Rezension

"Wir haben uns emporgeirrt!"

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Ein aktueller Sammelband ist anlässlich seines 80. Geburtstages der Würdigung des Lebenswerkes von Gerhard Vollmer gewidmet. Zwanzig seiner Kollegen und ehemaligen Schüler, allesamt renommierte Philosophen beziehungsweise Wissenschaftler, behandeln aus einer umfassend evolutionären Perspektive Themen aus Wissenschaft und Philosophie, die mit Gerhard Vollmers Forschungs- und Arbeitsgebieten verbunden sind.

"Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Lichte der Evolution", konstatierte 1973 der Biologe Theodosius Dobzhansky. Mittlerweile wissen wir, dass diese Feststellung nicht nur für die Biologie gilt, sondern für nahezu alle Bereiche der Natur- und Geistesgeschichte, der materiellen und der immateriellen Welt, ja sogar für den gesamten Kosmos.

Zu dieser Erkenntnis hat Gerhard Vollmer (Physiker, Philosoph, Mitbegründer der Evolutionären Erkenntnistheorie, vielfach ausgezeichneter Wissenschaftsautor, Universitätslehrer) Grundlegendes und Wesentliches beigetragen. Mit seinen Publikationen zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, zur Naturphilosophie sowie auch zur Definition eines evolutionären, naturalistischen Weltbildes zählt er zu den bedeutendsten Philosophen und Naturwissenschaftlern der Gegenwart.

"Wahrnehmung und Denken sind phylogenetische Anpassungsprodukte an eine bewusstseinsunabhängige Realität. Das ist die zentrale Aussage der Evolutionären Erkenntnistheorie, die Gerhard Vollmer seit 1968 mitformuliert und weiterentwickelt, kritisiert und präzisiert hat."

Gerhard Vollmer, Foto: © Evelin Frerk
Gerhard Vollmer, Foto: © Evelin Frerk

"Wir irren uns empor", lautet ein Bonmot und der Titel eines 2007 publizierten Artikels Gerhard Vollmers. Er beschreibt darin die prinzipielle Fehlbarkeit jeder Erkenntnissuche sowie die Vorläufigkeit allen Wissens und die Unmöglichkeit von Letztbegründungen als Grenzen, die sich nicht überwinden lassen. Dies ist jedoch kein Grund zur Resignation; man kann aus Fehlern lernen und objektiven Sachverhalten mithilfe wahrer Aussagen durch Versuch und Irrtumsbeseitigung mit kritisch-rationalen Methoden näher kommen. Als Brückenbauer zwischen Natur- und Kulturwissenschaften vermittelte Gerhard Vollmer inter- und transdisziplinär zahlreiche Facetten des Erkenntnisgewinns und des Wissens und trug so zu einer "Einheit des Wissens" sowie zu einem rationalen Weltbild bei. Seine Themen sind überaus vielfältig; durch das geistige Band der Evolution und des philosophischen Naturalismus verknüpft, mit einem kohärenten Welt- und Menschenbild, das sich an den Wissenschaften und einer rationalen Metaphysik orientiert, wobei es – und dies ist Vollmer wichtig – stets "mit rechten Dingen" zugehen soll.

Es würde den Umfang dieser Besprechung bei weitem sprengen, auf Einzelheiten der publizierten Beiträge einzugehen. Als Gemeinsamkeit kann dargestellt werden, dass sie "im Lichte der Evolution" Grundsatzfragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie nachspüren, Inhalte der modernen Naturphilosophie präzisieren und sich wichtigen Fragen begrifflicher wie auch wissenschaftsmethodischer Untersuchungen widmen. Mit thematisch breiten Spektren, vorrangig unter dem Aspekt eines evolutionären Humanismus beziehungsweise einer humanistischer Kultur.

Der erste Teil der Beiträge (Autoren: Helmut Fink, Rüdiger Vaas, Ernst Peter Fischer, Eckart Voland und Hannes Rusch, Volker Sommer, Jonas Pöld und Florian Chefai, Ulrich Frey, Hartmut Kliemt, Gerhard Engel) widmet sich explizit evolutionär ausgerichteten Themen, der zweite Teil (Autoren: Meinard Kuhlmann und Manfred Stöckler, Paul Hoyningen-Huene, Martin Mahner) bietet Beiträge zur Wissenschaftstheorie. Es folgen vier Beiträge (Michael Schmidt-Salomon, Franz Josef Wetz, Dieter Birnbacher, Claus-Artur Scheier), die historische Denker und deren Wirkung in den Mittelpunkt stellen, zum Schluss wendet sich Thomas Sukopp didaktischen Fragen im Zusammenhang mit Gerhard Vollmers Wirken als Hochschullehrer zu.

