Ein Interview mit Irina Spiegel über Bertha von Suttner und deren Pazifismusverständnis

"Ihr Pazifismus war keine bloße Schwärmerei, sondern gelebte Praxis"

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Herausgeberin Irina Spiegel
Irina Spiegel

Bertha von Suttner war nicht nur die erste Frau, die den Friedensnobelpreis erhielt, sie prägte auch die deutschsprachige Friedensbewegung nachhaltig. Nun ist ein Sammelband der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg erschienen, der sich mit den Positionen dieser vielseitig engagierten Frau auseinandersetzt. Der hpd sprach mit Irina Spiegel, einer der beiden Herausgeberinnen, über die Aktualität von Bertha von Suttner in wenig friedlichen Zeiten.

hpd: Erst wurde das Studienwerk, das der Humanistische Verband Deutschland (HVD) zusammen mit anderen Organisationen unterhält, nach Bertha von Suttner benannt, nun setzt sich ein Band der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg mit ihr auseinander – worin begründet sich dieses Interesse an der ersten Friedensnobelpreisträgerin?

Irina Spiegel: Das Interesse an Bertha von Suttner gründet sich auf ihre Rolle als Friedensaktivistin und ihre Relevanz für aktuelle Debatten über Krieg, Frieden und internationale Sicherheit.

Suttners Forderung nach einer starken Institutionalisierung des Friedens durch internationale Abkommen und Verträge war wegweisend – und bleibt gerade angesichts der einseitigen Aufkündigung solcher Abkommen, etwa durch die Regierung von Donald Trump, hochaktuell. Suttner erkannte früh die Gefahren einer unkontrollierten technologischen Aufrüstung und warnte vor den Folgen eines immer mächtiger werdenden Militärs – ein Menetekel, das heute auch in Richtung Europa weist. In Zeiten globaler Krisen, zunehmender Aufrüstung und neuer Herausforderungen für friedenspolitische Strategien bietet sie damit wertvolle Denkanstöße.

Ihr Roman "Die Waffen nieder!" ist nicht nur ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Krieg, sondern auch ein eindrucksvolles Beispiel für die politische Kraft des Erzählens.

Doch Bertha von Suttner war weit mehr als Antimilitaristin, Friedensaktivistin und Schriftstellerin: Als Journalistin, Historikerin, Soziologin, Freidenkerin, Frauenrechtlerin und Tierschützerin vereinte sie so viele unterschiedliche Perspektiven wie kaum eine andere Persönlichkeit. Diese Vielseitigkeit ist es auch, die – neben ihrer friedenspolitischen Aktualität – ihre Anziehungskraft ausmacht.

Cover

Wie ist denn eigentlich der Forschungsstand zu Bertha von Suttners Leben und Werk? Bietet der Band hier neue Erkenntnisse?

Die Forschung zu Bertha von Suttner ist solide, aber manche Aspekte ihres Denkens sind immer noch zu wenig erforscht. Unser Band erweitert die Perspektive vor allem in zwei Bereichen: Erstens betrachten wir Suttner als radikale Freidenkerin und frühe Soziologin. Zweitens werden ihre Überlegungen zu Frieden und Frauenrechten aus heutiger Sicht neu kontextualisiert.

Johann Georg Lughofer zeichnet in seinem Beitrag ihren Weg zum Pazifismus nach und beleuchtet eine oft übersehene Facette: ihre scharfe Kritik an der Kirche, der sie Wissenschaftsfeindlichkeit und enge Verflechtungen mit der herrschenden Klasse und dem Militär vorwarf.

Katharina Lenski analysiert Suttners Rolle als Historiographin und Soziologin und hebt ihr progressives Geschichtsverständnis hervor, das sich deutlich von den dominanten Narrativen ihrer Zeit unterschied. Während Lughofer den Einfluss des Darwinismus auf Suttner betont, zeigt Lenski, dass sie sozialdarwinistische Ansätze entschieden ablehnte. Suttners Fortschrittsbegriff basierte nicht auf einem Überlebenskampf der Stärksten, sondern auf einer zunehmenden Humanisierung der Gesellschaft.

