Wie die EKD Verfassungsrichter manipuliert

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Berliner Dom / Foto: Holger Weinandt (wikimedia commons)

BERLIN. (hpd) Der Kritik an ihren Privilegien haben die beiden Großkirchen argumentativ nichts entgegenzusetzen. Was macht man in einer solchen Situation? – Man ruft jemanden, der sich mit so etwas auskennt. In einer Situation ohne Argumente sind dies Theologen. Lassen Sie sich einladen zu einem Erkundungsgang in die Welt der Petra Bahr, Kulturbeauftragte der EKD.

Ein Kommentar von Matthias Krause.

Seit 2007 veranstalten die beiden Großkirchen mehrmals im Jahr in Karlsruhe einen institutionalisierten „Dialog“ mit Vertretern der höchsten deutschen Gerichte (Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof) und der Bundesanwaltschaft. In seiner Einweihungsrede forderte der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, den Vorrang des Christentums im deutschen Staatskirchenrecht nicht anzutasten. Die Leiter des „Foyers Kirche und Recht“ bestätigten damals dem Tagesspiegel, dass dies „sicher der Generalbass“ der Treffen werde. Auch der Name scheint Programm zu sein: Ein anderes Wort für „Foyer“ ist „Lobby“.

Die Giordano-Bruno-Stiftung kritisierte dies bereits als „religiöse Beeinflussung der Gerichte“ und forderte die eingeladenen Juristen auf, im Sinne ihrer richterlichen Unabhängigkeit den Veranstaltungen des Foyers fernzubleiben.

Noch bedenklicher ist allerdings, dass das Foyer neulich unter dem Motto „Salafisten, Atheisten und Co.“ eine Veranstaltung über die weltanschauliche Konkurrenz der Kirchen durchführte, ohne deren Vertretern eine Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Und vollkommen unakzeptabel ist die demagogische Art, in der dies erfolgte, durch die EKD-Kulturbeauftragte Petra Bahr. In ihrem Vortrag zeichnete sie Karikaturen derer, deren Positionen sie wiederzugeben behauptete.

Für ein Forum, das dem Meinungsaustausch zwischen kirchlichen Lobbyisten und Vertretern der höchsten Gerichte dienen soll, fällt zunächst auf, dass Frau Bahrs Vortrag bei oberflächlicher Betrachtung so gut wie keine staatskirchenrechtlichen Standpunkte enthält. Die Botschaft ist trotzdem deutlich: Frau Bahr ist gegen eine strikte Trennung von Staat und Kirche. Sie sagt das zwar nicht offen, es lässt sich aber zwei Passagen ihres Vortrags klar entnehmen: So spricht sie von

„einer christlich geprägten Religionskultur, die seit fünfzig Jahren auf die kritische Solidarität mit dem demokratisch verfassten Rechtsstaat setzte und umgekehrt bei den staatlichen Institutionen und Verfassungsorganen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf wohlwollendes Gehör stoßen konnte.“ [S. 4]

Diese „Selbstverständlichkeit, die auch mit biographischen Prägungen der Akteure zu tun hatte“, werde allerdings „zunehmend fraglich“:

„So ist längst nicht mehr sicher, dass ein junger Richter, der begeistert in der Kantorei seiner Stadtkirche singt, auch Gefallen am Kreuz im Gerichtssaal findet. Und Ministeriale, die aus Pfarrhäusern oder der katholischen Jugendarbeit kommen, sind noch nicht zwangsläufig glühende Verfechter des konfessionellen Religionsunterrichts. Da nehmen sie als Referenz eher das prägende Studienjahr an einer amerikanischen Law-School und die Erfahrungen mit einem ganz anderen System von Religion, Staat und Gesellschaft.“ [S. 4]

Wem etwas an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung liegt, der kann eigentlich nur froh sein, dass Richter und Verwaltungsbeamte heute nicht mehr automatisch ihre religiöse Sozialisation in ihre beruflichen Entscheidungen einfließen lassen. Frau Bahr hingegen scheint der „guten alten Zeit“ eher nachzutrauern.

Und der letzte Satz soll wohl heißen: Eine strikte Trennung von Staat und Kirche wie in den USA (wo religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden und auf öffentlichem Grund verboten sind) sei für Deutschland nicht geeignet, weil wir ein „ganz anderes System von Religion, Staat und Gesellschaft“ hätten.

Deutlicher wird Frau Bahr, wenn sie von der „Versuchung des Laizismus“ spricht, der bei der Piratenpartei sogar „durchaus stalinistische Züge“ angenommen haben soll. Wikipedia zufolge beschreibt Laizismus „religionsverfassungsrechtliche Modelle, denen das Prinzip strenger Trennung von Kirche und Staat zu Grunde liegt“. Frau Bahr hingegen bezeichnet den Laizismus als „Weltanschauung“: Denn die „laizistische Versuchung“ verlangt Frau Bahr zufolge:

„Der Staat soll sich nämlich die laizistische Weltanschauung zu Eigen machen.“ [S. 8]

Wenn Frau Bahr so formuliert, dann signalisiert sie natürlich: Der Staat darf sich keine Weltanschauung zu Eigen machen, also darf der Staat auch nicht laizistisch sein.

