Fluch der falschen Moral

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Norbert Denef in Rom 2010 / Foto: privat

SCHARBEUTZ. (hpd) Weil er die staatliche Justiz und Regierung bei der Aufklärung des Missbrauchs von Kindern außer Stande sieht, will Norbert Denef nun den deutschen Staat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an den Pranger stellen.

Das Ziel einer angekündigten Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland sind die Verjährungsfristen für Opfer von Verletzungen des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung – oft Missbrauch genannt. Die Fristen sollen endlich weg. Gegenüber der ZEIT sagte Denef gestern außerdem, er wolle von der Politik eine „Wahrheitskommission“.

Die Klageanträge aus Anlass von Straftaten der Vertreter der katholischen Kirche bei den internationalen Gerichtshöfen in Europa häufen sich allmählich. Nachdem Opferanwälte von Missbrauchsbetroffenen im vergangenen Februar eine 59 Seiten umfassende Strafanzeige gegen den Papst persönlich beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingereicht hatten, wird als Nächstes eine Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim EGMR in Straßburg eingehen.

Norbert Denef, Gründer und Sprecher des "Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt" (netzwerkB), kündigte in einem gestern veröffentlichten ZEIT-Interview einen entsprechenden Schritt des Netzwerks an. Auf die unzähligen Fälle vertuschten Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche während vergangener Jahrzehnte ist das Anliegen von netzwerkB nicht beschränkt; aber für Denef und viele andere bilden die schreckliche Ereignisse unter den Fittichen der Kirche  – genau dem Verein, welcher heute auch einer der größten und aus staatlichen Mitteln finanzierten Arbeitgeber in Deutschland ist – das tragende Motiv.

Die deutsche Regierung sei nicht bereit, „ihre politische Fürsorgepflicht gegenüber den Opfern sexualisierter Gewalt zu erfüllen“, bilanzierte jedenfalls Denef die Ergebnisse des Runden Tischs Sexueller Missbrauch.

Er wurde erstmals als 9-jähriger Messdiener im sächsischen Delitzsch von einen katholischen Pfarrer missbraucht. Das war 1958, in der DDR. Norbert Denef übt am Wort Missbrauch Kritik, „denn es handelt sich bei einem Menschen nicht um einen Gebrauchsgegenstand, den man auch gebrauchen könnte“. Er gab seine Erlebnisse 1993 im Familienkreis bekannt.

Die Sammelklage soll den deutschen Staat nun „für sein weiterhin massives Versagen im Hinblick auf den Schutz und die Entschädigung von Opfern sexualisierter Gewalt anprangern“, hieß es in einer gestern dazu veröffentlichten Erklärung.

Es wäre nicht das erste Schreiben dieser Art an den EGMR. Bereits 2009 reichte Norbert Denef eine Beschwerde ein, da aus Sicht des heute 62-Jährigen „die Bundesrepublik Deutschland ihre Verpflichtungen aus (…) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt, weil die zivilrechtlichen Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, die ihm nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch gegen den Schädiger zustehen, wegen der kurzen Verjährungsfristen nicht effektiv sind.“ Zuvor war eine 2007 von ihm eingereichte Petition an den Deutschen Bundestag auf Aufhebung der Verjährungsfristen im Zivilrecht vom zuständigen Ausschuss abgelehnt worden. Das Beschwerdeverfahren dagegen laufe noch, berichtete Denef im Interview mit der ZEIT.

Das Urteil Denefs über den Runden Tisch der Bundesregierung zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch, der am 30. November 2011 zum letzten Mal tagen will, könnte deutlicher kaum sein: „Gescheitert“ sei das Gremium. Denn erst auf Druck sei dieser Runde Tisch überhaupt zustande gekommen und er hob schließlich „die Kirchen in den Stand der Aufklärer, die dann zusammen mit der CDU den Kurs bestimmten, während die Opfer zuerst gar nicht repräsentiert waren“, doch damit durfte „die Täterorganisation Kirche das Signal aussenden: Wir klären auf!“

An ein redliches Aufklärungsinteresse der Kirche glaubt auch Denef nicht, weil sie „sonst endlich alle Akten offenlegen müsste.“ Und maßgeblicher Grund für das Scheitern des Gremiums sei der Unwille, die Verjährungsregeln anzutasten, erklärte er. Dabei erneuerte er die Kritik an Straf- und Zivilrecht in Deutschland, das den aktuellen Forschungsergebnissen zu sexuellem Missbrauch nicht genug Rechnung trage. Norbert Denef will nicht nur eine vorgesehene Anhebung von Verjährungsfristen für zivilrechtliche Entschädigungsansprüche auf 30 Jahre ab Tatzeitpunkt, sondern die vollständige Abschaffung.

