Ohne Gott ist alles erlaubt? - Zahlen

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Conquistadores / Fotos: wikipedia

(hpd) Das Argument, laut dem Atheisten die schlimmsten Mörder der Geschichte seien, kommt oft, wenn die historischen Verbrechen des Christentums oder anderer Religionen in einer Diskussion aufgezählt werden. Doch religiös motivierte Völkermorde waren in der Menschheitsgeschichte weltweit verbreitet. Hier sind einige Beispiele.

Die Vertreter des Arguments der besonderen Blutrünstigkeit des Atheismus behaupten gern, dass die atheistischen Diktaturen mehr Menschen getötet hätten, als alle religiösen Verbrecher in der Menschheitsgeschichte zusammengenommen. Eine absolute Opferzahl für die kommunistischen Staaten wird dabei nicht genannt. Das Schwarzbuch des Kommunismus etwa spricht von 94 Millionen Toten (eine Einschätzung, der sich beispielsweise die Europäische Union angeschlossen hat) während andere Historiker von bis zu 150 Millionen Toten ausgehen.

Zusätzlich wird dabei oft vernommen, dass sich die Brutalität der Welt, in der wir leben, über die Jahrhunderte immer weiter gesteigert hätte. Auch die schlimmsten Massaker des Mittelalters, wie beispielsweise die Kreuzzüge hätten „nur“ zehntausende Opfer gefordert, während sich erst in der Zeit nach der französischen Revolution die Abgründe der Menschheit auftaten.

Doch auch wer denkt, dass nie derart effektiv gemordet wurde, wie in Auschwitz, irrt. Steven Pinker, Professor in Harvard und einer der führenden Vertreter der noch jungen Disziplin der Evolutionspsychologie, weist derartige Thesen in das Reich der Legenden zurück. Unter Einbeziehung der statistischen Methode kommt er zu dem Schluss, dass die Menschheit ganz im Gegenteil immer humaner wird. Zwar mögen einzelne mittelalterliche Kriege von den Opferzahlen her nicht an die Weltkriege heranreichen, aber dennoch waren frühere Epochen der Menschheit blutiger. Zum einen fielen die indirekten Kriegsfolgen in früheren Zeiten verheerender aus, zum anderen gipfelten Konflikte nicht in einzelnen großen Auseinandersetzungen, sondern in vielen, sehr viel häufiger auftretenden, Geplänkeln. Und nicht zuletzt dürfen die niedrigen absoluten Opferzahlen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie relativ gesehen bei nur geringer Bevölkerungszahl im Mittelalter umso stärker ins Gewicht fallen. Tatsächlich kommen seit den 1960er Jahren so wenige Menschen wie nie zuvor in zwischenstaatlichen Kriegen ums Leben – was aber nicht erklären kann, warum angeblich im vergleichsweise friedlichen 20. Jahrhundert ausgerechnet die Atheisten die schlimmsten Mörder gewesen sein sollen.

Neunzehn Jahrhunderte lang Mord und Zerstörung

Die Behauptung, dass Atheisten mehr Menschen getötet hätten, als alle Religionen zusammen, kann nicht ernst genommen werden. Denn während die Atheisten nur das 20. Jahrhundert hatten (und auch dies nicht zur Gänze in Bezug auf Zeit und Raum) konnten Religiöse immerhin neunzehn Jahrhunderte lang morden. (Die vorchristliche Zeit wird in diesem Falle komplett ausgespart.) Beispielsweise fielen den spanischen Konquistadoren im 16. Jahrhundert bis zu 50 Millionen Indios in Südamerika zum Opfer. Die Ureinwohner wurden ermordet, zur Sklaverei in Lager geschickt oder erlagen den eingeschleppten Seuchen, die sich für die genetisch isolierte Population verheerend auswirkten. Anfangs wussten die Kolonialherren nicht um die Wirkung der Krankheitserreger, später setzten sie sie gezielt als biologische Waffe ein.

