Feindbild Islam?

BERLIN. (hpd) Jürgen Todenhöfer war viele Jahre für die CDU im Bundestag. Er war Berater des CDU-Generalsekretärs. Er ist Christ und Fachmann für den ara­bi­schen Raum. Und er hat ein klei­nes, nur 64 Seiten dickes Buch geschrie­ben, das ihn als Gegen-den-Strom-Schwimmer aus­weist.

Ich gebe es zu: Aus der Feder eines CDU-nahen Mannes hätte ich die­ses Buch in die­ser Form nicht erwar­tet. Todenhöfer stellt “zehn Thesen gegen den Hass” auf, die ihn als pro­fun­den Kenner des Orients und Befürworter einer neuen Politik des Westens gegen­über der mus­li­mi­schen Welt aus­zeich­nen.

Der Westen ist viel gewalt­tä­ti­ger als die mus­li­mi­sche Welt. Millionen ara­bi­scher Zivilisten wur­den seit Beginn der Kolonialisierung getö­tet.

Zum Beweis führt Todenhöfer Zahlen an, die nur einen Bruchteil des­sen beleuch­ten kön­nen, was tat­säch­lich an Opfern zu bekla­gen ist. Er schreibt über Algerien, in dem die fran­zö­si­schen Besatzer bewusst mor­de­ten; er schreibt über den Irak, in dem das Morden noch anhält. “Welch ein pro­pa­gan­dis­ti­sches ‘Meisterwerk’, wenn sich der Westen nun als Opfer der Gewalttätigkeit der mus­li­mi­schen Welt dar­stellt, der lei­der immer wie­der in die roh­stoff­rei­chen mus­li­mi­schen Länder ein­mar­schie­ren müsse, um in Frieden und Freiheit leben zu kön­nen!” [Seite 12]

Das sind deut­li­che Worte, die mei­ner Meinung nach die Tatsachen vom Kopf auf die Füße stel­len. Später begrün­det Todenhöfer diese These noch genauer.

Nichts för­dert den Terrorismus mehr als die ‘Antiterror-Kriege’ des Westens. Sie sind ein Terrorzuchtprogramm.

Dabei spricht er sich deut­lich gegen den Terrorismus aus, er nennt ihn “unent­schuld­bar”. Er ver­sucht – in der Kürze des Buches – den Leser dahin zu brin­gen, die Welt aus der Sicht eines jun­gen Moslems zu sehen, der – wo und wann immer er Fernsehnachrichten sieht – über Bomben und Tote in Irak, Afghanistan, Pakistan oder Palästina erfährt. Einige wenige weh­rten sich gegen diese Ungerechtigkeit mit den fal­schen Mitteln – die über­wie­gende Mehrheit der Muslime suche jedoch andere Wege, sich aus die­sem Elend zu befreien.

“…objek­tiv betrach­tet ist der ‘mus­li­mi­sche Terrorismus’ die gewalt­tä­tige Antwort einer win­zi­gen extre­mis­ti­schen Minderheit auf die seit Jahrhunderten kon­ti­nu­ier­lich gewalt­tä­tige Politik west­li­cher Mehrheiten.” [Seite 14]

Terrorismus ist kein typisch mus­li­mi­sches, son­dern ein welt­wei­tes Problem.

Diese These ist für jemanden, der sie liest, ver­mut­lich erst ein­mal die erstaun­lichste des gesam­ten Buches. Immerhin wer­den wir doch täg­lich in den Medien dar­über infor­miert, dass es isla­mi­sche (resp. isla­mis­ti­sche) Terroristen sind, die die Welt in blu­ti­gem Atem hal­ten.

Todenhöfer nennt Zahlen. Und stellt dabei fest: “nach Angaben …[von] Europol gab es im Jahr 2010 in den Ländern der Europäischen Union 249 Terroranschläge. Davon gin­gen ledig­lich drei auf ‘isla­mis­ti­sche’ Attentäter zurück” [Seite 20] – Ähnli­che Zahlen nennt er für die Jahre zuvor.