Sie beruft sich damit allerdings gleichzeitig direkt auf das Prinzip des Laizismus – die Trennung von Staat und Weltanschauung – um seine Ablehnung zu begründen, und damit z.B. Kreuze in Schulen und Gerichtssälen hängen zu lassen. Dazu muss sie freilich den Laizismus als Weltanschauung darstellen statt als verfassungsrechtliches Modell. (Weshalb sich der Staat allerdings – wenn er sich schon den Laizismus nicht zu eigen machen darf, das Christentum dann doch zu eigen machen soll, wird wohl das Geheimnis von Frau Bahr bleiben.)

Ihre Wortwahl ermöglicht ihr auch, bei diesem Thema von einem „Weltanschauungskonflikt“ zu sprechen, obwohl es sich tatsächlich um einen verfassungsrechtlichen Konflikt handelt, bei dem die Kirchenkritiker lediglich die Einhaltung des Grundgesetzes fordern, während die Kirchen auf ihren Privilegien beharren. Laizismus ist unabhängig von der Weltanschauung – wie man sehr schön daran erkennen kann, dass selbst in den christlichen USA eine strikte Trennung von Staat und Kirche herrscht. (Zumindest auf dem Papier.) Laizismus nützt allen. Jedenfalls, wenn er erst einmal eingeführt ist. Ist er das nicht, haben natürlich durch die Einführung des Laizismus diejenigen etwas zu verlieren, die bisher besonders „wohlwollend“ behandelt wurden. Man könnte geradezu sagen: An ihrer Position zum Laizismus kann man erkennen, ob eine Religionsgemeinschaft derzeit Privilegien genießt oder nicht.

Was Frau Bahr sich wünscht (und was wir in Deutschland immer noch haben) läuft praktisch auf einen „Laizismus light“ hinaus: „Hinkende“ Trennung von Staat und Christentum, strikte Trennung für alle anderen Weltanschauungen. Statt Laizismus für alle – Laizismus für alle anderen. Oder mussten sich schon einmal Ladenöffnungszeiten oder Tanzverbote nach den Feierlichkeiten anderer Religionen richten? Wurde an den Wänden von Gerichtssälen schon mal ein Symbol einer anderen Weltanschauung gesichtet? Hat die Bundeswehr schon mal nichtchristliche Militärseelsorger bezahlt?

Frau Bahrs verfassungsrechtliche Position fügt sich also nahtlos in die angekündigte Stoßrichtung des Foyers Kirche und Recht, nämlich das bisherige Verhältnis von Staat und Kirche unangetastet zu lassen. Nur: Argumente führt sie dafür nicht ins Feld. Laizismus als Weltanschauung zu bezeichnen ist ja kein Argument, ebenso wenig wie der Verweis auf die USA.

In Ermangelung von Argumenten zielt Frau Bahrs Vortrag offensichtlich darauf ab, seine Wirkung über negative Assoziationen zu erzielen. So beginnt Frau Bahr ihren Vortrag mit „Eindrücken“, die sie am Ostersamstag in Berlin gesammelt haben will. Mit „ungezielter Neugier und ohne festgelegte Perspektiven“, wie sie ankündigt.

Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die Darstellung des Kirchenkritikers:

„Fünfzig Meter weiter [nachdem sie einen Koran erhalten hat] drückt mir jemand ein Papierbord in die Hand. Ich bin auf der Höhe des Berliner Doms angekommen. […] „Treten Sie aus der Kirche aus“, ermuntert mich ein junger Kerl mit rotem T-Shirt. „Gott ist tot“, steht da in den Lettern, die normalerweise Coca-Cola für seine Werbung nutzt, auf seiner Brust. „Die Kirche ist eine Zwangsanstalt. Befreien Sie sich!“, ruft der Knabe den Passanten zu, als sei die Kirchenmitgliedschaft mit Zwängen und der Austritt mit Sanktionen belegt. Dann lädt er noch zur nächsten Party ein und erzählt stolz von den Karfreitagsstöraktionen des letzten Tages. „Heidenspaß statt Todesangst“ heißt die Bewegung, die im ganzen Bundesgebiet kein anderes Ziel hat, als die Karfreitagsruhe zu torpedieren. Auf meinen Einwand, man könne doch an 350 Tagen im Jahr ungehemmte Heidenfreuden genießen, lacht er schief und sagt: „Aber dann macht es ja keinen Spaß, weil sich keiner ärgert.“ [S. 2]

Ob sich dies tatsächlich so abgespielt hat, erscheint ebenso fragwürdig wie die Broschüre „Weg mit den Moscheen. Wie die Muslime versuchen, den Kölner Dom zu kaufen“, die Frau Bahr wenig später von einer älteren Dame erhalten haben will. Im Internet findet sich jedenfalls weder etwas dazu, dass Muslime den Kölner Dom kaufen wollen, noch, dass eine Gruppe davor warnt. Solche bizarren Geschichten bleiben im Internet üblicherweise nicht lange verborgen.

