Der KZ-Bewacher, die Justiz und warum ein Hundertjähriger nun vor Gericht soll

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Eingangstor des KZ Sachsenhausen mit der zynischen Parole "Arbeit macht frei". Dahinter befindet sich der Appellplatz, im Hintergrund das später errichtete Mahnmal.
Eingangstor des KZ Sachsenhausen

Ein mittlerweile 100 Jahre alter ehemaliger KZ-Aufseher soll im hessischen Hanau vor Gericht kommen. Es könnte der letzte Prozess dieser Art gegen einen NS-Täter werden. Eine juristische Groteske ist es schon jetzt – vor allem aber der Beleg einer skandalösen Verspätung.

Vor dem Landgericht Hanau wird nun möglicherweise doch gegen einen inzwischen 100 Jahre alten früheren KZ-Wachmann aus Hessen verhandelt. Noch im Mai hatte das Gericht die Eröffnung eines Hauptverfahrens mit der Begründung abgelehnt, der alte Mann sei weder verhandlungs-, noch vernehmungs- oder reisefähig. Über diese Entscheidung hatten sich die Staatsanwaltschaft Gießen und mehrere Nebenkläger beschwert. Nun wurde der Beschluss vom Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt aufgehoben.

Dem alten Mann wird vorgeworfen, als junger Angehöriger der SS-Wachmannschaften von Juli 1943 bis Februar 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen, "die grausame und heimtückische Tötung tausender Häftlinge unterstützt" zu haben.

Dort, etwa 35 Kilometer nördlich von Berlin, waren ab 1936 etwa 204.000 Menschen von den Nationalsozialisten interniert worden. Zehntausende kamen in Folge durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit und Misshandlungen um oder wurden Opfer von Vernichtungsaktionen der SS.

Die Anklage geht von Beihilfe zum Mord in rund 3.300 Fällen aus

Als Angehöriger eines SS-Wachbataillons soll der Angeklagte unter anderem mit der Überführung ankommender Häftlinge vom Bahnhof in das Hauptlager sowie mit der Bewachung von Häftlingstransporten beauftragt gewesen sein. Damals ein junger Mann von nationalsozialistischer Gesinnung, ein karrierebewusster Befehlsempfänger an einem Ort des Grauens, der seinen Dienst tat – ganz so, wie man es von ihm verlangte: gegen "Volksschädlinge und Volksfeinde" – für Volk, Vaterland und Führer.

Das OLG Frankfurt forderte das Hanauer Landgericht jetzt zu Nach-Ermittlungen über die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten auf. Aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft ist diese Entscheidung von historischer Bedeutung: "Ich begrüße die Entscheidung des Oberlandesgerichts, dass die Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten noch einmal gründlich geprüft wird", erklärte der Frankfurter Generalstaatsanwalt Torsten Kunze. Die historische Bedeutung sieht er darin, dass der KZ-Wachmann der letzte sein könnte, gegen den überhaupt noch eine solche Verhandlung stattfindet. "Sollte das Hauptverfahren eröffnet werden, könnte es sich um den letzten Prozess dieser Art handeln." Mit Blick auf das hohe Alter des Beschuldigten sei bei der Prüfung der Verhandlungsfähigkeit Eile geboten.

Nicht wenige zweifeln am Sinn solcher Verfahren: Sie fragen, was es bringe, belastete Greise vor Gericht zu stellen. Ob das Mitleid mit den Angeklagten bei vielen Betrachtern am Ende nicht größer sei als das Entsetzen über deren Taten. Und ob es fair sei, nun die Gehilfen zur Rechenschaft zu ziehen, nachdem viele der Mörder straflos davongekommen seien.

Tatsache ist: die Entscheidung, einen Einhundertjährigen vor Gericht zu bringen, ist vor allem eines: der Beleg einer skandalösen Verspätung. Jahrzehntelang waren Verfahren nicht eröffnet oder beinahe routinemäßig eingestellt worden. Es sollte nur bestraft werden, wer einer Beteiligung an ganz konkreten Morden überführt wurde. Es fehlte durchwegs an gesetzgeberischen Signalen. Es fehlte das "Wollen", NS-Täter, als diese noch keine Greise waren, vor Gericht zu bringen. Persönliche Schuld verschwand so im Dickicht von Beweisakten, Gutachten und Verteidiger-Strategien.

Jahrzehntelange Verweigerung von Strafverfolgung

Die Nicht-Verfolgung von NS-Verbrechen ist beschämend. Eine jahrzehntelange Verweigerung von Strafverfolgung, eine konsequente Strafvereitelung im Amt. Dafür gehörte die Justiz auf die Anklagebank. Einige Zahlen: In den drei Westzonen und der Bundesrepublik wurde von 1945 bis 2005 insgesamt gegen 172.294 Personen wegen strafbarer Handlungen während der NS-Zeit ermittelt. Das ist angesichts der monströsen Verbrechen und der Zahl der daran beteiligten Menschen nur ein winziger Teil. Das hatte seine Gründe: Im Justizapparat saßen anfangs dieselben Leute wie einst in der NS-Zeit. Viele machten sich nur mit Widerwillen an die Arbeit. Auch politisch wurde auf eine Beendigung der Verfahren gedrängt, dafür sorgten schon zahllose Amnestiegesetze.

