Gibt es eine lutherische Ethik?

(hpd) Hubertus Mynarek zeigt in „Luther ohne Mythos“ eindrucksvoll und sachkundig, dass die feste Burg, die Luthers Gott ist, hauptsächlich auf den Säulen schlechten Gewissens und Unterwerfungsbereitschaft steht. Dazu kommen Irrationalismus, Masochismus, Misogynie und Antisemitismus.

Indem das Anschlagen der 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg in das Reich der Legenden verwiesen wird, beginnt die Entmythisierung der kirchlich produzierten und staatlich geförderten Lichtgestalt des Reformators. Die Thesen waren wahrscheinlich nur Anlage zu einem Brief an einen Vorgesetzten.

Die kurze aber sehr informative Streitschrift ist in elf Kapiteln aufgeteilt und beginnt mit Luthers Turmerlebnis. Es geschah, so der Autor, auf dem Abtritt des Turmes: „Während eines lustbetonten körperlichen Vorgangs kam ihm die Erleuchtung“. Damit ist eingangs gleich darauf verwiesen, „dass Luther mit der mönchischen Disziplin und Askese partout nicht zurechtkam“.

Aus dem Kapitel „Luther und der Papst“ ist als Position des Reformators zu erfahren, „dass der einzelne Glaubende auch gegen die Leitung der Kirche für das Evangelium einstehen müsse“, gleichzeitig wird aber nur der Papst, den Luther für einen Antichristen hält, nicht aber die Kirche, für überflüssig erklärt.

Mesalliance zwischen Wirtschaftsegoismus und Kirchenzugehörigkeit

Interessant in dem Kapitel „Luther und die Bauern“ aber dann die Feststellung, dass Luther bereits im Bauernkrieg half, „die metaphysische Mesalliance zwischen Wirtschaftsegoismus und Kirchenzugehörigkeit vorzubereiten“. Die Bauern waren enttäuscht, weil Luther die dem Papst hörige katholische Kirche nur durch eine den Landesfürsten zugetane ersetzte, was die Verbindung von Thron und Altar noch enger werden ließ. Als ethisch besonders verwerflich zeigt sich die Hetzkampagne gegen Thomas Müntzer, dessen „Verbrechen“ nur darin bestand, nicht, wie Luther, mit seiner Reform auf halbem Wege stehen geblieben zu sein.

Das Kapitel „Luther und die Ketzer, Hexen, Sektierer“ beginnt mit der Schilderung des Aufrufs an die Fürsten, das „teuflische Bauernpack“ und ihren Anführer Müntzer totzuschlagen. Dabei wird auch darauf hingewiesen, dass so genannte Hexen von Lutheranern fast noch fanatischer verfolgt wurden als während der katholischen Inquisition. Luthers Hass bekamen auch die Wiedertäufer zu spüren, aber nur weil sie eine reinere Form des Christentums vertraten als er selbst, der schließlich als Reformator in die Geschichte eingehen sollte. Das Kapitel endet mit einer Feststellung von Christian Sailer: „Nach heutigem Rechtsverständnis war Luther […] ein Krimineller, den der Staatsanwalt sofort verhaften ließe, […] wegen Volksverhetzung, Anstiftung zum Mord, Anstiftung zum Landfriedensbruch und Anstiftung zur schweren Brandstiftung“.

Sakral begründeter Antisemitismus und Judenhass

Im Kapitel „Luther und die Juden“ wird dessen aggressiver Weg vom sakral begründeten Antisemitismus bis zum rassistisch motivierten Judenhass aufgezeigt und gleichzeitig transparent gemacht, wie Luther seine Menschenverachtung mit dem Willen Gottes identifizierte. Mit den Worten „Wenn der Jude sich nicht zum Christentum bekehrt, ist er des Teufels oder ein Teufel und soll er dann entsprechend bestraft oder getötet werden“, ruft Luther die Fürsten zum Judenpogrom auf. Er hat damit, wie der Autor erhellend in die Gegenwart verweisend ausführt, ungeheure Geschichtsschuld auf die Evangelischen Kirchen geladen.

Zur Abrundung wird Luther, den man als großen Reformator und Vorbild eines theologischer Repräsentanten feiert, in seiner ordinären Fäkaliensprache zitiert: „Es ist hier zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen; unter ihr liegen junge Ferkel und Juden die saugen; hinter der Sau steht ein Rabbi, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zieht er den Pirzel über sich, bückt und kuckt mit großem Fleiß der Sau unter den Pirzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas, wozu man scharfe Augen braucht, und außergewöhnliches lesen und ersehen“. Mynarek zieht dann eine makabre Parallele von Luther bis Hitler und weist am Schluss dieses Kapitels daraufhin, wie sich der im Nürnberger Prozess dort angeklagte nationalsozialistische Politiker und bekennende Antisemit Julius Streicher bei seiner Verteidigungsstrategie auf Dr. Martin Luther berief.

