Die rosarote Brille des Aufsteigers

warten_by_rike_pixelio.de__0.jpg

Warten / Foto: Rike (pixelio)

WIEN. (hpd) Die deutschen und österreichischen Probleme mit der Einwanderung vergangener Jahrzehnte haben mitnichten mit einem zu viel an staatlichen Transferleistungen zu tun. Das zu leugnen ist der Blick durch die rosarote Brille des Aufsteigers. Eine Replik auf den Kommentar von Edgar Dahl von Christoph Baumgarten.

New York City, das Paradies für Migranten. Auf den ersten Blick stimmt das. Die Leichtigkeit, mit der US-Amerikaner häufig mit Migranten-Ghettos umgehen, die sich Little Italy oder Chinatown nennen, besticht durchaus. Die amerikanische Gesellschaft hat nicht den Reinheitswahn, der in den Wortmeldungen der Sarrazins dieser Welt zutage tritt. Man ist sich – häufig - bewusst, dass das Land von Einwanderern aufgebaut wurde. Sofern man an der Ostküste lebt. Selbst dort hat Liberalität ihre Grenzen.

Es gibt auch in New York City Ghettos, die die Bewohner als weit weniger charmant empfinden. Und die man mit den türkischen Ghettos von Berlin vergleichen kann. Harlem etwa. Weit weniger gefährlich als sein Ruf, aber das tut wenig zur Sache. Dort leben Menschen, denen man die gleichen Dinge nachsagt wie den Türken in Deutschland und Österreich. Dass sie vom Sozialstaat leben, fallweise auch von Kriminalität, dass sie Bildung verweigern und gewaltbereit sind. Dass die Männer Machos sind und dass sie Parallelkulturen entwickeln, die im besten Fall in den Mainstream eingehen und sie im schlimmsten Fall, der meistens gegeben ist, vom Rest der Gesellschaft abschotten. Und das seit gut 150 Jahren.

Man könnte einwenden, dass Afroamerikaner nicht wirklich freiwillig in die USA eingewandert sind. Das ändert nichts an den Parallelen zur türkischen Community in Deutschland und Österreich. Im Diskurs wie im realen Leben. Beides sind Gruppen, die sich in zwei Faktoren wahrnehmbar von dem unterscheiden, was sich als Mehrheitsbevölkerung empfindet. Bei den Afroamerikanern ist Faktor Nummer eins die Hautfarbe, bei den Türken ist es die formale Religionszugehörigkeit. Faktor Nummer zwei ist bei beiden, dass sie anhand aller sozioökonomischen Kriterien vom Durchschnitt der Gesellschaft abweichen. Die Abweichungen ähneln sich frappant: Schlechtere Bildung, schlechtere Jobs, noch schlechtere Bezahlung, schlechtere Aufstiegschancen, der Anteil, der Gruppe, der Sozialtransfers empfängt ist ein vielfaches höher als der der Durchschnittsgesellschaft, eine durchschnittlich höhere Kinderanzahl, eine höhere Kriminalitätsrate und das Elend wird über Generationen weitergegeben.

Was beweist das? Dass sozial deklassierte Gruppen von Menschen signifikant von der Durchschnittsbevölkerung abweichen. Die gleichen Aussagen treffen in gleichem Maße auf weiße bzw. deutschstämmige Mitglieder der gleichen ökonomischen Schicht zu, der Afroamerikaner bzw. Türken mehrheitlich angehören.

Natürlich kann man die Sarrazinsche „Logik“ anwenden und mithilfe willkürlicher Statistiken zu illustrieren versuchen, dass der soziale Status der Betroffenen mit deren gemeinsamen Merkmalen zu tun hat. Gemäß dieser Logik sind die Türken selber schuld, weil sie eben Türken sind. Die türkische Kultur ist nun mal unveränderlich, da kann man nichts machen. Das darf man mittlerweile sagen, ohne als Rassist zu gelten. Würden sich ein Thilo Sarrazin oder ein Edgar Dahl trauen, das gleiche auf die gleichen Tatsachen gestützt und der gleichen Logik folgend über Afroamerikaner zu sagen? Wenn sie sich selbst ernst nehmen, müssten sie das. Ihr Denkmuster lässt keine Alternativen zu. Außer, sie argumentieren mit der prinzipiellen Unvergleichbarkeit der Situation in den USA. Nur darf man dann nicht die USA willkürlich als Vorbild herausgreifen. Zumal selbst in Bezug auf Migranten im engeren Sinn die Lage in den USA bei weitem nicht so rosig ist wie Edgar Dahl glaubt. Man betrachte nur, wie mexikanische Einwanderer leben.