Die katholische Kirche entsandte Missionare in die neue Welt, die oft die Tempel der Azteken und Inka niederreißen ließen und nur selten Einspruch gegen die Massaker erhoben. Die enorme Lücke, die die spanische Expansion in der Bevölkerung aufgerissen hatte, wurde bald darauf von den Portugiesen aufgefüllt, die mehrere Millionen Afrikaner als Sklaven nach Amerika verkauften. Mehrere Millionen Menschen verendeten auf den Schiffen. Die Landnahme der Spanier und Portugiesen wurde von Papst Alexander VI. gerechtfertigt, der im Vertrag von Tordesillas eine Demarkationslinie festlegte, die die Welt in eine spanische und eine portugiesische Einflusssphäre teilte.

Wie sollen die Religiösen weniger Menschen getötet haben, wenn ihnen noch 18 weitere Jahrhunderte zur Verfügung standen? Man müsste allerdings fairerweise die vorherigen Verbrechen ausblenden, da Atheismus im Mittelalter eine absolute Minderheitenposition darstellte. Schließlich hatten die Atheisten ja erst ab 1917 die Gelegenheit, mit ihren Morden zu beginnen. Daher sollte man nur innerhalb des 20. Jahrhunderts einen Vergleich zwischen Atheismus und Theismus ziehen.

Der Verweis auf Opferzahlen ist allerdings eine äußerst schwammige Argumentationsweise. Teils werden die Toten von Nationalsozialismus und Kommunismus addiert, um auf besonders Schrecken erregende Zahlen zu kommen. Dabei wird ein folgenschwerer Fehler begangen, denn es kommt zu Überschneidungen. 1945 wurden mehrere Millionen Deutsche vertrieben – mehr als zwei Millionen von ihnen starben. Ermordet wurden sie von Stalins Truppen, doch hätte Hitler den 2. Weltkrieg nicht begonnen, hätten sie überlebt. Welchem Opferkonto die Toten angerechnet werden sollen, ist nicht klar ersichtlich.

Nationalsozialismus war nicht atheistisch

Zunächst ist es falsch, die Verbrechen des Nationalsozialismus in die Nähe des Atheismus zu rücken. Eine detaillierte Beweisführung über die Verstrickung der europäischen Christen muss hier der Kürze wegen unterbleiben, doch an Folgendes sei erinnert: Sowohl die evangelischen Kirchen Deutschlands wie auch die katholische Kirche Frankreichs verfassten Vergebungsbitten, in denen sie ihre Kollaboration mit den Faschisten bedauerten. Die katholischen Bischöfe stellen sich mehrheitlich nicht der Vergangenheit ihrer Vorgänger. Als Ausnahmen seien die Bischöfe Mussinghof, Fürst und Jaschke genannt, die eine Mitschuld der Kirche am Nationalsozialismus anerkannten. Mehr Ehrlichkeit vorausgesetzt, müssten auch andere Kirchen diesen Schritt nachvollziehen.

Bekennende Atheisten finden sich keine in der Führungsebene des Dritten Reichs. Und auch im übrigen Europa ließen die Faschistenführer keine Gottesferne vermuten. Der norwegische Kollaborateur Quisling war Pastorensohn, der ungarische Judenmörder Szalasi behauptete, den Katholizismus mit der Muttermilch aufgesogen zu haben und der slowakische Staatspräsident Tiso war gar Priester. Nach Ende des Krieges war der Vatikan, der den Holocaust nie eindeutig verurteilt hatte, daran beteiligt, hunderten faschistischen Massenmördern die Ausreise nach Südamerika zu ermöglichen. Auch die muslimischen Völker der Albaner, Bosniaken und Krimtataren, sowie der Großmufti Jerusalems beteiligten sich am Kampf gegen das „Weltjudentum“.