Und obwohl vielfach berichtet wurde, die Salafisten hätten vor Ostern in vielen deutschen Städten – darunter auch Berlin – Korane verteilt, vermitteln u.a. die Berichterstattung der Berliner Morgenpost und des rbb Eindruck, dass Koranverteilungsaktionen in Berlin erstmals für den Samstag nach Ostern (14.4.2012) angemeldet und durchgeführt wurden. Also nach Frau Bahrs angeblichem „Osterspaziergang“. Und die angemeldeten Verteilplätze (Potsdamer Platz, Kurfürstendamm und Alexanderplatz) lagen auch nicht 50 Meter vom Berliner Dom entfernt, wie es der Erzählung von Frau Bahr zufolge der Fall gewesen sein soll.

Ebenso merkwürdig muten Aufrufe zum Kirchenaustritt und zur Störung der Karfreitagsruhe in Berlin an. Die Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg (EHBB) jedenfalls hatten wenige Tage vorher eher zufällig, aber im Rahmen einer bundesweiten Aktion, den Kirchenaustritt eines ihrer Mitglieder gefeiert („Es ist ja schon fast schwer, in Berlin noch Gläubige zu finden“). Da die bundesweiten Kirchenaustrittsaktionen am Gründonnerstag stattfanden, erscheint es etwas merkwürdig, dass zwei Tage später irgendwelche Aktionen mit Aufrufen zum Kirchenaustritt hätten stattfinden sollen. Und da das Tanzverbot am Karfreitag in Berlin nur eingeschränkt gilt – von 4 Uhr morgens bis 21 Uhr abends, also quasi außerhalb der „Party-Zeit“ – erscheint auch zweifelhaft, ob dort großartige Aktionen gegen das Tanzverbot veranstaltet wurden. Von meinen Bekannten in Berlin – die in der kirchenkritischen Szene gut vernetzt sind – wusste jedenfalls keiner etwas von einem solchen Aufruf. Der einhellige Eindruck war: Frau Bahr hat sich das aus den Fingern gesogen.

Es geht hier nicht darum, dass Frau Bahr derartige Begegnungen nicht – zu anderer Zeit oder an anderen Orten – durchaus gehabt haben könnte. Sondern es geht darum, dass man ahnt, dass hier Dichtung und Wahrheit vermischt werden, und dass nicht erkennbar ist, wo die Wahrheit aufhört und die Dichtung beginnt. Theologen haben damit bekanntlich keine Probleme – So etwas ist aber nicht hinnehmbar, wenn über andere Auffassungen doziert wird.

Deshalb wäre es ein Gebot des Anstands gewesen, die Ausführungen über „Salafisten, Atheisten und Co.“ nicht auf Anekdoten aufzubauen, sondern auf nachprüfbaren Belegen wie Büchern, Webseiten oder offiziellen Verlautbarungen.

Die obige Passage über Frau Bahrs angebliche Begegnung mit dem Kirchenkritiker veranschaulicht aber auch noch zwei weitere durchgängige Merkmale von Frau Bahrs Ausführungen: Frau Bahr kritisiert gerne, ohne ihre Kritik zu begründen. Später wird sie zum Beispiel über die Piratenpartei sagen, die hätte „das humanistisch-laizistische Programm gekapert […], mit durchaus stalinistischen Zügen.“ [S. 8] Ohne zu erläutern, was sie damit meint.

Es ist unredlich, gegenüber Kontrahenten den Vorwurf des Stalinismus einfach mal so in den Raum zu stellen, ohne dass diese sich wehren können. Noch dazu vor Verfassungsrichtern und Juristen der Bundesanwaltschaft.

So auch Frau Bahrs Darstellung ihrer angeblichen Begegnung mit dem Kirchenkritiker:

„Dann lädt er noch zur nächsten Party ein und erzählt stolz von den Karfreitagsstöraktionen des letzten Tages. „Heidenspaß statt Todesangst“ heißt die Bewegung, die im ganzen Bundesgebiet kein anderes Ziel hat, als die Karfreitagsruhe zu torpedieren.“ [S. 2]

Aktionen gegen den Papstbesuch letztes Jahr liefen unter dem Motto „Heidenspaß statt Höllenangst“. Ich vermute, Frau Bahr ist dieser Unterschied bei der Wortwahl durchaus bewusst. Während aber nur Gläubige Höllenangst haben können, klingt Frau Bahrs Version des Mottos geradezu, als ob die spaßigen Heiden gegen ihre eigene Todesangst anfeiern wollten. Aber das nur am Rande.

Frau Bahr spricht also von „Karfreitagsstöraktionen“, die „kein anderes Ziel“ haben, „als die Karfreitagsruhe zu torpedieren“. Leider erfahren wir nicht, was das für „Störaktionen“ sein sollen. Etwa „Heidenspaß-Partys“? So etwas hat der Bund für Geistesfreiheit in München vor fünf Jahren mal versucht, die Party wurde aber verboten. Zu weiteren „Heidenspaß-Partys“ findet sich im Internet nichts.