Cover

"Theorien sind Denkwerkzeuge, mit denen wir die Welt erklären wollen. Wenn sie versagen, dann müssen wir sie hinterfragen und neue suchen. Skepsis und Selbstkritik sind die intellektuellen Tugenden, die aus der Fehlbarkeit menschlichen Erkennens heraus wichtige Fortschritte ermöglicht haben und sie – zusammen mit der unstillbaren Neugier – weiter ermöglichen werden. Damit wir auch morgen noch sagen können: Wir haben uns emporgeirrt!"

303 Seiten mit umfangreichen Quellenangaben und Anmerkungen bieten geballtes Wissen zur menschlichen und nichtmenschlichen Natur; zu Grundsatzfragen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, zum Verstehen des Lebens auf der Erde, aber auch des Kosmos mit seinen uns überwältigenden Strukturen. Komplexe Selbstorganisationsprozesse, im Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit, von Veränderung und Auslese, von Konkurrenz und Kooperation haben eine Fülle vernetzten Lebens hervorgebracht, das die Entwicklung der Biosphäre und dabei insbesondere auch die Gehirne ihrer Bewohner prägt. Dies zu verstehen und gleichzeitig auch das Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie in seinen vielfältigen Zusammenhängen zu beleuchten, ist der Zweck dieses Buches. Für einschlägig Interessierte bietet es eine Fundgrube an Wissen; die 18 Beiträge sind gut lesbar, einige erfordern allerdings etwas Vorwissen beziehungsweise die Bereitschaft, sich intensiv mit dem jeweiligen Thema auseinanderzusetzen.

Die Autoren und deren Beiträge:

  • Helmut Fink und Rüdiger Vaas: Einleitung: Erfolgreich in Evolution und Erkenntnis
  • Helmut Fink: Auf der Suche nach Objektivität
  • Rüdiger Vaas: Die Evolution des Kosmos – Zufall und Notwendigkeit im Multiversum
  • Ernst Peter Fischer: Materie und Emergenz – ein wirkungsvolles Duo
  • Eckart Voland und Hannes Rusch: Im Lichte der Evolution: Kultur
  • Volker Sommer: "Spiegel"-Leser wissen mehr – Reflexionen über Evolutionäre Erkenntnistheorie
  • Jonas Pöld und Florian Chefai: Das Realismusproblem in der Evolutionären Erkenntnistheorie
  • Ulrich Frey: Die Evolution als Ideengeber für eine systematische Kreativität
  • Hartmut Kliemt: KI: Neues Denkwerkzeug oder Evolutionssprung?
  • Gerhard Engel: Evolution und Politik – oder: Wie man Türen öffnet
  • Meinard Kuhlmann und Manfred Stöckler: Warum manche Warum-Fragen immer neu beantwortet werden.
  • Paul Hoyningen-Huene: Die Dynamik der Ignoranz in den Wissenschaften
  • Martin Mahner: Sind die sogenannten "Critical Studies" Kandidaten für Pseudowissenschaften?
  • Michael Schmidt-Salomon: Auf Epikurs Schultern – eine kurze Geschichte des Naturalismus
  • Franz Josef Wetz: Nikolaus Kopernikus – der missverstandene Astronom
  • Dieter Birnbacher: Evolutionäre Erkenntnistheorie bei Schopenhauer – eine Spurensuche
  • Claus-Artur Scheier: Nietzsche und die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
  • Thomas Sukopp: Gerhard Vollmer als Philosophiedidaktiker – vom Lernen auf Vorrat, einer immer noch nötigen Fragekultur und dem Wert guter Beispiele

Helmut Fink / Rüdiger Vaas (Hrsg.), Emporgeirrt! Evolutionäre Erkenntnisse in Natur und Kultur, Hirzel Verlag GmbH, Stuttgart 2025, 303 Seiten, 49 Euro, ISBN 978-3-7776-3507-1

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