Mit dem Zweiten Weltkrieg auf Seite der Theisten beginnt die Behauptung, dass die Atheisten zu den schlimmsten Mördern zählen, zu bröckeln. Neben dem Zweiten Weltkrieg war nämlich auch der Erste alles andere als gottesfern. In jedem europäischen Land begrüßten die Kirchenoberen das Sterben in den Schützengräben, während die christlichen Armenier zu Hunderttausenden von den muslimischen Türken ermordet wurden. Weiterhin gab es auch in anderen Kulturkreisen verlustreiche Schlachten. Der Krieg zwischen den muslimischen Pakistanern und Bengali sowie den hinduistischen Indern forderte über die Jahrzehnte Millionen von Toten.

Beispielbild
Völkermord Armenier durch Türken
Heilige muslimische Kriege

Überhaupt ermordeten Muslime in ihren heiligen Kriegen von Marokko bis Malaga unzählige Menschen. Einer von ihnen war Suharto, der in Indonesien fast eine halbe Million Chinesen sowie Hunderttausende Timoresen ermordete. Unterstützt wurde er dabei von den USA, die sich seit jeher als „God’s Own Country“ verstanden. Unter ihrem Napalm, Agent Orange und konventionellen Bomben starben in Vietnam, Laos und Kambodscha an die fünf Millionen Menschen. Auch an die amerikanische Unterstützung mehrerer gewiss nicht atheistischer Regime in Mittel- und Südamerika sei erinnert. Und zu „guter“ Letzt darf der schwarze Kontinent nicht vergessen werden, auf dem es nur wenige Atheisten, dafür aber umso mehr Bürgerkriege gibt. Außerdem trägt dort das religiös begründete Kondomverbot ein Übriges zur AIDS-Pandemie bei.

Aber auch christlich geprägte demokratische Staaten, in denen politische Gegner nicht verfolgt wurden, taugen nur schlecht um eine moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Im katholischen Brasilien starben beispielsweise im Zeitraum von 1979 bis 2003 ca. 500.000 Menschen durch Kriminalität. Die USA übertreffen diese Zahl bei weitem, wenn man den Beobachtungszeitraum auf das gesamte Jahrhundert erweitert. In Brasilien sind Atheisten heute immer noch eine vernachlässigbar kleine Minderheit, in den USA waren sie es über weite Teile des 20. Jahrhunderts und können auch heute kaum mehr als 10 % der Gesamtbevölkerung beanspruchen. In beiden Staaten lehnen vor allem die gebildeten Schichten, die für gewöhnlich eher selten im Streit zur Waffe greifen, den Glauben an Gott ab. Daher sind Atheisten in den US-amerikanischen Gefängnissen deutlich unterrepräsentiert.

Des Weiteren ergibt sich aus der Tatsache, dass die Hungersnöte in den kommunistischen Staaten mit einberechnet werden, eine weitere Verzerrung. Natürlich kann nicht abgestritten werden, dass die Hungersnöte durch die verfehlte Wirtschaftspolitik herbeigeführt wurden und die Regierungen nur sehr begrenzt dazu in der Lage waren, das Unglück zu erkennen, dem sie ihre Bürger aussetzten. Doch Hungersnöte gab es bereits vor der Herrschaft der Kommunisten (wenn diese auch längst nicht so verheerend ausfielen). Die Schuld hierfür also ausschließlich bei den Kommunisten zu suchen, ist verkehrt.

Opferstatistiken variieren stark

Es erscheint absolut unmöglich, genau festzuhalten, welche Seite in absoluten Zahlen gemessen die größere Schuld auf sich geladen hat, da die Opferstatistiken stark variieren. Die Behauptung, dass atheistische Diktaturen prinzipiell besonders blutig seien, kann höchstens anhand von Einzelbeispielen untersucht werden. Aber auch dieser Ansatz kann kein eindeutiges Ergebnis liefern.