Die „Religionsfreie Zone“? Die wurde dieses Jahr zum fünften Mal veranstaltet. Das Motto war „Heidenspaß statt Höllenqual“. Dabei wurden am Karfreitag im Kölner Filmhaus ab 18 Uhr die beiden Filme „Religulous“ und „Das Leben des Brian“ gezeigt. Offenbar ganz legal. Ist es das, was Frau Bahr unter „Karfreitagsstöraktion“ versteht?

Oder bezieht sie sich auf die Flashmobs gegen das Tanzverbot, wie in Köln? Die richten sich allerdings nicht gegen die Religionsausübung – es werden ja keine Gottesdienste gestört – sondern gegen das Tanzverbot. Was sofort deutlich wird, wenn man „Flashmob“ und „Karfreitag“ googelt: Praktisch überall wird schon in den Google-Treffern deutlich, dass sich diese Aktionen gegen das Tanzverbot richten und nicht gegen Christen, die den Karfreitag begehen wollen. So hieß das Motto der diesjährigen Aktion in Köln auch „Zum Teufel mit dem Tanzverbot“ und nicht etwa „Zum Teufel mit dem Karfreitag“. Es geht eben nicht darum, die Karfreitagsruhe zu torpedieren, sondern gegen das Tanzverbot zu protestieren, wie eine diesbezügliche Mitteilung der Piratenpartei Köln zeigt:

„Anlass des Protests war das Tanz- und Musikverbot, das in Deutschland nicht nur am Karfreitag angesetzt ist. Tatsächlich betrifft dieses Verbot je nach Bundesland bis zu 16 weitere kirchliche Feiertage, an denen es mehrstündig oder sogar ganztags gilt. Die Piraten halten die Regelung für einen unverhältnismäßigen Eingriff in der Freiheitsrechte der Bürger, für fragwürdig im Sinne des Grundgesetzes und auf jeden Fall für revisionsbedürftig.

Man kann allerdings Frau Bahr nicht vorwerfen, dass sie dies verdreht – denn sie sagt ja gar nicht, worauf sie sich bezieht. Vielleicht war ihr Gegenüber ja auch Schachspieler?

Was man Frau Bahr allerdings vorwerfen kann ist, dass sie von einer Bewegung spricht, „die im ganzen Bundesgebiet kein anderes Ziel hat, als die Karfreitagsruhe zu torpedieren“ – obwohl sich die einzige Bewegung, die in dieser Hinsicht aktiv ist, gegen das Tanzverbot richtet und nicht gegen den Karfreitag als solchen. Wie auch bei anderen Gelegenheiten ist Frau Bahr gerne dann undifferenziert, wenn es darauf ankommt. Und wenn sie mal „differenziert“, klingt das so:

„Nicht jeder, der seine Konfession nicht mehr an eine Mitgliedschaft binden will, ist ein oberflächlicher, ganz dem materiellen Glanz der Konsumgesellschaft verfallener Mensch.“ [S. 4]

Mit solchen Sätzen sagt Frau Bahr mehr über sich selbst als über die Leute, von denen sie redet.

Ein noch schwererer, aber ebenso unbelegter Vorwurf macht den Kern von Frau Bahrs Nicht-Argumentation aus:

„Diese antiklerikale Bewegung gibt sich libertär, ist aber nicht liberal, wenn es um die Freiheit anderer geht. Die Intoleranz im Gewand einer kämpferisch-aufklärerischen Weltanschauung ist überraschend etatistisch, erhofft sie sich doch vom Staat und seinen Gerichten die Befreiung von den Zumutungen der Religion. […] Auch hier entwickelt sich ein geschlossenes Milieu, das für Religionsfreiheit streitet, aber dem Anspruch nach gerade die Neutralität des Staates gegenüber den religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen seiner Bürger unterläuft.“ [S. 8]

Man fragt sich, wo Frau Bahr auch nur ansatzweise die Freiheit der Gläubigen bedroht sieht? Wenn Leute am Karfreitag tanzen? Wenn in öffentlichen Schulen und Gerichtssälen keine Kreuze mehr hängen? – Selbst bei der Abschaffung zweier Privilegien von Verfassungsrang – der Kirchensteuer und dem konfessionellen Religionsunterricht – könnte man doch immer noch nicht davon sprechen, dass die Religionsfreiheit dadurch eingeschränkt sei. (Schließlich ziehen die meisten Religionsgemeinschaften keine Kirchensteuer ein und haben auch keinen eigenen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.) Sind z.B. die USA – wo ja genau die strikte Trennung von Staat und Kirche gilt, die Frau Bahr ablehnt – nicht liberal und intolerant? Es geht nicht darum, den Gläubigen ihre Religionsausübung einzuschränken, sondern um die Herstellung der staatlichen Neutralität!

Abgesehen davon: Das beste Beispiel für ein geschlossenes Milieu, das vorgeblich für die Religionsfreiheit streitet, tatsächlich aber dem Anspruch nach gerade die Neutralität des Staates unterläuft – dürfte das „Foyer Kirche und Recht“ selbst sein.

Jedenfalls stellt Frau Bahr erneut einen schweren Vorwurf in den Raum, ohne auch nur den geringsten Hinweis zu geben, worauf sie sich bezieht.

