Schließlich wird dem Vetorecht des Kindes vollkommen unzureichend Rechnung getragen. Die Gesetzesformulierung schweigt dazu gänzlich. Lediglich in der Begründung heißt es, dass Eltern gehalten seien, sich mit einem entgegenstehenden Kindeswillen auseinanderzusetzen. Im Klartext bedeutet das: Wenn die Eltern sich mit dem entgegenstehenden Willen auseinandergesetzt haben, dürften sie es – entgegenstehender Wille hin oder her – beschneiden lassen. Deutlicher hätte der Gesetzgeber seine Geringschätzung für Kinderrechte nicht zum Ausdruck bringen können. Nicht zuletzt hat er damit die Vorgaben des Deutschen Ethikrats missachtet, der die Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen gefordert hatte.
Vor diesen und weiteren dilettantischen Mängeln hat der Gesetzgeber die Augen verschlossen – obwohl darauf schon Reinhard Merkel, Mitglied des Deutschen Ethikrats, frühzeitig und eindringlich hingewiesen hatte.
hpd: Es lässt sich doch aber nicht von der Hand weisen, dass es befremdlich gewesen wäre, wenn ein deutsches Gericht einen jüdischen Mohel zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt hätte, weil er ein jahrtausendealtes Ritual durchgeführt hat. Heribert Prantl hat in einem Kommentar darauf hingewiesen, dass das deutsche Strafrecht kein Instrument zur Judenmission sei. Was sagen Sie dazu?
Holm Putzke: Heribert Prantl schätzt die Dinge normalerweise sehr präzise ein – in der Beschneidungsdebatte hat er schlicht und einfach nicht verstanden, worum es geht. Der Gesetzgeber hätte sich auf die Lösung des Problems beschränken sollen, religiöse Beschneidungen von Jungen aus der Schusslinie des Strafrechts zu bringen. Tonio Walter, Strafrechtsprofessor an der Universität Regensburg, hat den klugen Vorschlag gemacht, ins Strafgesetzbuch eine Regelung aufzunehmen, die den Tatbestand der Körperverletzung für nicht anwendbar erklärt bei Beschneidungen von Jungen, wenn seine Religionsgemeinschaft und die der Sorgeberechtigten die Beschneidung gebietet. Damit hätte man vermieden, etwas für kindeswohldienlich erklären zu müssen, was definitiv nicht dem Kindeswohl dient. Natürlich wäre auch dies ein Fremdkörper in unserer Rechtsordnung – aber für eine Übergangszeit nicht zuletzt aus historischen Gründen gerade noch akzeptabel.
Zusätzlich hätte man mit den Religionsgemeinschaften darüber reden müssen, ob es nicht Alternativen zur radikalen Beschneidung gibt. Denn bei der sogenannten Periah handelt es sich lediglich um eine von Rabbinern eingeführte Tradition; das göttliche Gebot der Milah wurde lange Zeit in einer deutlich weniger eingriffsintensiven Form praktiziert. Was hätte dagegen gesprochen, zum ursprünglichen biblischen Gebot zurückzukehren? Das wäre immerhin eine deutlich weniger eingriffsintensive Verletzung gewesen und nicht verbunden mit mehr als 50 Prozent Verlust sensitiven Gewebes des männlichen Geschlechtsorgans.
Über all das hätte man reden können und müssen. Leider war der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten die vorweihnachtliche Ruhe wichtiger als Kinder und deren Wohlergehen.
hpd: Hat die Beschneidungsdebatte irgendetwas Positives bewirkt?
Holm Putzke: Zweifellos! Das Urteil des Landgerichts Köln und die anschließende Diskussion haben einen Bewusstseinswandel bewirkt und die Gegenbewegungen gestärkt – weltweit, nicht nur in Deutschland. Kürzlich hat eine repräsentative Umfrage von Infratest dimap ergeben, dass 70 Prozent der deutschen Bevölkerung das Beschneidungsgesetz kategorisch ablehnen. Allein in Israel entscheiden sich immer mehr Eltern gegen eine Säuglingsbeschneidung. Und Umfragen haben ergeben, dass dort etwa 30 Prozent der Eltern ihre Kinder nicht beschneiden lassen würden, wenn der gesellschaftliche Druck nicht vorhanden wäre. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wesentlich mehr Menschen das Recht ihrer Kinder auf eine selbstbestimmte Entscheidung respektieren werden.
Durch die Debatte wurde sowohl der breiten Öffentlichkeit als auch den beschneidungswilligen Eltern bewusst, dass es sich – anders als vor allem Religionsvertreter gern behaupten – nicht um einen harmlosen, sondern um einen massiven und keinesfalls risikolosen körperlichen Eingriff handelt.
Die gesellschaftliche Debatte hat dazu geführt, dass viele Eltern, auch muslimische und jüdische, angesichts nicht vorhandener medizinischer Vorteile, angesichts der irreversiblen Folge des körperlichen Eingriffs und nicht zuletzt wegen bestehender Risiken die Entscheidung über den Eingriff ihrem Sohn überlassen oder zu unblutigen Alternativen greifen, ohne dass dies ihrem religiösen Selbstverständnis, schon gar nicht ihrer religiösen Zugehörigkeit abträglich wäre. Die Diskussion hat nicht zuletzt dazu geführt, dass viele Betroffene den Mut gefunden haben, sich öffentlich über die Folgen der Beschneidung zu äußern, vor allem über die Schmerzen, den Pfusch von Beschneidern, den Verlust an Sensibilität oder über die teilweise mit psychischen Leiden verbundene Ohnmacht, dass die Eltern das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen nicht respektiert haben.
Glücklicherweise wird das Beschneidungsgesetz weder die wissenschaftliche noch die gesellschaftliche Debatte beenden. Im Gegenteil: Die Art, wie das Beschneidungsgesetz zustande gekommen ist, die Ignoranz der Politik gegenüber Kinderrechten und nicht zuletzt die Einflussnahme bestimmter religiöser Gruppen hat viele Menschen erschreckt.
Ich bin sicher, dass das Urteil des Landgerichts Köln und die intensiv geführte Diskussion um die Zulässigkeit medizinisch unnötiger Beschneidungen einen Prozess eingeläutet haben, der dem archaischen Ritual über kurz oder lang ein Ende machen wird. Auch die Religionsgemeinschaften werden irgendwann erkennen, dass es Alternativen gibt zur religiösen Stempelung kindlicher Körper. Und in einigen Jahren werden sich die Menschen an den Kopf fassen und fragen, welcher Teufel den Gesetzgeber geritten hat, die körperliche Unversehrtheit von Kindern und ihr Selbstbestimmungsrecht derart mit Füßen zu treten.
hpd: Herr Putzke, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Carsten Frerk.
Weiterführende Literatur ist zu finden auf der Homepage von Prof. Dr. Holm Putzke.