„Im Zivilrecht sind die Fristen besonders absurd, weil es hier auch um Entschädigungszahlungen geht, für die die Spätfolgen der Tat einkalkuliert werden müssen. Spätfolgen zeigen sich nun einmal spät.“ Die Verjährungsfristen müssten völlig weg, damit „Opfer mehr Raum für die Verarbeitung der Taten“ erhielten. Und ohne diesen zeitlichen Raum fehlt nicht nur ein Entschädigungsanspruch, sondern auch der Staatsanwaltschaft die Handhabe. Trotz Anzeige greift die Verjährung, verhindert jede Möglichkeit zur Ermittlung. Es gehört im modernen Rechtsstaat zur Konsequenz des Katalogs der Grundrechte, die zu Tätern gewordenen Menschen zustehen – einem Verein wie einer Kirche hingegen nicht.

Für Norbert Denef und viele andere bietet auch die Sammelklage am EGMR, zunächst jedenfalls, nicht mehr als die Aussicht auf die nötige Aufmerksamkeit und eine ideelle Befriedigung. Denn das Grundgesetz sieht für rückwirkende Rechtsänderungen ein klares Verbot vor, was im Strafrecht in besonders strengem Maße gilt. Auch eine völlige Aufhebung für die Zukunft ist wenig wahrscheinlich.

„Wichtig ist uns dabei, dass die Gründe für das Schweigen der Opfer auch in der Art und Weise liegen, wie die Gesellschaft ihr Leid anerkennt. Diese Anerkennung muss durch eine machtvolle symbolische Geste bekräftigt werden“, so Denef in der ZEIT. Zur Beendigung des gesellschaftlichen Schweigens zum Thema Missbrauch würde er der Politik vorschlagen, „wir bilden eine Wahrheitskommission, die befugt ist, alle Missbrauchsfälle aufzuarbeiten, egal, ob sie verjährt sind oder nicht.“ So eine Aufarbeitung könnte das Leid schließlich wenigstens aufzeigen und dokumentieren. Doch dazu bräuchte die Kommission wohl die passenden gesetzlichen Ermittlungsbefugnisse, wo wieder die Verjährungsregeln relevant werden.

netzwerkB legte nun aus Anlass der vorläufig letzten Sitzung des Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch ein Positionspapier zu einem Gesetzentwurf vor, der ebenfalls das Aufhebungsvorhaben anpeilt. Darin heißt es: „Beide Verjährungsfristen sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht sind unangemessen, da Betroffene aus vielen wesentlichen Gründen nicht klagen können. Sowohl Angst, Scham, Selbstbeschuldigung, Abhängigkeit vom Täter als auch Verdrängung und Traumatisierung führen dazu, dass Betroffene, wenn überhaupt, sich erst im hohen Alter zu einer Klage durchringen können.“ Die Aufhebung sei „alternativlos“, heißt es im Papier. Ansonsten werde nach Auffassung von netzwerksB in inakzeptabler Weise der Täterschutz über den Opferschutz gestellt, wodurch die Opfer sich einmal mehr entwürdigt sähen. „Dies ist in keiner Weise hinnehmbar und kann nicht totgeschwiegen werden“, so das Netzwerk.

Die vom Runden Tisch der Bundesregierung für die Zukunft vorgesehenen Reformen reichen der Betroffenenvereinigung netzwerkB in jedem Fall nicht. Die Sammelklage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte soll Abhilfe schaffen, weil Norbert Denef und die vielen Betroffenen den Fluch der falschen Moral endlich abschütteln wollen. Im ZEIT-Interview fragte er: „Wohin sollen wir uns wenden, wenn wir uns von der Politik verraten fühlen?“

Arik Platzek