Frau Bahrs vermeintliche Sorge um ihre eigene Freiheit ist umso unappetitlicher, als sie – nach eigener Aussage – dem Kirchenkritiker in der Berliner Innenstadt selbst entgegen hielt, „man könne doch an 350 Tagen im Jahr ungehemmte Heidenfreuden genießen“. Man möchte Frau Bahr das Jesuswort aus Matthäus 7,1-5 nahelegen. Es geht dabei um Splitter, Balken und Heuchler. Das betrifft übrigens auch den Vorwurf des „Etatismus“ – wenn er von einer Seite kommt, die den Staat nicht nur die Kirchensteuer einziehen, sondern auch anderen Menschen das Tanzen verbieten lässt.

Jedenfalls stellt Frau Bahr in ihrem Vortrag mehrfach und an zentraler Stelle Anschuldigungen in den Raum, ohne diese zu begründen. Und ohne, dass ersichtlich wäre, worauf sie sich beziehen könnte.

Die EKD-Kulturbeauftragte blendet aber in ihrem Vortrag auch regelmäßig Aspekte aus, die sie offenbar nicht wahrhaben will. In der obigen Passage zeigt sich dies in dem Satz

„ ‚Die Kirche ist eine Zwangsanstalt. Befreien Sie sich!“, ruft der Knabe den Passanten zu, als sei die Kirchenmitgliedschaft mit Zwängen und der Austritt mit Sanktionen belegt.“ [S. 2]

Nun, wenn Frau Bahr aus der Kirche austreten würde, wäre sie ihren Job bei der EKD sofort los. Das gilt allerdings nicht nur für Theologen, sondern z.B. auch für Putzfrauen, die in kirchlichen Einrichtungen arbeiten.

In Deutschland wird man üblicherweise nicht aus freien Stücken Kirchenmitglied, sondern weil man als Säugling getauft wurde. Sobald man eigenes Einkommen erzielt, wird dann automatisch Kirchensteuer fällig. Will man aus der Kirche austreten, wird in den meisten Städten eine Gebühr fällig, die bis zu 60 Euro betragen kann. Wer getauft ist und das Pech hat, dass er seinen Beleg für den Kirchenaustritt nicht mehr beibringen kann, dem kann es passieren, dass er - und das gerade in der Landeskirche, innerhalb deren Grenzen Frau Bahr lebt -,  rückwirkend für mehrere Jahre zur Kirchensteuer herangezogen wird. Und in der katholischen Kirche wird man automatisch exkommuniziert, wenn man aus der Kirche austritt.

Frau Bahr tut hier so, als könne sie diese Zusammenhänge nicht erkennen. Sie ist absichtlich undifferenziert. Das ist besonders unangenehm, da Frau Bahr gerne – auch in diesem Vortrag – andere Auffassungen als „schlicht“ abtut und bei Kritikern mangelndes Niveau bemängelt.

Diese Blindheit für das Naheliegende, das Offensichtliche, durchzieht ihren ganzen Vortrag: Dass dem Islam eine gewisse Gewaltbereitschaft innewohnen könnte, scheint Frau Bahr nicht in den Sinn zu kommen, stattdessen macht sie für islamistischen Extremismus „komplizierte Ursachenbündel“ aus – was ja nicht verkehrt ist, bei Frau Bahr dann aber eben nur Ursachen wie Migration, mangelnde Teilhabe oder politische Demütigung beinhaltet. Frau Bahr spricht selbst an, wie wichtig „glaubwürdige Vertreter“ einer Weltanschauung sind – wundert sich dann aber, wenn junge Muslime sich für eine wörtliche Interpretation des Islam entscheiden und nicht für eine „freie individuelle Interpretation der Gebote“, bei der man „den Ramadan halten und trotzdem mit Freunden mal einen Hamburger essen“ kann." [S. 5]

Als Gründe für das Erstarken der „atheistischen und antiklerikalen Bewegungen der Gegenwart“ [S. 7] á la Richard Dawkins [S. 8] in Deutschland macht Frau Bahr nicht etwa die Gegenbewegung zum Kreationismus und die Anschläge vom 11. September aus, sondern „[z]wei Generationen ererbter Gottlosigkeit“ und einen „in zwei Diktaturen herangereifte[n] und von oben verordnete[n] Antiklerikalismus“. [S. 3]

Und für eine „äußere Distanz zur verfassten Kirche“ macht Frau Bahr „tiefe Skepsis gegenüber lebenslangen Bindungen, die innere Distanz zu großen Institutionen, auch das Misstrauen, das die großen Skandale der letzten Jahre befördert haben“ verantwortlich – nicht aber die Möglichkeit, dass viele Menschen heute einfach nichts mehr mit dem christlichen Glauben anfangen können, oder dass er einfach nicht mehr überzeugend erscheint. [S. 4]

Was Kirche oder Religion infrage stellt, blendet Frau Bahr aus. Es ist wohl müßig, zu fragen, ob dies Absicht oder Unvermögen ist – die Frage ist eher, ob eine EKD-Vertreterin überhaupt zugeben könnte, dass der christliche Glaube an Überzeugungskraft und Relevanz verliert oder dass es tatsächlich gute Gründe für Kirchenkritik gibt.