Heiner Thurm untersucht Suttners Stellung in der Frauen- und Friedensbewegung und kommt zu dem Schluss, dass sie sich zwar für Frauenrechte einsetzte, ihr Engagement hier aber stark von ihrem Pazifismus geprägt war: Sie wollte Frauen für den Friedenskampf mobilisieren.

Auch Suttners Pazifismus wird angesichts moderner Kriegsführung und der Notwendigkeit, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen, neu betrachtet. Dabei stellt sich die Frage, ob es moralisch vertretbar ist, im äußersten Fall – etwa zur Verteidigung gegen einen Aggressor – militärische Mittel einzusetzen, was Bertha von Suttner entschieden verneinte. Ihre Haltung war hier, wohl auch, weil sie die Naziherrschaft nicht mehr erlebt hatte, etwas rigoros.

Wie war denn, auf den Punkt gebracht, Bertha von Suttners Verständnis vom Frieden und dem Weg dorthin?

Frieden war für sie kein rein politischer oder militärischer Begriff, sondern ein humanistisches Grundprinzip, das auf Aufklärung, Bildung und sozialem Fortschritt beruhte. Krieg war für sie keine unaufhaltsame Naturgewalt, sondern ein historisch überwindbares Phänomen.

Ein zentraler Aspekt ihrer Friedensidee war die Rolle der Frau. Sie sah Frauen nicht als passive Opfer des Krieges, sondern als aktive Gestalterinnen des Friedens. Sie forderte bessere Bildungschancen für Frauen, damit sie sich in die gesellschaftliche Debatte einbringen und als Multiplikatorinnen friedensfördernder Werte wirken konnten. Ihr Pazifismus war also keine bloße Schwärmerei, sondern gelebte Praxis.

Suttner engagierte sich in zahlreichen internationalen Friedensorganisationen, nahm an Konferenzen teil und pflegte enge Kontakte zu führenden Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft ihrer Zeit. Kurzum: Frieden war für sie mehr Arbeit als Ideal.

In jeweils eigenen Aufsätzen werden im Buch verschiedene aktuelle Pazifismuskonzepte vorgestellt. Wie unterscheiden sich diese denn von der Idee von Pazifismus, die Bertha von Suttner vertrat?

Während Bertha von Suttner einen unbedingten Pazifismus vertrat, der auf radikaler Abrüstung und absolutem Gewaltverzicht beruhte, beziehen moderne Konzepte häufig auch pragmatische und realpolitische Aspekte mit ein.

So versteht Olaf Müller Pazifismus als dynamische Friedensorientierung. Sein von der amerikanischen Tradition des Pragmatismus inspirierter Ansatz plädiert für eine situationsabhängige und individuell angepasste Reaktion auf kriegerische Konflikte. Diese Perspektive lässt Raum für die Anwendung von Gewalt, wenn sie als absolut notwendig erachtet wird, um Frieden und Freiheit langfristig zu sichern.

Irina Spiegel ist Lehrbeauftragte an der Humanistischen Hochschule und Referentin der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg. Sie war mehrere Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Sie studierte Philosophie, Slawistik und Geschichte an der Universität Oldenburg/Bremen und promovierte über Urteilskraft bei Hannah Arendt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Praktische Philosophie, Normative und Angewandte Ethik, Digitale Ethik und interdisziplinäre Anthropologie.

Winfried Hinsch geht noch einen Schritt weiter und stellt die Frage, ob Pazifismus in der heutigen Welt überhaupt noch praktikabel ist. Er hält pazifistische Ansätze für unzureichend, um moderne Kriege zu verhindern oder zu beenden. Vor allem im Umgang mit autokratischen Regimen, Warlords oder Terroristen sieht er große Schwächen, da diese Akteure oft weder moralische noch menschenrechtliche Prinzipien anerkennen. Hinsch fordert daher eine realistischere Sichtweise und warnt vor dem Idealismus, den er in Suttners Ansatz ausmacht.