Zu Anklagen kam es letztlich gerade einmal in 16.740 Fällen – und nur 14.693 Angeklagte mussten sich tatsächlich vor Gericht verantworten. Verurteilt wurden schließlich gerade einmal 6.656 Personen, für 5.184 Angeklagte endete das Verfahren mit Freispruch, oft aus Mangel an Beweisen. Die meisten Verurteilungen – rund 60 Prozent – endeten mit geringen Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Ganze neun Prozent aller Haftstrafen waren höher als fünf Jahre. Vor dem Hintergrund eines der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte eine skandalöse, empörende Bilanz.

Von der Justiz hatten die NS-Täter nichts zu befürchten. Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, von schuldhaften Täter-Biographien, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands nichts mehr wissen. Aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null.

Der Justiz reichte es jahrzehntelang nicht für eine Anklage, dass jemand eine Funktion in einem Vernichtungslager innehatte. Vielmehr musste der jeweilige Beitrag zu mörderischen Taten nachgewiesen werden. So konnten Täter und Täterinnen unbehelligt ihr Leben führen. Erst nach dem Urteil gegen John Demjanjuk, ein Wachmann, der als "ukrainischer Hilfswilliger" im Vernichtungslager Sobibór tätig gewesen war und 2011 in München verurteilt wurde, ist die Justiz nach jahrzehntelanger Untätigkeit wieder aktiv geworden. Wer als kleines Rädchen beim großen Massenmorden der Nazis dabei war, der kann seither auch ohne konkreten Tatverdacht wegen Beihilfe zum Mord angeklagt werden. Mord verjährt nicht.

Prozesse gegen NS-Täter als symbolische Akte

Langsam, zu langsam hat sich die deutsche Justiz von ihrer "zweiten Schuld" befreit: der mangelnden Strafverfolgung von NS-Tätern und -Täterinnen in der Bundesrepublik nach den Schandurteilen des Nationalsozialismus. Auch nach dem Urteil gegen betagte Rentner und Greise bleibt die Frage: Kann die Justiz nach Jahrzehnten diese Verbrechen noch sühnen? Kann ein Gericht jemanden angemessen bestrafen für die Beteiligung an einem kollektiven System der Barbarei – dafür, am "reibungslosen Ablauf der Tötungsaktionen" teilgenommen zu haben? Vor allem aber: Kann den Opfern und ihren Hinterbliebenen überhaupt Gerechtigkeit, späte Wiedergutmachung widerfahren? Und ist der Aufwand dieser Verfahren tatsächlich gerechtfertigt? Andererseits: Verpflichtet uns der Respekt vor den Hinterbliebenen nicht dazu, die Schuld und die Schuldigen zu benennen und vor Gericht zu bringen, solange es noch möglich ist, gleich wie alt die Täter sind?

Tatsächlich ist es für die Bundesrepublik alles andere als ein Ruhmesblatt, dass zahlreiche Verfahren erst jetzt stattfanden, da die Täter jenseits der 90 sind. In einem solch hohen Alter einen Prozess durchzustehen, mag schwer sein, doch wie verfehlt das Selbstmitleid ist, das manche der Angeklagten an den Tag legen, zeigt allein schon die Tatsache, dass sie aufgrund der Untätigkeit der deutschen Justiz ihr Leben in Freiheit verbringen durften.

Daran dürfte sich auch nichts mehr ändern: Eigentliche Haftstrafen blieben den Mordgehilfen, die bisher verurteilt wurden, aufgrund ihres hohen Alters erspart. Bei denen, die derzeit noch vor Gericht stehen, wird dies wohl nicht anders sein. Wenn man so will, handelt es sich bei den Prozessen um symbolische Akte.

Für den Historiker Professor Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald, bergen verspätete Verfahren wie vor dem Hanauer Landgericht dennoch auch heute noch eine Chance für die Gesellschaft. Zwar könnte die heutige Aufklärung von einzelnen Tatkomplexen vor Gericht die Schuld der versäumten juristischen Aufarbeitung nicht wiedergutmachen. Doch heutige Gerichtsverfahren könnten ein Anstoß sein, sich intensiver mit den "kleinen" Täter*innen zu befassen. "Tatsächlich kann es, wenn vor Gericht darüber gesprochen wird, wie ein KZ funktioniert – das war ja quasi ein Uhrwerk mit ganz vielen kleinen Rädchen (…). Das kann insofern hilfreich sein, (...) dass das gesellschaftlich weiter transportiert wird und dazu beiträgt, dass Verbrechen eben nicht nur von einigen Exzess-Tätern und von einigen 'ganz da oben' begangen wurden, sondern dass Verbrechen immer nur dann funktionieren, wenn ein großer Teil der Bevölkerung mitmacht". Mit den Mechanismen, die zu den Gewaltverbrechen geführt haben, müsse sich die Gesellschaft beschäftigen, fordert Wagner. "Das Trauern um Opfer ist wohlfeil, wenn man nicht danach fragt, warum Menschen zu Opfern geworden sind. Und das wird viel zu wenig gemacht." Die späten Prozesse gegen mutmaßliche NS-Verbrecher könnten dazu ein Beitrag leisten, so der Historiker.

Man darf festhalten: Die Aufarbeitung des NS-Unrechts durch die deutsche Nachkriegsjustiz ist eine Geschichte der Verspätung und Verzögerung. Sie hat gründlich versagt, nicht nur im Falle des Hundertjährigen, der sich nun in Hanau verantworten soll. Ein beschämendes Versagen.

Vom Autor gerade erschienen:

Helmut Ortner, Heimatkunde – Falsche Wahrheiten. Richtige Lügen, Edition Faust, 208 Seiten, 22 Euro

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