Ihrer Beschreibung der Kirchenkritiker steht allerdings Frau Bahrs Darstellung des Christentums kaum nach. An „den Rändern des Christentums“ entwickeln sich Frau Bahr zufolge „geschlossene Milieus“, für die sie als Beispiele radikale Lebensschützer, Homeschooler (Schulverweigerer) und die „Feuilletonkatholiken“ Matthias Matussek und Martin Mosebach nennt. [S. 6] Die „Ränder des Christentums“ verortet Frau Bahr somit bemerkenswerterweise dort, wo – im Gegensatz zur Mitgliederschaft der EKD – die einzelnen Aussagen des christlichen Glaubensbekenntnisses tatsächlich noch geglaubt werden und die Teilnahme am Gottesdienst hoch ist. Das Bild, das sie von diesen Gruppen zeichnet, ist ebenso absurd und unglaubwürdig wie das ihres „Kirchenkritikers“ in Berlin. Diesen Randgruppen zufolge soll die Kirche angeblich nur noch „als Kryptagemeinde existieren“, sich „ausschließlich“ auf den Kultus konzentrieren und sich „aus der Gesellschaft und ihren Problemen heraushalten“. Das mag möglicherweise auf Matthias Matussek zutreffen, aber sicher nicht auf die größte Gruppe, die Frau Bahr hier als Beispiel anführt, nämlich die radikalen „Lebensschützer“ (Abtreibungsgegner).

Im großen Finale zeichnet Frau Bahr dann in der schon beschriebenen Weise ein „Bild vom Christentum“, das (dieses Mal) aus gut klingenden Behauptungen ohne Begründung besteht, etwa so:

„Der christliche Glaube ist zutiefst antifatalistisch. […] Der christliche Glaube hilft den mental und auch politisch Erschöpften […]. Und er hilft zu einer Existenz in der Art innerer Freiheit, die Andersdenkende nicht fürchten muss.

Das Problem ist nur: Als EKD-Theologin kann Frau Bahr nicht in Anspruch nehmen, für „den christlichen Glauben“ zu sprechen: Zunächst einmal ist die Mehrheit der Christenheit katholisch, nicht evangelisch. (Und übrigens vertreten die „Lebensschützer“, die Frau Bahr als Randgruppe wahrnimmt, exakt die offizielle katholische Position zum Thema Abtreibung.) Auch der Protestantismus ist, weltweit gesehen, wesentlich konservativer als die EKD. So gibt es in den meisten protestantischen Kirchen z.B. keine Frauenordination. Und die Frage, ob homosexuelle Pfarrer mit ihrem Partner im Pfarrhaus leben dürfen, dürfte in den meisten protestantischen Kirchen gar nicht erst diskutiert werden. In Deutschland macht man sich ja gerne über die US-amerikanischen Protestanten lustig, von denen etwa die Hälfte die Evolutionstheorie nicht akzeptiert. Es ist allerdings so, dass die 150 Millionen US-Protestanten sicher repräsentativer für das Christentum sind als die knapp 24 Millionen EKD-Mitglieder. Und wie bereits angedeutet, dürfte auch der Gottesdienstbesuch bei keiner christlichen Gruppe so niedrig liegen wie in der EKD. Anders ausgedrückt: Wer einen repräsentativen Eindruck vom Christentum will, braucht bei der EKD nicht anzufragen.

Allerdings hat sich an dieser Stelle ohnehin bereits der Eindruck verfestigt, dass Frau Bahr in einem bizarren Paralleluniversum für TheologInnen zu leben glaubt. Ihren „Endspurt“ begann sie zuvor nämlich so:

Der Traum vom christlichen Ständestaat war erst ausgeträumt, als es das Grundgesetz schon gab. Einen großen Anteil an der innerlichen Bereitschaft, sich auch aus theologischen Überzeugungen auf die Demokratie mit ihren Zumutungen einzulassen, hatten übrigens die Kirchen in Europa und Amerika. Rudolf Smend beschreibt eindrücklich, dass das Motto „Demokratie wagen“ auf der ökumenischen Vollversammlung in Amsterdam 1953 eine große Rolle gespielt habe.“ [S. 9-10]

Theologen erschließen sich die Vorzüge der Demokratie offenbar nicht ohne weiteres. Und Frau Bahr hält es für eine gute Idee, Verfassungsrichtern zu erläutern, dass christliche Theologen noch nach dem Zweiten Weltkrieg damit gerungen haben, sich „auf die Demokratie mit ihren Zumutungen einzulassen“. 1953 diskutierte die ökumenische Vollversammlung darüber, ob man „Demokratie wagen“ sollte? An dieser Stelle hätten die teilnehmenden Juristen eigentlich die Veranstaltung verlassen müssen, denn was soll man sich von so jemandem über Verfassungsrecht erzählen lassen?

(Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass mit der „ökumenischen Vollversammlung“, auf die sich Bahr/Smend beziehen, offenbar die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen gemeint ist, die 1948 in Amsterdam stattfand – nicht 1953.)