In unse­rer – von den Medien gesteu­er­ten – Wahrnehmung jedoch stellt sich dies völ­lig anders dar.

Er fragt, wes­halb unsere Politiker sich trotz­dem hin­stel­len und ver­kün­den, dass zwar nicht jeder Muslim Terrorist, aber jeder Terrorist Muslim sei. Diese Definition sei schließ­lich nichts als eine Lüge. Er geht wei­ter davon aus, dass genau diese Politiker auch defi­nie­ren, wer Freund, wer Feind sei. Und nennt es das “Mossadegh’sche Gesetz” (in Anlehnung an den ers­ten frei gewähl­ten und von den USA und Großbritannien weg­ge­putsch­ten Ministerpräsidenten des Iran): Marionetten-Regierungen, dem Westen will­fäh­rig, wer­den – egal welch blu­tige Diktaturen sie innen­po­li­tisch errich­ten – unter­stützt. “Wer die­sem Gesetz zuwi­der­han­delt, wird meist sehr schnell im Rahmen einer inten­si­ven Medienkampagne zum ‘Schurken’ umti­tu­liert, weg­ge­putscht oder weg­ge­bombt.” [Seite 21]

Todenhöfer geht dann auf Gaddafi ein, der von west­li­chen Staaten ob sei­ner her­vor­ra­gen­den Foltermethoden gern genutzt wurde. Auch Saddam Husseins Morde an 148 Menschen, der aus­schlag­ge­bende Punkt für sein spä­te­res Todesurteil, war dem Westen seit 24 Jahren bekannt – aber solange er die Interessen der USA in der Region ver­trat, war es dem Westen kei­nen Aufschrei wert.

Islamisch getarnte Terroristen sind Mörder. Christlich getarnte Anführer völ­ker­rechts­wid­ri­ger Angriffskriege auch.

Die diese These kom­men­tie­ren­den Seiten bedür­fen kaum noch wei­te­rer Worte. “Warum wagen die west­li­chen Eliten nicht ein­mal die Frage zu stel­len, ob George W. Bush und Tony Blair wegen ihres auf Lügen gebau­ten Irakkrieges nicht auch vor ein inter­na­tio­na­les Strafgericht gestellt wer­den müss­ten?” [Seite 29]

Muslime waren und sind min­des­tens so tole­rant wie Juden und Christen. Sie haben die west­li­che Kultur ent­schei­dend mit­ge­prägt.

Hier beginnt der schwä­chere Teil des Buches. Todenhöfer ver­tei­digt mei­ner Meinung nach zu sehr die abra­ha­mi­ti­schen Religionen, um nach­zu­wei­sen, dass diese “an sich” fried­lich seien. Man muss nicht zwin­gend Deschners viel­bän­di­ges Werk ken­nen, um zu wis­sen, dass diese Ansicht his­to­risch nicht unbe­dingt halt­bar ist.

Richtig aller­dings ist, dass Europa in der Zeit, als die Ibe­ri­sche Halbinsel mus­li­misch war, wie­der Kontakt zur klas­si­schen grie­chi­schen und römi­schen Kultur fan­d. Dass das medi­zi­ni­sche, mathe­ma­ti­sche und opti­sche Wissen die­ser Zeit aus dem ara­bi­schen Raum stammte.

Nicht nur in der Bibel, auch im Koran sind die Liebe zu Gott und Nächstenliebe die zen­tra­len Gebote.

Todenhöfer zitiert aus Bibel und Koran. Und ver­gisst – wie jeder, der diese (nun wirk­lich nicht neue) These begrün­den will – dass diese "Nächstenliebe" immer ein­her geht mit “Fernstenhass”. Nur wer der glei­chen Religion zuge­hö­rig ist, ver­dient diese Liebe. Andere wer­den gedul­det (wenn sie denn einer der drei abra­ha­mi­ti­schen Religion ange­hö­ren); die, die sich zu einem ande­ren und kei­nem Gott beken­nen, wer­den grund­sätz­lich aus­ge­nom­men. Darin unter­schei­den sich die drei Religionen tat­säch­lich nicht.