Diese unterschiedlichen Perspektiven verdeutlichen den Wandel des Pazifismus von einer reinen Gesinnungshaltung hin zu einem flexibleren und pragmatischeren Ansatz, der den komplexen geopolitischen Realitäten der Gegenwart Rechnung trägt.

In Ihrem eigenen Beitrag stellen Sie eine modellhafte, wissenschaftsbasierte Analyse von kriegerischen Konflikten vor. Könnten uns deren Ergebnisse bei der Beantwortung der Frage "Waffen nieder oder Waffen liefern?" helfen?

Mein Beitrag stellt den Ansatz des amerikanischen Politikwissenschaftlers Christopher Blattman vor, der Kriege als kalkulierte Ausnahmen in Politik und Geschichte mit modernen wissenschaftlichen Methoden beschreibt. Seine Modelle helfen, die Faktoren zu identifizieren, die Kriege wahrscheinlicher machen – etwa fragile staatliche Strukturen, wirtschaftliche Anreize oder ethnische Spannungen. Eine solche Analyse kann dazu beitragen, die Ursachen von Kriegen besser zu verstehen und gezielte Maßnahmen zur Prävention oder Konfliktlösung abzuleiten. Allerdings weisen diese Modelle auch Schwächen auf, da sie kulturhistorische und sozialpsychologische Faktoren häufig vernachlässigen. Dennoch bieten sie wertvolle Ansätze zur Verbesserung friedenspolitischer Strategien – insbesondere durch die Stärkung ziviler Friedensmissionen, deren Wirksamkeit die Forschung belegt.

Die Frage "Waffen nieder oder Waffen liefern?" ist eher rhetorischer Natur und lässt sich nicht mit einem wissenschaftlichen Ansatz beantworten. Vielmehr zeigt meine Analyse, dass Friedensarbeit weit über das Dilemma zwischen Abrüstung und Aufrüstung hinausgeht: Es geht um Prävention und den Aufbau robuster internationaler Institutionen, die den Frieden langfristig sichern können.

Wird die Frage, die dem Buch ja auch den Titel gegeben hat, denn letztlich beantwortet? Ist sie wissenschaftlich überhaupt beantwortbar?

Auch hier gilt: Eine eindeutige Antwort auf die Frage "Waffen nieder oder Waffen liefern?" gibt der Band nicht – und er kann es auch gar nicht. Die Beiträge zeigen, dass es sich um eine hochkomplexe Frage handelt, die immer von der jeweiligen historischen und politischen Situation abhängt. Während Bertha von Suttner eine eher kompromisslose Haltung vertrat, bewegt sich die heutige Debatte oft zwischen moralischen Pflichten und harten politischen Realitäten.

Tatsächlich stellt unser Band solche binären Alternativen radikal in Frage und zielt darauf ab, die verhärteten Fronten in der Debatte aufzubrechen. Letztlich wollen alle Beteiligten Frieden – Uneinigkeit besteht oft nur über den Weg dorthin. Der Polyperspektivismus, den wir in diesem Band zu realisieren versucht haben, kann dazu beitragen, ein differenziertes und erweitertes Denken in Fragen von Krieg und Frieden zu fördern. Wir sollten zuversichtlicher sein, denn ein solches Denken kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich gegensätzliche Positionen annähern.

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Astrid Hackel/Irina Spiegel (Hrsg.): Waffen nieder oder Waffen liefern? Bertha von Suttner und die Gegenwart des Krieges (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg; Band 15), Aschaffenburg 2024, Alibri Verlag, 295 Seiten, 26 Euro, ISBN 978-3-86569-418-8

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