Was hinter diesen Aussagen steckt, ist weniger direkter Rassismus. Es ist die rosarote Brille des Aufsteigers, der seinen sozialen Status als eigenen Verdienst erlebt, seine Lebenswelt und seine Lebenseinstellungen als die einzig möglichen sieht. An der hohen Steuerlast sind seiner Meinung nach nicht die Schuld, die keine Steuern bezahlen sondern die, die Sozialtransfers beziehen. Dass Löhne und Gehälter stagnieren ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Besitzenden seit Jahrzehnten einen immer größeren Teil des Erwirtschafteten einbehalten sondern liegt, wie es Sarrazin formuliert, an der mangelnden Leistungsfähigkeit der Bevölkerung, also vor allem der „Unterschicht“. Dass diese Annahmen unwichtigen Details wie der Wirklichkeit widersprechen – wen kümmert das, wenn man einen Sündenbock hat? Allein anzunehmen, dass man mit mehr Kindern von Hartz IV besser leben könne als mit einem Arbeitsplatz zeigt, dass man keine Ahnung hat, wie Hartz-IV-Bezieher leben.

Ebenso Unfug ist die Behauptung, Menschen würden wegen der Sozialsysteme etwa nach Deutschland oder Österreich einwandern. Wer keinen Arbeitsplatz hat, bekommt keine Aufenthaltsgenehmigung. Und wenn man die Familie nachholt, muss man sie selbst erhalten. Sozialleistungen gibt es für Migranten im Regelfall erst, wenn sie jahrelang in ihrer neuen Heimat gearbeitet haben und den Job verlieren. Bis dahin ist – wie in den USA – „jeder seines Glückes Schmied“.

Man kann diese Haltung als Snobismus bezeichnen, der zu indirektem Rassismus führt. Die Welt wird so lange zurecht gebogen, bis man jemandem die Schuld geben kann, der sich nicht wehren kann. Wenn man selbst sozialer Aufsteiger ist, ist die Versuchung besonders groß, das an denen festzumachen, die den Aufstieg strukturell nicht schaffen. In Österreich wie in Deutschland sind das Migranten, vor allem türkische. In den USA eben Afroamerikaner.

Deren vergleichbare Probleme lassen sich auf vergleichbare Art lösen: Das Strafrecht überdenken, das kleine Eigentumsdelikte verhältnismäßig hart bestraft, leistbare Wohnungen schaffen (das verhindert Ghettobildung) und vor allem kluge Bildungsprogramme starten, die die soziale Diskriminierung in den Schulen beenden. Klassische Sozialpolitik, wie sie in Österreich und Deutschland seit Jahrzehnten kaum mehr betrieben wird. Und: Gegen Diskriminierung und diskriminierende Diskurse vorgehen. Akademiker mit türkischen Namen sollten die gleichen Chancen auf Vorstellungsgespräche und Jobs haben wie Akademiker mit typisch deutschen oder österreichischen Namen.

Das bedeutet auch, die Fehler der Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte aufzuarbeiten. Der Hauptfehler war, dass man davon ausging, dass die Integration in den Betrieben passieren würde. Das hat ein Subproletariat ohne Aufstiegschancen und Perspektiven geschaffen. Das ist kein Plädoyer gegen eine bessere Migrationspolitik. Selbstverständlich wäre es einfacher, wenn nach Mitteleuropa nur Menschen mit guter Ausbildung kämen, die gutbezahlte Arbeitsplätze finden. Nur, wie in den USA, wird man nicht verhindern können, dass auch Menschen kommen, auf die das nicht zutrifft. Wenn man sie weiter behandelt wie in den vergangenen Jahrzehnten, vergrößert man nur das Subproletariat und das soziale Ungleichgewicht in einer Gesellschaft. Was das gebracht hat, sehen wir.

Wenn wir die sozialen Probleme lösen wollen, die sich in migrantischen Communities erhöht manifestieren, müssen wir die Ursachen anpacken. Und nicht in Schuldumkehr den Betroffenen die Verantwortung zuschieben.