Revolution als individuelle Vervollkommnung

(hpd) Der soeben erschienene Band 11 der Reihe „Klassiker der Religionskritik“ stellt keinen Atheisten vor, sondern Leo Tolstoi. Seine Auffassung von Christentum brachte den Schriftsteller nicht nur in Konflikt mit der Kirche, sondern rüttelte auch an den Grundfesten des Staates.

hpd sprach mit Herausgeber Ulrich Klemm über Tolstois Vorstellungen von Vernunft, die Ablehnung von Gewalt und die Wirkung des Autors im 20. Jahrhundert.

Leo Tolstoi war, wie bereits der Klappentext einräumt, kein Atheist. Inwiefern passt er dann in eine Reihe „Klassiker der Religionskritik“?

Ulrich Klemm: Es stimmt, Tolstoi war kein Atheist, jedoch der vielleicht wortgewaltigste Religions- und Kirchenkritiker des 19. Jahrhunderts überhaupt, der bis heute deutliche Spuren hinterlassen hat. Als christlicher bzw. religiöser Anarchist kämpfte er gegen Kirche und Staat ebenso wie gegen Eigentum und Rechtsvorschriften. Er war in seiner religiösen Haltung nicht nur zentral durch die Bergpredigt geprägt, sondern ebenso durch Rousseau, Kant und die asiatische Philosophie des „Nichtwiderstehens“ eines Laotse oder Tschungse.

In seinen Schriften finden sich Formulierungen, dass Religion eine Angelegenheit der Vernunft sei oder dass Erlösung durch Erkenntnis erfolge. Ist in Tolstoi ein später Vertreter der Vernunftreligion zu sehen?

Ulrich Klemm: Ja, so könnte man sagen. Spiritualität und Vernunft sind für Tolstoi kein Widerspruch. Im Gegenteil: Spiritualität ist eine Form der Vernunft und Vernunft ohne Spiritualität macht den Menschen dumpf, leer und gefährlich. Hier trifft sich bei Tolstoi die spirituelle Ethik Asiens mit der rationalen Vernunft Europas. Tolstois Religionsverständnis erinnert auch an Kants „sapere aude“ – „habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“. Spiritualität bedeutet bei ihm in diesem Sinne: „Wage es, vernünftig zu sein!“

Gibt es in Tolstois Werk auch Stellen, die grundsätzlichen Glaubenszweifel formulieren?

Ulrich Klemm: Der Glaube ist für Tolstoi etwas Elementares für die menschliche Existenz. Es ist jedoch nicht der Glaube an einen Gott, an Maria, den Heiligen Geist, eine Kirche, den Papst oder den Zaren. Glaube bedeutet für Tolstoi Lebens- und Schaffenskraft und geht immer einher mit einem kritischen Geist gegenüber der Gesellschaft. Macht, Herrschaft, Tyrannei kann nur im und durch einen Glauben erkannt und bekämpft werden.

Wie lassen sich denn die gesellschaftspolitischen Positionen, die Tolstoi unter Berufung auf das Christentum vertreten hat, kurz beschreiben?

Ulrich Klemm: Wir sehen bei Tolstoi hier klassische anarchistische Elemente: Misstrauen gegenüber allen Institutionen, Misstrauen gegenüber repräsentativen Vertretungen Ablehnung von Eigentum, staatlichen und kirchlichen Rechtsnormen. Und vor allem Ablehnung von Herrschafts- und Machtverhältnissen aller Art: in der Politik, in der Bildung und Erziehung, in sozialen und beruflichen Kontexten. Dies führte bei Tolstoi zu einer Lebenseinstellung absoluter Gewaltlosigkeit als Grundlage des Lebens: „Widerstrebe nicht dem Bösen mit Gewalt“. Tolstoi gilt in diesem Sinne als Begründer des modernen Antimilitarismus. In seinem Namen wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts weltweit der „Dienst mit der Waffe“ aktiv und offensiv verweigert. Seine nachhaltigste Wirkung hatte Tolstoi mit Gandhis gewaltfreiem Kampf, den er maßgeblich beeinflusste.

Er gilt außerdem als Begründer des modernen Vegetarismus aus ethischen Gründen: „Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben“ – so Tolstoi. Er lehnte in diesem Sinne aber auch revolutionäre Gewalt ab – und damit auch entsprechende Formen der anarchistischen Bewegung. Obgleich er mit Kropotkin übereinstimmt beim Primat der „gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ als Grundlage menschlicher Existenz, lehnte er andererseits Bakunins Anarchismus der revolutionären „Propaganda der Tat“ strikt ab und verurteilt die anarchistische Bewegung immer wieder. Revolution bedeutet bei Tolstoi in erster Linie eine innere und individuelle Vervollkommnung.

Wie hat das religiöse Establishment auf Tolstois Ausführungen reagiert? Immerhin war der Mann ein weltberühmter Schriftsteller mit anzunehmenderweise einiger Wirkung...

Ulrich Klemm: Man wagte interessanterweise erst relativ spät, Tolstoi aus der Kirche formal und offiziell zu entfernen. Obgleich er seit den 1880er Jahren mit kirchen- und religionskritischen Schriften an die Öffentlichkeit trat, wurde er erst 1901 vom Heiligen Synod der orthodoxen Kirche Russlands exkommuniziert. Zuvor wurden zwar zahlreiche Schriften immer wieder von der russischen Zensur verboten und vernichtet; dies wirkte sich jedoch eher positiv auf das Interesse an ihnen aus. In vielen Fällen zirkulierten seine Schriften in Abschriften und illegalen Drucken oder sie wurden im Ausland gedruckt und verbreitet (z.B. in der Schweiz, in Deutschland und England). Seine weltweite Bekanntheit und Popularität schütze ihn zweifellos vor einer sibirischen Verbannung und vor Arbeitslagern. Dies wusste Tolstoi und nutze es aus. Der russische Staat und die orthodoxe Kirche waren machtlos gegen Tolstois Präsenz und mediale Potenz.

Bei der Zusammenstellung des Klassiker-Bandes haben Sie sich vor allem für kurze Texte, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen entschieden. Warum?

Ulrich Klemm: Da nur ein begrenzter Platz für die Edition zur Verfügung steht, wollte ich den Lesern möglichst viele Impulse bieten und gleichsam Lust und Appetit auf „mehr Tolstoi“ entwickeln. Vor allem war es mir wichtig, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen wieder zugänglich zu machen. Hier spiegelt sich in einer großen Prägnanz und Dichte Tolstois Denken. Seine Tagebücher und Briefe werden zu einem „summary“ seiner großen Schriften und Werke.

Das Buch war zunächst mit dem Titel „Das Reich Gottes ist in Euch“ angekündigt. Nun hat sich der Titel geändert und es findet sich auch kein Textauszug im Buch – warum?

Ulrich Klemm: Diese Schrift sollte einer vollständigen und kommentierten Neuausgabe vorbehalten bleiben, die schon lange im deutschen Sprachraum überfällig ist! Sie ist nun fürs Frühjahr 2012 im Alibri Verlag vorgesehen.

Danke für das Gespräch.
Die Fragen stellte Martin Bauer.

 

Leo Tolstoi: Kirche und Gesellschaft. Religionskritische Schriften, Briefe und Tagebuchaufzeichungen. Klassiker der Religionskritik, Bd. 11. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Ulrich Klemm. 137 Seiten, kartoniert, Euro 13.-, ISBN 978-3-86569-131-6

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.