproduktionsfähigkeit der heute objektiv bestehenden kulturellen und sozioökonomischen Verhaltensweisen und Anschauungen der infrage kommenden sozialen Gruppe ausgegangen werden. Die dann genau nachweisbar zurückgeführt werden können auf gemeinsam gemachte und erwirkte Erfahrungen, Werten, ethische und moralische Normen sowie kulturelle Prägungen während dieser Entwicklung. Wenn es sich also um eine sich relativ eigenständig entwickelte Lebenswelt des Heutigen handelt. Die Wurzeln dieser Lebenswelt reichen dabei von der Urgesellschaft über die modernen gesellschaftlichen Systeme bis in das Heute. In diesem Sinne ist entweder die Beantwortung der Frage nach der ostdeutschen Ethnie ganz anders zu strukturieren als auf der Traditionsbasis oder die Ethnie durch einen weniger belasteten Begriff zu ersetzen. Eine derartige, nicht unmittelbar an Tradition gebundene Analyse, würde die heutige sozialökonomische Lage der ostdeutschen Bevölkerung und die Faktoren Diskriminierung und Ungerechtigkeit als zentrale Kriterien zu behandeln haben. Konkret wären das für Deutschland die Verhältnisse innerhalb und zwischen den zwei unterschiedlichen Lebenswelten, die nach der Wende zusammenstießen. Obwohl dann der Begriff Ethnie im klassischen Sinne nicht mehr zu verwenden wäre.

Das Gefühl der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit

Im Prozess der Vereinigung der zwei Teilstaaten war es die Lebenswelt der Ostdeutschen, die sich an vollständig neue Lebensweltbedingungen anpassen musste. Obwohl das Stuttgarter Gericht die 40 Jahre der DDR-Existenz als nicht hinreichend für die Bildung einer Ethnie betrachtete, wird jedoch kein ernstzunehmender Soziologe diese Zeitspanne als nicht ausreichend für die Bildung eines besonderen und realen Sozialisationsprozesses halten. Mindestens drei Generationen machten Erfahrungen, bildeten Werte und moralische Normen, erhielten kulturelle Prägungen durch ein System, das sich in seinen meisten Teilen grundsätzlich vom neuen unterschied. Um nur einige der prägenden komplexen Faktoren dieser Sozialisation zu nennen:

  • Die offiziell propagierten Normen der sogenannten sozialistischen Moral bzw. Sozialismusutopie bei Besitz, Verteilung und gesellschaftlichen Beziehungen einerseits und die fast risikolose Gleichgültigkeit gegen Eigentum und Vermögen sowie die Solidarität der Mangelwirtschaft andererseits
  • Die Versorgungsmentalität mit ihrer Staatsgläubigkeit, die allumfassend gesicherte soziale Existenz einerseits, aber das fehlende Karrierestreben und die Passivität hinsichtlich innovativer Lösungen andererseits
  • Der Glaube an die sogenannte führende Rolle der Arbeiterklasse und ihre Selbstwertgefühle einerseits, aber die fehlende soziale und politische Mitbestimmung andererseits sowie die daraus folgende gesellschaftliche Resignation
  • Die mythologisierte Einstellung zur Arbeit und Betrieb einerseits, aber die undisziplinierten Einstellungen zu den Abläufen des Arbeitsprozesses, zu den Leitungsorganen der Produktionsprozesse und zur Hierarchie in der Arbeitswelt überhaupt.
  • Etc.

Folge dieser konfliktreichen Sozialisation war und ist, dass die Ossis sich nur sehr schwer in die neue Welt mit ihren insbesondere veränderten und entfremdeten Eigentumsverhältnissen integrieren konnten und können. Zusammen mit den Erfahrungen, die unmittelbar mit den Ereignissen um den Fall der Mauer und mit der Auflösung des DDR-Staates zusammenhängen, sind sie prägende Bestandteile des ostdeutschen Selbstverständnisses. So entstand ein weitverbreitetes Diskriminierungs- und Ungerechtigkeitsgefühl. Laut einer Umfrage des Thüringer Monitors fühlten 55 % der ostdeutschen Befragten sich 2008 durch die Westdeutschen diskriminiert und unter den Befragten im Alter von18 bis 24 Jahre erhöht sich die Zahl auf 75 %. Die Integration war nur für 25 % der Befragten persönlich erfolgreich (unter 35 Jahren 40 %). Insbesondere die frühere Elite (Elite hier im Sinne der sozialen Gruppe die durch ihre Qualifikation funktions- und nicht machtbedingte Leitungstätigkeit ausübte) leidet unter diesem Diskriminierungsgefühl, da sich 1997 noch 60 % der Befragten als solche betrachteten, 2010 diese Quote aber auf nur 30 % sank. Die Vertretung von Ostdeutschen in den Leitungsorganen der noch bestehenden Mittel- und Großunternehmen bzw. Wirtschaftsgremien tendiert zu Null! Die Menge der Befragten, die sich nicht zur Mittelschicht, sondern zur Arbeiterschicht zugehörig fühlen, ist in den Neuen Bundesländern dann auch 2,6-mal größer als in den alten Bundesländern.