Todenhöfer schreibt: “Terrorismus ist nie reli­giös: Es gibt in Wirklichkeit kei­nen ‘isla­mi­schen Terrorismus’, so wie der Terrorismus der nord­i­ri­schen IRA oder des Norwegers Annders Behring Breivik nie ‘christ­lich’ war.” [Seite 37] Dabei lässt er außer Acht, dass es sehr wohl die Religion war, die die Menschen fana­ti­sierte. Oder anders: dass Religion ein pro­ba­tes Mittel ist (und immer war), um Menschen zu fana­ti­sie­ren.

Er begrün­det das dann tat­säch­lich mit dem Satz: “Die Behauptung, Gewalt sei vor allem ein reli­giö­ses Problem, ist eine athe­is­ti­sche Legende.” [Seite 37, Hervorhebung vom Autor] und kommt dann natür­lich wie­der zu Hitler und Stalin, die er als Atheisten benennt. Wie weit das nun aller­dings von der Wahrheit ent­fernt ist, brau­che ich mei­nen Lesern wohl nicht mehr zu erläu­tern…

Die west­li­che Politik gegen­über der mus­li­mi­schen Welt lei­det unter einer erschre­cken­den Ignoranz ein­fachs­ter Fakten.

Hier kommt Todenhöfer dann wie­der auf Realitäten zu spre­chen. Unter ande­rem dar­auf, wie wenig Wissen über den Orient das poli­ti­sche Handeln des Westens bestimmt. Am Beispiel des Iran zeigt er auf, dass die große Mehrheit der dort leben­den Menschen kei­nes­falls dem Westen nur feind­lich gegen­über steht. Sondern west­li­che Kleidung, west­li­chen Lebensstil und Demokratie zu schät­zen weiß. Doch anstatt dies zu nut­zen, wird in der west­li­chen Politik und den Medien ein Bild gezeich­net, das wenig rea­li­täts­nah ist.

Auch geht er dar­auf ein, dass uns vie­les als “isla­misch” dar­ge­stellt werde, das aus der voris­la­mi­schen Zeit her­rührt. So zum Beispiel auch die Beschneidung der Frauen – die frag­los ein Verbrechen ist: “Diese bru­tale Verstümmelung fin­det nicht nur in eini­gen muslmi­schen Ländern statt, son­dern auch in über­wie­gend christ­li­chen Staaten wie Ätho­pien und Kenia. Ihre Opfer sind Musliminnen, Christinnen, jüdi­sche Ätho­pie­rin­nen (‘Falashas’) und Angehörige ande­rer Religionen.” [Seite 43]

Der Westen muss die mus­li­mi­sche Welt genauso fair und groß­zü­gig behan­deln, wie er Israel behan­delt. Muslime sind genauso viel wert wie Juden und Christen.

Ich gehe jetzt nicht dar­auf ein, dass er auch hier wie­der die Nichtgläubigen “ver­gisst” – Todenhöfer denkt zu sehr in reli­giö­sen Schienen. Doch seine Begründung der ach­ten These ist weni­ger reli­giös gefärbt. Sondern von erstaun­li­cher Klarheit. Wenn er zum Beispiel Sarrazins Thesen mit denen des Nazi-Innenministers Dr. Wilhelm Frick ver­gleicht und dabei kaum Unterschiede fest­stellt.

Im Falle des Konflikts zwi­schen Israel und dem paläs­t­in­si­schen Volk ruft er die west­li­che Welt dazu auf, auf Israel ein­zu­wir­ken, den Palästinensern end­lich ent­ge­gen zu kom­men, einen eige­nen Staat zu akzep­tie­ren. Allerdings for­dert er im glei­chen Atemzug “auch die Palästinenser müs­sen ihre Politik ändern. Der Westen hat Recht, wenn er von ihnen einen Gewaltverzicht gegen­über Israel ver­langt. Aber muss er nicht auch von Israel einen Gewaltverzicht gegen­über den Palästinensern for­dern?” [Seite 52]