Frau Bahrs nächster Satz, auf das Wesentliche reduziert:

„Es ist Karl Barth gewesen, der große Theologe […], der […] dem lutherischen Naturrechtsdenken und seiner weichgespülten, kulturalistischen Variante eine Absage erteilt und so den theologischen Zugang zur Demokratie ermöglicht hat.“ [S. 10]

Die Widerstände der Theologen gegen die Demokratie ergaben sich offenbar daraus, dass ein theologischer Zugang zur Demokratie ohne Karl Barth nicht möglich war. An dieser Stelle haben sich vermutlich die weniger religiösen unter den anwesenden Juristen gefragt, wie viele Christen weltweit mit der Theologie von Karl Barth vertraut sind, und die religiöseren, warum sich Gott mit Karl Barth so viel Zeit gelassen hat.

Es folgt eine Darstellung von Barths Ansatz, der aber naturgemäß nur für jemanden von Bedeutung ist, der Demokratie ohne „theologischen Zugang“ nicht akzeptieren kann. Es wäre bedauerlich, wenn sich im Publikum so jemand befunden hätte.

Frau Bahr kommt zu dem Ergebnis:

[Barth] dreht […] das kulturalistische Argument um und verlangt von den Kirchen, den Blick aus der Vergangenheit auf die Gegenwart zu richten, also keine Kulturschuld einzuklagen, sondern den Beitrag des Christentums zu den anstehenden Gegenwartsproblemen zu leisten.“ [S. 11-12]

Mit „Kulturschuld“ ist hier die „kulturalistische Versuchung“ gemeint:

Das Christentum habe unsere Kultur geprägt, deshalb müsste es von Staat und Recht auch gegenüber allen anderen Weltanschauungen und Religionen bevorzugt werden, und zwar in der Form der beiden verfassten großen christlichen Kirchen.“ [S. 9]

Demzufolge kam Barth zu dem Ergebnis, dass die Kirchen eben keine Bevorzugung einklagen sollen. Also genau das Gegenteil von dem, was Frau Bahr mit ihrem Vortrag getan hat – und was auch der Zweck des „Foyers Kirche und Recht“ ist. Was soll man dazu sagen? Versteht Frau Bahr ihr eigenes theologisches Geschwurbel nicht mehr? Oder glaubt Frau Bahr – da sie ja eine Bevorzugung des Christentums nicht explizit gefordert hat – dass ihre Manipulationsbemühungen so subtil waren, dass der Widerspruch niemandem auffällt?

Offenbar letzteres. Kurz darauf erklärt sie nämlich:

Das beste Argument gegen den kämpferischen Laizismus ist ein lebendiges Christentum, das sich nicht abschließt in kirchliche Kreise oder beleidigt auf seine Bestände pocht, sondern geistliche Phantasie entwickelt für den Umgang mit den entfremdeten Milieus der Eliten wie der Ränder der Gesellschaft und die die inneren Distanzen und Nähen der Menschen zur Kirche ernstnimmt und achtet.“ [S. 12]

Natürlich wäre ein lebendiges Christentum besser als „beleidigt auf seine Bestände zu pochen“. Für den Fall, dass es mit dem lebendigen Christentum nicht so klappt, oder dass sich die entfremdeten Milieus – horribile dictu – von Frau Bahr vielleicht doch nicht so ernstgenommen fühlen, hat die EKD-Kulturbeauftragte allerdings schon mal vorgesorgt, das ist ja auch erklärtermaßen der Zweck dieser Veranstaltungen.

Nach einem derartigen Vortrag kann Frau Bahr nicht im Ernst erwarten, dass man ihr diese Aussage abnimmt. Vielmehr scheint sie hier ihrer Weltsicht noch die Krone aufzusetzen, indem sie den anwesenden (Kirchen?) Journalisten pünktlich zum Abschluss ihres Vortrags ein Häppchen liefert, das Schlagzeilen erlaubt wie:

Gegen Fatalismus und Besitzstandswahrung: Kulturbeauftragte der EKD spricht beim Empfang für Juristen der Bundesgerichte

Schließlich ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit nicht den Eindruck bekommt, die Kirchen würden ihre „Dialoge“ mit Deutschlands höchsten Juristen zur Besitzstandswahrung nutzen. Und es ist vermutlich kein Zufall, dass dies gerade die Pressemitteilung der gastgebenden Evangelischen Kirche in Baden ist.