Diese sozialökonomische Situation ist genau entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze charakteristisch für die ganzen Neuen Bundesländer (NBL) und bildet für das ethnische Thema eine gesicherte territoriale Basis. Frau Gabriela S. ist somit ein individueller Bestandteil einer realen kollektiven Diskriminierung. Da diese Gruppe gerichtlich aber nicht das Prädikat Ethnie zugesprochen wird, bleibt sie ungeahndet. Eine doppelte Diskriminierung oder eher eine Folge des Ethnienbezugs?

Die sozialökonomische Wir - Bildung

Das Diskriminierungsgefühl ergibt sich in den NBL klar und deutlich nicht aus dem Bestimmungsmerkmal der ethnischen Tradition, sondern aus der Entwicklung seit der sogenannten Wiedervereinigung. Im Rahmen des generellen Prozesses der sozialen Erosion in Deutschland bildet die Entwicklung in den NBL eine besonders verschärfte Form. Verbunden mit der de facto politischen Diskriminierung als wahlberechtigte Minderheit führt die gefühlte soziale Diskriminierung zu dem Entstehen eines emotionalen Wir-Gefühls. Für viele Soziologen ist dieser jetztzeitig bezogene Prozess der Kern der Ethniebildung: Eine Ethnisierung des Sozialen, die zu einem ethnisch geprägten Wir- Gefühl führt (vgl. Prof Scherr). Ob das dann noch eine Ethnie in klassischem Verständnis ist, ist zunächst irrelevant. Wichtig ist, dass aus einer gegenwärtigen unsozialen Entwicklung ein Wir-Gefühl entsteht. Selbstverständlich existiert neben diesem allgemein verbreiteten Gefühl noch das der regionalen Identitäten, aber die sind auch in dem klassischen Ethnienbegriff enthalten. Beispielhaft für ähnliche Fälle in der Welt wird in den NBL somit die überdachende und grundlegende Rolle der sozialökonomischen Situation einer sozialen Gruppe für die Bildung eines Wir-Gefühls sichtbar. Und dies unabhängig von ihrer regional differenzierten Zusammensetzung sowie über administrativ nicht einheitliche Territorien.

Um nun der mit dem Begriff Ethnie zusammenhängende Inkompatibilität des beschriebenen Entwicklungsprozesses zu entgehen, wäre es sinnvoll in diesem Kontext den Begriff „Ethnie“ durch den Begriff „soziale Identität“ zu ersetzen. Letzterer ermöglicht einen Diskriminierungsbezug, der sich nicht nur aus der klassischen Tradition ableitet, sondern insbesondere gegenwärtige Entwicklungen mit ihren spezifischen eigentumsbedingten Verhältnissen einbezieht. Er wäre dadurch flexibler und anpassungsfähiger sowie zukunftsoffen. Er ist nicht nur gruppengebunden, sondern ermöglicht auch die Verknüpfung mit individuellen Charakteristika.

Startete die Wende unter der Losung „Wir sind das Volk“ und wurde dann schnell durch ein vielversprechendes „Wir sind ein Volk“ abgelöst, so scheint dieses Versprechen nicht mehr zu stechen. Durch die soziale Wir-Bildung kommt es in Ostdeutschland vielerorts wieder zu Überlegungen, wer nun hier das Volk wirklich sei. Das kann für die Entwicklung der Demokratie positiv sein, kann aber in seinem Fortschreiten auch zu einer wirklichen Ethnisierung des Sozialen führen, welche die vorher skizzierten Gefahren der Ethnisierung gesellschaftlicher Prozesse auslösen kann. Ein Wir-Gefühl beinhaltet immer ein Wir – Sie Verhältnis. Die Ethnisierung durch soziale Konflikte kann sehr schnell zu verschärften gegenseitigen bzw. feindlichen Exklusionskämpfen führen. Ob diese fruchtbringende Lösungen für die in Deutschland bestehenden Probleme bergen, ist fraglich. Als Beispiel für einen in dieser Hinsicht ausweglosen Weg kann die heutige Situation in Belgien gelten. Ebenso illustrativ dafür sind die Konflikte aus der gescheiterten Integration der Immigranten und ihre zunehmende isolierende Selbstethnisierung. Ob es zu einer vollen Ethnisierung des Wir-Gefühls kommt, ist abhängig von dem Weg, welchen dieser Prozess in Ost- und Westdeutschland nehmen wird.

Unsichere Prognosen der Wir-Entwicklung

In seinem Vortrag entwickelte Dr. Th. Koch drei mögliche Varianten der Entwicklung des Wir-Gefühls in den NBL und daher, im Kontext mit den gegenseitigen Exklusionsverhältnissen, implizit in ganz Deutschland: ihre Erosion, ihre erweiterte Reproduktion und ihre Transformation.

