Scharfe Klingen – Stumpfe Logik

Weibliche Genitalverstümmelung

In diesem Zusammenhang ist es auch unerheblich, dass die Beschneidung von Jungen weniger schwerwiegend ist als die Genitalverstümmelung von Mädchen. Der Maßstab für die rechtliche Beurteilung der Knabenbeschneidung kann nicht eine willkürlich gewählte, noch schlimmere Praxis sein, sondern nur Art. 2 des Grundgesetzes, der die körperliche Unversehrtheit schützt. Und die ist bereits bei der Entfernung der Vorhaut ohne medizinische Notwendigkeit beeinträchtigt.

Allgemeine Billigung

Kritiker weisen darauf hin, dass die Beschneidung in bestimmten Kreisen üblich und allgemein gebilligt sei, Juristen sprechen hier von Sozialadäquanz. Diese Argumentation hat das Kölner Landgericht ausdrücklich verworfen, und zwar mit der Begründung, dass der Umstand, dass eine Praxis gesellschaftlich geduldet ist, nicht als Rechtfertigung angeführt werden kann, wenn das Strafrecht diese Praxis verbietet. [S. 5-6, mit zahlreichen Hinweisen auf entsprechende Meinungen.]

Weltweite Praxis

In diesem Zusammenhang geht auch der oft vorgebrachte Hinweis darauf, dass weltweit rund ein Drittel der Männer beschnitten sei – in den USA ist von 75% die Rede – ins Leere, denn die wenigsten dieser Männer haben sich ja selbst im Erwachsenenalter für die Beschneidung entschieden, sondern sind ungefragt als Kinder oder gleich nach der Geburt beschnitten worden. In Osteuropa ist nur eine „sehr kleine Minderheit unter den jüdischen Männern“ beschnitten. Die Ursache soll das kommunistische Regime vor 1989 sein. Allerdings scheint sich kaum jemand in den letzten 20 Jahren dafür entschieden zu haben, die eigene Beschneidung freiwillig nachzuholen. Wenn sich aber kaum ein Erwachsener aus religiösen Gründen freiwillig für die Beschneidung entscheidet, erscheint es umso fragwürdiger, sie nicht einwilligungsfähigen Kindern aufzuzwingen.

Peniskrebs

Weiter wird gesagt, die Beschneidung diene gerade dem Wohl des Kindes, da ihr gesundheitliche Vorteile zugeschrieben werden. Für die Beschneidung von Kindern kommt es aber nicht darauf an, ob die Beschneidung überhaupt Vorteile hat, sondern ob diese Vorteile es rechtfertigen, die Beschneidung schon beim nicht einwilligungsfähigen Kind vorzunehmen. Das Risiko, an Peniskrebs zu erkranken, ist beispielsweise so gering, dass es die möglichen Komplikationen einer Beschneidung nicht rechtfertigt, zumal die Beschneidung auch hier immer noch später vorgenommen werden könnte.

Gebärmutterhalskrebs

Was den in diesem Zusammenhang ebenfalls oft angeführten Gebärmutterhalskrebs angeht, so ist es unverhältnismäßig, am nicht einwilligungsfähigen Kind Eingriffe zum Wohle Dritter – bei Gebärmutterhalskrebs nämlich zukünftiger Geschlechtspartnerinnen – vornehmen zu lassen. Dies liegt nämlich nicht im Interesse des Kindes. Auch alle weiteren genannten gesundheitlichen Vorteile wie bessere Hygiene und (begrenzter) Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten lassen sich auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erzielen, und für den Schutz vor Geschlechtskrankheiten und Gebärmutterhalskrebs ist auch keine Beschneidung im nicht einwilligungsfähigen Alter erforderlich.

Ohne Sinn und Verstand

Das Beispiel „Gebärmutterhalskrebs“ zeigt schon, dass Kritiker des Kölner Urteils zum Teil ohne Sinn und Verstand argumentieren.