Der letzte Satz des Abschnittes geht ein wenig unter. Aber Todenhöfer schreibt, dass wir (also der Westen) dem “mus­li­mi­schen Terrorismus” end­lich die Argumente ent­zie­hen sol­len. Wenn wir zum Beipiel die eine Million Dollar, die ein US-amerikanischer Soldat pro Jahr in Afghanistan kos­tet, in Bildung anle­gen wür­den. Für diese Summe “könnte man in Afghanistan und Pakistan jedes Jahr zwan­zig kleine Dorfschulen bauen…” [Seite 55] Allerdings – so mein Einwand – ver­dient der Westen daran weni­ger als am Krieg.

Die Muslime müs­sen sich wie ihr Prophet Mohammad für einen Islam des Fortschritts und der Toleranz ein­set­zen. Sie müs­sen dem ‘mus­li­mi­schen Terrorismus’ die reli­giöse Maske vom Gesicht rei­ßen.

Es ist gut, dass Todenhöfer auch einen Appell an die mus­li­mi­sche Gemeinschaft rich­tet. Denn ich denke, dass es zu eine Ände­rung der Politik und zu einem Miteinander nur kom­men kann, wenn beide Seiten sich ver­än­dern und auf­ein­an­der zuge­hen. Wie oben beschrie­ben, ist es natür­lich für den Jahrhunderte unter­drück­ten Orient eine schwe­rere Aufgabe als für den auf­ge­klär­ten, wis­sen­schaft­lich und tech­nisch über­le­ge­nen Westen. Aber für eine gedeih­li­che Zukunft ist ein fai­res Miteinander unum­gäng­lich.

Todenhöfers aus dem Koran abge­lei­tete Begründung der Toleranz hat Schwächen – aber immer­hin hat er den Koran gele­sen. Und er sieht ihn als his­to­ri­sches lite­ra­ri­sches Werk, das in der und für die heu­tige Zeit neu inter­pre­tiert wer­den muss. Damit ist er den Reformern sehr nahe.

Das Gebot der Stunde heißt Staatskunst, nicht Kriegskunst – in Afghanistan, in Pakistan, im Irak, in Iran und in Palästina.

Jürgen Todenhöfer plä­diert im letz­ten Absatz lei­den­schaft­lich für eine Art KSZE-Vereinbarung im ori­en­ta­li­schen Raum. Er sieht in einer ver­nünf­ti­gen, gleich­be­rech­tig­ten Diplomatie den Schlüssel zur Verständigung. Jegliche popu­lis­ti­sche Äuße­run­g – zum Beispiel von Frankreichs Nicolas Sarkozy – hält er für kon­tra­pro­duk­tiv. Hierin stimme ich dann wie­der abso­lut mit ihm überein.

“Die Hauptgefahr unse­rer Zeit besteht nicht im Appeasement. Sie besteht darin, dass abendländisch-patriotische Sofa-Strategen, die sich ihren klamm­heim­li­che Rassismus von nie­man­dem neh­men las­sen wol­len, die Welt in einen ähnlich törich­ten Automatismus von Gewalt und Gegengewalt hin­ein­schlit­tern las­sen wie jenen, der zum ers­ten Weltkrieg führte. [...] Nur in einer gerech­ten Weltordnung fin­den Terroristen aller Richtungen kei­nen Nährboden. Nur in einer gerech­ten Weltordnung kann auch der Westen dau­er­haft in Frieden leben.” [Seite 63]

Fazit

Ein erstaun­li­ches Buch, ein unbe­dingt lesens­wer­tes Buch (trotz der oben genann­ten Schwächen), das einen ande­ren Blick auf die Welt wirft, in der wir leben. Und Ideen ent­wi­ckelt, wie diese Welt ein klei­nes Stück bes­ser wer­den kann.

F.N.

 

Jürgen Todenhöfer, Feinbild Islam – Zehn Thesen gegen den Hass, C. Bertelsmann Verlag 2011, ISBN: 3570101355, 4,99 Euro