Grundlage der Erosion wäre eine beschleunigte ökonomische Entwicklung der NBL, welche die sozialen und kulturellen Differenzen zwischen den zwei Landesteilen aufhebt und eine uniforme Lebenswelt herstellt. Die neue Ostgeneration würde dann voll in der BRD angekommen sein und die ältere Generation würde moralisch kapitulieren, so ähnlich wie das mit den nordamerikanischen Südstaaten geschah. Die DDR hat es dann nicht mehr gegeben. Diskriminierungen auf der Basis der sozialen Identität wären obsolet.

Unter der erweiterten Reproduktion des Wir-Gefühls versteht Dr. Koch, dass bei einer sich durchsetzenden selbstragenden Wirtschaft des Ostens eine Lebenswelt entsteht, die „die DDR im Rücken“ hat. D. h. mit einer eigenständigen Mittelschicht und Elite würde eine alternative Lebenswelt entstehen, die bestimmte Elemente der DDR mitdenkt und reproduziert. Ähnlich wie in Flandern oder im Baskenland könnten so Potenziale einer unabhängigen Entwicklung zur Wiederbelebung der alten Konföderationsidee bzw. u. U. zu Sezessionsbestrebungen führen. Letzteres ist aber unwahrscheinlich, weil es den NBL an den dafür notwendigen politischen Kräfte fehlt und weil die demografische Situation es kaum erlaubt. Trotzdem ist es eine Ebene, welche den Kampf um neuartige Entwicklungsrichtungen ermöglicht.

Letztlich, als eine eher utopische aber deshalb dringend notwendige Version: Die Transformation des Wir-Bewusstseins. Unter den Druck der sich global verändernden Umwelt- und Ressourcensituation muss die BRD als Ganze zu einem paradigmatisch veränderten Wachstumsmodell übergehen. Dieses Modell kann nur als Projekt eines grundlegenden sozialökologischen Umbaus verstanden werden, wo der Abbau jeglicher Exklusion, Diskriminierung und Ungleichheit die Hauptbedingung für eine nachhaltige Entwicklung darstellt. Nur so könnte ein Wir-Gefühl in gesamtdeutscher, ja europäischer oder sogar weltweiter Dimension geschaffen werden. Eine individuelle und kollektive Selbstbestimmung auf der Grundlage der universellen Menschenrechte und ohne die Last der ethnischen Auseinandersetzungen wäre so möglich.

Schlussfolgerungen

Als Fazit wird deutlich, dass die Frage, ob Ossis ethnisch diskriminiert werden können, eine falsche Problemstellung ist. Für eine Klage auf Diskriminierung lässt sich der ethnische Bezug nicht nutzen. Auch wenn die Ossis nach einer moderneren Interpretation des Ethniebegriffs eine Ethnie wären, kann die Bindung der Diskriminierung an eine Ethnie nie das Wesen der Diskriminierung selbst aufheben. Diskriminierung, genau wie Ethnisierung, ist vor allem eine Folgeerscheinung der sozialen Ungleichheit. Sie bildet unabhängig von allen ethnischen und soziokulturellen Erscheinungen einen Normalfall für das heutige Wirtschaftssystem. Alle Antidiskriminierungsprogramme, inklusive der diesbezüglichen Gesetze und Rechtsprechung, haben daher nur als Ziel, die individuellen Folgen der sozialen Diskriminierung und Ungleichheit in der Gesellschaft zu mildern, aber nicht die Ursache zu beseitigen. Dies entspricht eindeutig der Interessenlage bestimmter herrschender Kreise der modernen Gesellschaft.

Der Gerichtsentscheid bringt diese Widersprüchlichkeit klar zum Ausdruck. Er basiert auf dem „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)“, das aber gegenüber den mehr universellen Gültigkeitsbestimmungen des Grundgesetzes die Diskriminierungsgründe eindeutig eingrenzt. Ein Diskriminierungsverbot wegen geographischer Herkunft wäre auf der Basis des Art. 3 Abs. 3 GG möglich, nicht aber im Sinne des AGG, das nur ethnische Diskriminierung vorsieht. Diese Eingrenzung schreibt die obige Auslegung der Diskriminierung für die Gerichtsbarkeit tautologisch fest. Kehrt man die Eingrenzung nämlich um, dann sind alle nicht erwähnten Gründe gestattet. Insbesondere dann alle sozialökonomischen Diskriminierungen.

Frau Gabriela S. ist somit klar und deutlich ein Diskriminierungsopfer, zunächst wegen ihrer sozialen Identität als Ossi, aber viel grundsätzlicher als eine Frau, die um ihre Existenz zu sichern, gezwungen wird, die systemischen Spielregeln des heutigen Wirtschaftssystems zu akzeptieren. Um in der Zukunft Fälle wie der der Frau S. zu verhindern, muss ein erster Schritt hinsichtlich der notwendigen paradigmatischen Transformation des Wir-Gefühls gesetzt werden. Es sollte die einschränkende, einseitige Bindung der Diskriminierung an ethnische, kulturelle oder religiöse Gründe beseitigt werden, indem an erster Stelle ihre Bindung an sozialökonomische Gründe gesetzt wird.

Rudy Mondelaers