Niemand empfiehlt die Beschneidung von Kindern

Unvoreingenommener urteilen Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO und nationaler Gesundheitssysteme. Auch die WHO empfiehlt keine Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Kindern: Die vielzitierte Empfehlung der WHO bezieht sich nämlich nur auf AIDS-Hochrisikogebiete und fordert ausdrücklich die Freiwilligkeit der Maßnahme. Es gibt auch weltweit keine andere Gesundheitsorganisation, die die Beschneidung von Kindern als Standardmaßnahme empfiehlt. (Andernfalls hätte man sicher in der letzten Woche davon gehört.) Im Gegenteil: In England und den USA wurde der Nutzen der Beschneidung von Neugeborenen untersucht, woraufhin ausdrücklich keine Empfehlungen mehr ausgesprochen wurden – was dazu führte, dass (in England und Teilen des USA, auch Kanada) die Beschneidung ohne konkrete medizinische Notwendigkeit nun nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt wird. Seitdem sinkt dort auch die Zahl der vorgenommenen Beschneidungen.

Dementsprechend kamen auch nicht nur z.B. Prof. Maximilian Stehr und Prof. Hans-Georg Dietz in ihrem Artikel im Deutschen Ärzteblatt zu dem Schluss, dass die Beschneidung von Kindern und Säuglingen medizinisch nicht erforderlich ist, sondern auch der Experte, den das Landgericht Köln dazu befragte.

Somit können gesundheitliche Gründe die Beschneidung von Kindern ohne konkrete medizinische Notwendigkeit nicht rechtfertigen. Es bleibt der Verstoß gegen die körperliche Unversehrtheit und das Aufzwingen eines unabänderlichen Zugehörigkeitsmerkmals zu einer Religion.

Und wer, wie der Zentralrat der Muslime, entgegen aller Risiken und Komplikationen einfach behauptet, es sei „wissenschaftlich erwiesen, dass eine medizinisch fachgerechte Zirkumzision nur Vorteile für die Kinder und späteren Erwachsenen mit sich bringt“, der zeigt lediglich, dass er neben Vorhäuten offenbar auch intellektuelle Redlichkeit für verzichtbar hält.

Sexuelle Vorteile

Angebliche sexuelle Vorteile können gleich gar nicht als Argument für die Beschneidung von Säuglingen und Kindern ins Feld geführt werden, da sich die behaupteten Vorteile später immer noch – dann aber mit der Einwilligung des Betreffenden – erzielen ließen. Auch hier belegt dies eher die Unbedachtheit desjenigen, der so argumentiert. Und es mutet schon seltsam an, dass die reduzierte Empfindsamkeit der Penisspitze – ein Umstand, der im Hinblick auf Kondome weltweit regelmäßig als Nachteil und Grund für die Nichtbenutzung angeführt wird – bei der Beschneidung von Säuglingen plötzlich als Vorteil gelten soll.

Die Urteilsbegründung ist demzufolge nicht zu beanstanden. Man muss das Urteil nicht mögen, es ist aber nicht erkennbar, wo die Richter falsch geurteilt haben sollten.

Folgen des Urteils

Freilich ist das Kölner Urteil nicht ohne gravierende Folgen für Muslime und Juden, die ihre nicht einwilligungsfähigen Söhne aus religiösen Gründen beschneiden wollen. Und zwar insbesondere für die Juden, bei denen die Beschneidung traditionell am achten Tag nach der Geburt vorgenommen wird, sofern dem keine triftigen (z.B. gesundheitlichen) Gründe entgegenstehen. Bei den Muslimen ist nicht konkret vorgegeben, dass oder wann die Beschneidung zu erfolgen hat. Tatsächlich haben Krankenhäuser und Ärzte aufgrund des Urteils bereits aufgehört, Beschneidungen aus religiösen Gründen vorzunehmen, und die Berufsverbände der betroffenen Ärzte empfehlen ihren Mitgliedern, von Beschneidungen aus religiösen Gründen abzusehen.

Von daher geht auch die Kritik ins Leere, das Kölner Urteil sorge für „Rechtsunsicherheit“. Rechtsunsicherheit gab es vorher, denn die herrschende juristische Meinung beurteilte die religiöse Beschneidung als Körperverletzung, es gab aber kein Urteil dazu. Nach dem Kölner Urteil kann praktisch kein seriöser Arzt mehr Beschneidungen ohne medizinische Notwendigkeit vornehmen. Zwar ist die Frage noch nicht abschließend entschieden, die Rechtssicherheit hat sich aber durch das Urteil verbessert.