Qualität und Quantität der Verbrechen beider Seiten unterscheiden sich kaum, wie eine Milchmädchenrechnung zeigt. Eine Studie der britischen Agentur Opinion Research Business vom 28. Januar 2008 ergab, dass in den ersten 4,5 Jahren seit Beginn des Irakkrieges über 1.000.000 Menschen starben. Eine Erhebung des irakischen Gesundheitsministeriums (die allerdings nur die ersten drei Jahre des Krieges erfasste) kam hingegen auf 150.000 irakische Tote (zu denen man die Verluste der westlichen Staaten allerdings noch dazurechnen müsste). Stalin herrschte in der Sowjetunion fast 30 Jahre lang und konnte in seinem Machtbereich knapp zehnmal mehr Menschen zählen, als der Irak Einwohner hat. Hätten die stalinistischen Repressionen mit der gleichen Intensität wie der Bürgerkrieg im Irak stattgefunden, hätten sie ca.15-60 Millionen Menschen das Leben gekostet. Eine (vergleichsweise hohe) Opferzahl, die in Zusammenhang mit Stalin tatsächlich genannt wird.

In beiden Fällen müsste man die Veränderungen des stalinistischen Machtbereiches berücksichtigen. Beispielsweise standen weite Landstriche des europäischen Teils der Sowjetunion von 1941-1944 unter deutscher Kontrolle, wohingegen mehrere osteuropäische Staaten sich nach Kriegsende dem kommunistischen Primat unterwerfen mussten. Gleichermaßen waren aber die schiitischen, sunnitischen und kurdischen Regionen im Irak zu unterschiedlichen Phasen unterschiedlich stark betroffen.

Auch die Auswahl der Statistiken ist außerordentlich schwierig. Opinion Research Business wird als NGO vorgeworfen, aus der Ablehnung des Irakkrieges heraus die Opferzahlen zu übertreiben, während der Vorwurf in gleicher Form auf das irakische Gesundheitsministerium zurückfällt, dass durch die enge Bindung an die USA die Opferzahlen heruntergespielt haben soll. Genau die gleiche Diskussion wird über die Anzahl der Toten unter Stalin geführt.

 

Beispielbild
Ruanda: Nyamata Memorial Site
Törichte Argumentation mit Opferzahlen

In Relation gesehen lässt sich keines der beiden geschichtlichen Verbrechen zweifelsfrei als das verheerendere ausmachen. Dass die Zahlen, die für die kommunistischen Diktatoren genannt werden, sehr stark streuen, sollte stutzig machen. Vermutlich werden linke und rechte Historiker die Zahlen ihren politischen Vorstellungen angleichen. Unter diesen Bedingungen primär mit Opferzahlen zu argumentieren, ist töricht.

Wer meint, dass diese Beispiel leicht von der Hand zu weisen sei, da in beiden Fällen die Opferzahlen nur näherungsweise erhoben werden können und stark schwanken, sei auf ein weiteres Beispiel hingewiesen. Die Opferzahlen sowohl für die Diktatur Pol Pots wie auch die des Völkermords in Ruanda sind nur kleinen Schwankungen unterworfen. Die Massaker, die sich im christlichsten Land Afrikas innerhalb von nur 100 Tage ereigneten, stellen die Verbrechen des Staatschefs Pol Pot und des Vernichtungslagers Auschwitz (in relativen Zahlen) weit in den Schatten. Dass die Mordquoten des verheerendsten theistischen Massenmords ihren Gegenpart auf atheistischer Seite übertreffen, bedeutet natürlich nicht, dass der Theismus rein prinzipiell blutrünstiger als der Atheismus ist - die These, dass gottlose Verbrechen „geschichtlich einmalig“ seien, wird jedoch ausreichend entkräftet.

Lukas Mihr

 

(1) Ohne Gott ist alles erlaubt? (29. Juni 2011)
(2) Ohne Gott ist alles erlaubt? - Atheistische "Helden" (5. August 2011)
(3) Wer behauptet, Atheisten = Mörder? (12. August 2011)
(4) Trug die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie bei? Teil 1 (19. August 2011)
(5) Trug die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie bei? Teil 2 (26. August 2011)