Frau Bahrs Halbsatz, nicht beleidigt auf seine Bestände zu pochen, ist allerdings keineswegs als Absage an die kirchliche Besitzstandswahrung zu verstehen, wie uns Dr. Daniel Meier, der Pressesprecher der Badischen Landeskirche, mit seiner Schlagzeile glauben machen will. Mit dem „Christentum, das […] beleidigt auf seine Bestände pocht“ bezieht sich Frau Bahr nämlich auf das kulturalistische Argument (s.o.), demzufolge die „beiden verfassten großen christlichen Kirchen“ wegen ihrer kulturprägenden Kraft „von Staat und Recht auch gegenüber allen anderen Weltanschauungen und Religionen bevorzugt werden“ müssten. [S. 9] Diese Argumentation hat sie zuvor selbst verworfen, und zwar mit der Begründung:

„Das kulturalistische Argument, dass auf Grund der historischen Prägekräfte eine Art christlichen Kulturvorbehalt begründet, der auch für das Recht gelten muss, kann schon da zur Falle werden, wo sich die Größenverhältnisse durch Demographie und weiteren Vertrauensschwund weiter verschieben zugunsten einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen Christen sind.“ [S. 9]

Da sie dem kulturalistischen Argument zuvor ausdrücklich bescheinigt hat „auf den ersten Blick sehr überzeugend“ zu klingen [S. 9], macht sich ihre Kritik also gerade nicht an der geforderten Besitzstandswahrung fest, sondern daran, dass das kulturalistische Argument nicht zur Besitzstandswahrung taugt, „wo sich die Größenverhältnisse durch Demographie und weiteren Vertrauensschwund weiter verschieben zugunsten einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen Christen sind.“ Einem typischen theologischen Denkmuster folgend, beurteilt die EKD-Kulturbeauftragte diese Argumentation also nicht anhand ihrer Stimmigkeit, sondern danach, ob sie zu dem gewünschten Ergebnis führt. Und das von Frau Bahr gewünschte Ergebnis ist genau die Besitzstandswahrung, von der uns die Pressemitteilung der Badischen Landeskirche weismachen will, sie sei dagegen.

Dieses Denkmuster spiegelt sich in ihrem Vortrag auch in umgekehrter Weise, wenn sie meint, der Laizismus sei eine Weltanschauung, die der Staat sich nicht zu Eigen machen dürfe, wenn sie sagt, die antiklerikale Bewegung sei „nicht liberal, wenn es um die Freiheit anderer geht“ und wenn sie von einem Milieu spricht, „das für Religionsfreiheit streitet, aber dem Anspruch nach gerade die Neutralität des Staates gegenüber den religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen seiner Bürger unterläuft.“ Denn diese Behauptungen sind zwar absurd, haben aber für Frau Bahr offenbar den Vorteil, dass sie nicht vom Anteil der Christen an der Bevölkerung abhängen.

In Frau Bahrs theologischem Paralleluniversum gilt:

Ich glaube, die größte Herausforderung für die Kirchen sind nicht die Lautsprecher unter den Laizisten und auch nicht die radikalen religiösen Strömungen […]. Die größte Herausforderung ist eine geistliche: dem grassierenden Fatalismus der Menschen, die mitten in den drohenden Katastrophen leben, zu begegnen.“ [S. 12]

Außerhalb von Petra Bahrs Bizarro-Welt* kann man allerdings den Eindruck gewinnen, dass die größten Herausforderungen der Kirchen gerade diejenigen sind, die Frau Bahr während ihres Vortrags konsequent ausgeblendet hat: Die erodierende Glaubwürdigkeit des Christentums, seine fehlende Relevanz, und die Argumente der Kirchenkritiker, denen Frau Bahr auch nicht im Entferntesten etwas entgegenzusetzen hatte.

Die katholische und die evangelische Kirche haben offenbar erkannt, dass ihnen die Felle davon zu schwimmen drohen. Das Christentum verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit und Relevanz für die Bevölkerung. Für den Erhalt des derzeitigen „Laizismus light“ – strikte Trennung von Staat und Kirche, außer für das Christentum – ist allerdings weniger die Religiosität der Bevölkerung entscheidend als die Positionen der gesellschaftlichen „Key Player“ – also beim Verhältnis von Staat und Kirche die Politiker und die Verfassungsrichter. Umso mehr muss es die Kirchenfunktionäre mit Sorge erfüllen, dass laizistische Forderungen mittlerweile nicht mehr nur von kirchenkritischen Organisationen erhoben werden, sondern auch aus der Politik. Und umso wichtiger wird natürlich das großkirchliche Lobbying der Verfassungsrichter, seit 2007 institutionalisiert durch das „Foyer Kirche und Recht“.

Angesichts des Missbrauchsskandals ist der folgende Vergleich zwar etwas makaber, aber Frau Bahrs Vortrag nach zu urteilen stehen die Geistlichen dabei jetzt auch argumentativ ohne Hosen da.

Letztlich werden die Verfassungsrichter – selbst, wenn sie wollten, und das ist schon fraglich – den Abbau der kirchlichen Privilegien (oder „Bestände“, wie Frau Bahr sie nennt) auch nicht verhindern können. Denn über die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche entscheiden die Politiker, nicht das Verfassungsgericht. Und wenn sich die Politik dazu entscheidet, den Kirchen ihre Privilegien zu nehmen, dann werden die Kirchen sie auch nicht wieder einklagen können.
 

* In der US-amerikanischen Umgangssprache bezeichnet Bizarro einen „bösen Zwilling“ oder ein „verzerrtes Spiegelbild“ einer Person, beziehungsweise als Kompositum in Verbindung mit anderen Begriffen die ins Gegenteil/Negative verkehrte Version eines beliebigen Objektes, einer Institution, einer Idee oder Vorstellung. (Wikipedia)