Frauen sind nur notwendiges Übel

In dem Kapitel „Luther und die Frauen“ wird Luther als Frauenverächter entlarvt und ihm unterstellt, dass er im Grunde nur den Mann als vollwertiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft ansah und die Frau für ein notwendiges Übel hielt. Danach zitiert ihn der Autor nicht nur mit den Worten „Ich gestatte einem Weibe nicht, dass es lehre“, sondern lässt anklingen, dass nach Luthers Dafürhalten bei einer Geburt auf alle Fälle das „Kindlein“ zu retten sei, selbst wenn die Mutter dabei sterben sollte. Dieses Kapitel geht dann über in „Luther und die Sexualität“. Hier fällt ein vulgärer Naturalismus auf, bei dem der grobschlächtige Bauernsohn einer ethischen Mäßigung des Geschlechtstriebes keinerlei Chancen zu lassen scheint. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass Luther den Beischlaf mit den körperlichen Bedürfnissen wie Essen, Trinken und Verdauen gleichstellt und in der Ehe eine erlaubte Sünde in Form eines Brunstventils sieht. Spiritualität wird vermisst und Mynarek bemerkt süffisant: „Ein bisschen mehr Vergnügen im Ehebett darf´s schon sein, jedenfalls über die bloße Zeugungsabsicht hinaus. Aber es darf nicht zuviel werden“.

Von besonderem Gewicht ist das Kapitel „Luther und der Staat“. Im Mittelpunkt steht der Nachweis, dass der Protestantismus eine religiöse Ideologie zur Beherrschung des Volkes bedeutet. Luther wird mit der Aussage zitiert, dass die Zehn Gebote nichts anderes seien, als der Juden Sachsenspiegel und versucht nachzuweisen, dass es keine protestantische Ethik gibt. Diesem religionswissenschaftlich so bedeutungsschweren Faktum gibt der Autor folgende Begründung: „Eine protestantische Ethik gibt es nicht, kann es angesichts der Leugnung der Willensfreiheit durch Luther und die Bekenntnisschrift seiner Kirche gar nicht geben, weil eine Ethik ohne Willensfreiheit, ohne die freie Wahl und Entscheidungsfähigkeit des Menschen zwischen Gut und Böse unmöglich ist, ja ein Unding, einen Widerspruch in sich selbst darstellt“. Bedauert wird dann, dass der Geist einer so positiven Persönlichkeit wie der des evangelischen Theologen Wolfgang Ullmann, der Ende des vorigen Jahrhunderts vehement für eine Trennung von Kirche und Staat eintrat, sich in den Evangelischen Kirchen nicht gegen den (Un)geist Luthers, der dort leider noch immer konserviert wird, durchsetzen konnte. Ullmann war nach der Wende für „Bündnis 90“ im Deutschen Bundestag.

Philosophie führe zu einem Chaos der Irrtümer

Den Abschluss bilden die Kapitel „Luther und die Philosophie bzw. Vernunft“, „Luther und die Willensfreiheit bzw. Ethik“ sowie „Luther und Gott“. Was die Philosophie betrifft, glaubt Mynarek eine augustinsche Wortwahl zu erkennen und stellt fest, dass Luther behauptet, Philosophie führe nur zu einem Chaos der Irrtümer und er noch dazu den Menschen dadurch entmündige, indem er des Menschen edelstes Organ, die Vernunft, verketzert. Ein weiterer religionswissenschaftlicher Schwerpunkt ist die Prädestinationsthese, sie behauptet, dass Gott, ohne Rücksicht auf Verdienste oder Vergehen, nur aus eigenmächtiger Gnade bestimmt, wer selig oder verdammt wird. Sie ist in dem Kapitel Willensfreiheit und Ethik abgehandelt, mit dem Ergebnis, so der Autor ironisch, dass protestantische Kirche im Anschluss an Luther die „Freiheit der Kinder Gottes“ zur „Gaukelei“ gemacht hat. Während die Position seines verhassten Gegenspielers Erasmus von Rotterdam, „Gott will das, was er im voraus weiß“ zumindest theologisch noch einigermaßen nachvollziehbar erscheint, ist die Aussage Luthers „Gott weiß nur das, was er will“, in höchstem Maße inhuman und macht darüber hinaus den Menschen zu einer Marionette. So kommt es im letzten Kapitel auch zu der Feststellung, dass Luthers Gott mit Rationalität und Humanität „nichts am Hut“ hat. Dabei wird an Goyas Gemälde „Saturn seine Kinder verschlingend“ mit den Worten erinnert: „Und wirst du sündigen, so wird er dich auffressen“.

Schließlich macht Mynarek noch auf eine pikante Skurrilität aufmerksam: Die Evangelischen Kirchen, selbst Sekte, denn sie sind bekanntlich das Schisma einer jüdischen Großsekte, beschäftigt Sektenbeauftragte, mit denen sie nicht nur eine Immunisierungsstrategie aufbauen, sondern gleichzeitig andere Religionsgemeinschaften als Sekten diffamieren – und das noch mit staatlicher Unterstützung.

Das Erschrecken, das durch Kenntnis und Verständnis der Zusammenhänge um Martin Luthers Wirken entsteht, ist nötig, um die Fesseln einer perversen Tradition und Geschichtslüge zu lösen. Dieses Versprechen des Verlages wird kenntnisreich und in drastischer Darstellung eingelöst.

Erich Satter

Hubertus Mynarek: Luther ohne Mythos – Das Böse im Reformator. Ahriman-Verlag, Freiburg, ISBN 978-3-89484-609-1. 115 S. 12,80 Euro